#44 BÜRGERWEIDE – Mehrere Hundert Menschen in Bremen sind obdachlos, das heißt, sie leben permanent auf der Straße. Daneben gibt es sehr viele Menschen ohne festen Wohnsitz, die in Notunterkünften oder Wohnheimen leben.
Die Gründe für Obdachlosigkeit sind vielfältig, aber häufig sind es Schicksalsschläge wie Trennung, Gewalterfahrungen oder Jobverlust, in deren Folge Menschen auf der Straße landen. Dieses gravierende soziale Problem muss mehr Aufmerksamkeit in Politik und Gesellschaft erfahren.
Viele unserer StraßenverkäuferInnen wissen aus eigener Erfahrung, an welchen Orten in der Stadt sich Menschen aufhalten, die kein Dach über dem Kopf haben. Nicht jeder und jedem sieht man es auf den ersten Blick an. Es ist tatsächlich nicht ungewöhnlich, dass jemand im Sommer auf einer Bank im Bürgerpark oder den Wallanlagen übernachtet. Aber im Winter? Bereits bei Temperaturen, die deutlich über null liegen, birgt die Nacht unter freiem Himmel die Gefahr des Auskühlens und Krankwerdens. Was also wird mit denen, die keinen geschützten Platz zum Schlafen haben?
Oft bieten ein heißer Kaffee, eine Suppe und ein Schlafsack Erste Hilfe in der größten Not. StreetworkerInnen sind Tag und Nacht unterwegs, um Menschen aufzusuchen, die auf der Straße leben, und ihnen zu helfen. Sie stellen auch Verkäuferausweise für die Zeitschrift der Straße aus und haben immer einige Ausgaben dabei, damit Neulinge des Straßenverkaufs gleich erste Erfahrungensammeln können. Es steht allen offen, die Hilfsangebote anzunehmen. Wer Hilfe benötigt, bekommt sie – schnell und mit der notwendigen Zuwendung. Denn auch Menschen ohne Obdach und festen Wohnsitz gehören zu unserer Nachbarschaft.
Bitte ermöglichen und unterstützen Sie diese Arbeit, speziell in der kälteren Jahreszeit, und spenden Sie, entweder bequem über unser Online-Formular oder per Überweisung an: Sparkasse Bremen IBAN: DE22 2905 0101 0001 0777 00 BIC: SBREDE22XXX Verwendungszweck: Zeitschrift der Straße
Vielen Dank sagen die VerkäuferInnen und das gesamte Team der Zeitschrift der Straße.
Text: Reinhard „Cäsar“ Spöring
Foto: Susanne Frerichs / Verein für Innere Mission
Wenn obdachlose Menschen sterben, werden sie meist anonym bestattet, den genauen Ort kennen nur die Behörden. So war es lange Zeit auch in Bremen, bis der Verein für Innere Mission vor vier Jahren eine Urnengrabstätte auf dem Waller Friedhof eingerichtet hat (Foto).
Hier werden Menschen, die weder ein Obdach noch Angehörige hatten, würdevoll bestattet. Ihre Namen sind auf steinernen Büchern verewigt, die zu beiden Seiten des Grabsteins stehen. „Solch ein Begräbnis verleiht dem Tod der Wohnungslosen eine Würde, die sie im Leben oft genug nicht erfahren durften“, sagt Bertold Reetz, Leiter der Wohnungslosenhilfe des Vereins.
Finanziert werden konnte die Grabstätte durch private Spenden und mithilfe der Stadt. Am Sonntag, 20. November 2016, wird wieder in einem Gottesdienst an die Verstorbenen erinnert. Zu der jährlich stattfindenden Veranstaltung werden rund 130 Gäste erwartet, darunter Freunde und Bekannte der Verstorbenen. Aber auch interessierte Bürger, die die Verstorbenen würdigen möchten, sind zu der Feier herzlich eingeladen.
Gottesdienst zum Gedenken an die verstorbenen wohnungslosen Menschen in Bremen: Sonntag, 20. November 2016, 11 Uhr Kapelle des Friedhofs Walle Waller Friedhofstraße, 28219 Bremen (Straßenbahnlinien 2 und 10)
Im Sommer ging die UdS mit einem Probesemester an den Start. Was lief besonders gut?
Sehr gut angenommen wurden die Workshops, allen voran „Trommeln für den Widerstand“ mit einer Action-Samba-Gruppe, die auf Demonstrationen spielt. Die haben die Instrumente und Kommandozeichen erklärt, und dann haben die Teilnehmer einen einfachen Rhythmus einstudiert, den sie mit der Sambagruppe am Ende des Workshops auch draußen auf der Straße gespielt haben. Das hat echt Spaß gemacht! Toll angenommen wurde auch die „Einführung ins Darstellende Spiel“ mit einer Lehrerin, mit der wir praktische Übungen gemacht und Dialoge einstudiert haben. Das kam so gut an, dass wir in diesem Semester erneut „Darstellendes Spiel“ anbieten.
Wo gab es Probleme?
Einige Veranstaltungen waren schwach besucht, weil die Themen für die Hauptzielgruppe offenbar nicht interessant waren. Deshalb haben wir uns während der Semesterplanung mit den Gästen des Wohnungslosentreffs Café Papagei zusammengesetzt und gefragt: Was interessiert euch, welche Veranstaltungen wünscht ihr euch? Da kamen viele Ideen zusammen. Wir können nicht alles davon umsetzen, aber einiges haben wir aufgreifen können. Diese Runden Tische wollen wir beibehalten. Denn einer unserer Grundsätze ist ja Teilhabe – das gilt in alle Richtungen. Bei der Uni der Straße machen Studierende mit, professionelle Dozenten und Wohnungslose oder Leute mit wenig Geld: als Teilnehmer, aber nicht nur, sondern auch bei der Planung.
Was werden Sie anders machen als bisher?
Im Sommersemester haben wir die Veranstaltungen bewusst kurz gehalten, etwa eine Stunde. Bei Vorträgen mit anschließender Diskussion passt das auch. Aber zu den Workshops bekamen wir viele Rückmeldungen, dass eine Stunde zu kurz sei. Daraus haben wir gelernt: Wenn die Leute aktiv bei etwas mitmachen, dann ist ihre Aufmerksamkeitspanne viel größer. Das haben wir in der Planung des neuen Semesters auch berücksichtigt.
Jetzt beginnt das neue Semester. Was sind die inhaltlichen Schwerpunkte?
Das Veranstaltungsprogramm für Winter 2016/2017 ist da!
Wir haben mehrere thematische Säulen, es wird um Gewaltfreiheit gehen, um soziale Teilhabe und um Ernährung. Wir werden beispielsweise gemeinsam den Film „Hass“ anschauen, in dem es um Gewalt in den Vororten von Paris geht. Und am nächsten Abend sprechen wir gemeinsam über den Film, der ziemlich brutal ist. Eine Woche danach machen wir einen Workshop zu Deeskalation, und dann gibt es noch eine Veranstaltung zu gewaltfreier Kommunikation. Für den Themenblock Armut haben wir unter anderem eine Rechtsanwältin der Erwerbslosenhilfe eingeladen. Sie wird mit den Teilnehmern durchsprechen, welche Pflichten und welche Rechte sie im Umgang mit dem Jobcenter haben und welche bürokratischen Fallstricke es zu beachten gilt. Außerdem haben wir von vielen Gästen im Café Papagei gehört, dass sie Probleme haben, mit dem wenigen Geld, das sie haben, hauszuhalten und sich dennoch gesund zu ernähren. Dazu werden wir einen Workshop anbieten: Wie kann ich mich mit wenig Geld gesund ernähren?
Gibt es eine Veranstaltung, auf die Sie sich ganz besonders freuen?
Im Dezember gibt es eine Diskussionsrunde mit Pastor Jürgen Mann, dem Seelsorger der Inneren Mission. Er wird mit den Teilnehmern über Gott, Glaube und Religion sprechen. Auf dieses Thema sind wir durch einen Zufall gekommen, als ich mich im Café Papagei zu einigen Gästen gesetzt und sie mit „Grüß Gott“ begrüßt habe. „Mach ich, wenn ich ihn sehe“, hat einer geantwortet. Und dann entbrannte eine schöne Diskussion über Religion, wie unlogisch das doch sei und solche Dinge. Darüber habe ich mit Jürgen Mann gesprochen, und er war gleich dabei: Die Diskussion greifen wir wieder auf! Er möchte einen Impuls geben und dann offen und gern auch kontrovers diskutieren.
Wäre eine stärkere Durchmischung des Publikums wünschenswert?
Im Probesemester kamen überwiegend Gäste aus dem Café Papagei. Es wäre schön, wenn noch mehr ganz normale Angestellte die Veranstaltungen besuchen würden, damit man miteinander ins Gespräch kommen und Vorurteile abbauen kann. Von beiden Seiten übrigens. Damit die Leute sehen: Die sind ja gar nicht alle stinkbesoffen! Oder andersherum: Die sind ja gar nicht arrogant und gucken auf mich herab. Die Uni der Straße soll da eine kleine Brücke bauen. Dafür wollen wir stärker werben: Die Uni der Straße ist nicht nur für Wohnungslose da. Daher auch der neue Slogan: Uni der Straße – für alle, ohne Grenzen. Bei uns brauchst du kein Abitur, kein Geld, aber du musst auch nicht arm oder obdachlos sein. Du kannst auch gern kommen, wenn du als Chirurg in der Parkallee wohnst.
Text: Philipp Jarke
Quelle: Die Zeitschrift der Straße #43, November 2016, S. 28-29
Illustration: Michael Vogel
Es ist ja eine Adresse in bester Lage! Aber sie gilt als schmuddelig. Und sie ist noch dazu einer der zugigsten Orte der ganzen Stadt – die kleine Straße zwischen dem Breitenweg und dem Haus des Reichs, wo heute die grüne Finanzsenatorin regiert. Aber sie ist eben auch unser Zuhause: Unsere Redaktion tagt hier, unser Vertriebsbüro ist hier, die Uni der Straße hat hier ihren Sitz, und gleich nebenan ist auch das Café Papagei (Seite 24), der Tagestreff für alle wohnungslosen und von Armut betroffenen Menschen. Das alles ist Grund genug, uns mal „Auf der Brake“ näher umzusehen.
Aber natürlich soll es in diesem Heft nicht nur um uns gehen! Sondern auch um die Straffälligenhilfe, deren Zentralstelle sich gleich nebenan findet. Wir haben dort mit einer Frau gesprochen, deren Mann gerade im Knast sitzt (Seite 20). Danach haben wir uns zusammen mit den Streetworkern von Vaja mal eine Nacht auf der Discomeile um die Ohren geschlagen (Seite 8). Außerdem sind wir durch den Verwaltungspalast geschlendert, in dem heute Bremens Geld verwaltet wird (Seite 14). Von seiner Dachterrasse hat man, so wie der Kantinenkoch auf unserem Titelbild, einen ganz hervorragenden Ausblick auf diesen Ort, seine Geschichten. Und noch immer erzählt das Haus des Reichs auch von Glanz und Hybris längst vergangener Tage.
Viel Vergnügen wünschen Jan Zier, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 MIT DEM MUTTIZETTEL IM CLUB
Eine Nacht auf der Discomeile
12 EIN HOF WIRD GERETTET
Neue Pläne für eine alte Schmuddelecke
14 AUFSTIEG UND FALL
Fotostrecke
20 „EINE DOPPELTE BESTRAFUNG“
Interview mit der Frau eines Inhaftierten
24 SELBST WENN DIR BLAUE TENTAKEL WACHSEN (online lesen)
Im Café Papagei treffen sich Wohnungslose und Menschen mit wenig Geld. Ein Besuch
#43 AUF DER BRAKE – Im Café Papagei treffen sich Wohnungslose und Menschen mit wenig Geld. Hier sind alle willkommen. Nur bei einem Thema kennt das Team keine Toleranz
„Junger Mann, Sie wollten duschen“, sagt Karin zu dem schlaksigen Mittzwanziger. „Stimmt, Sie haben recht. Wollte ich nicht, aber ich sollte“, antwortet er. Und trägt sich in die Liste für die Duschen ein. „Kann ich einen Rasierer haben? Ist ja Montag“, fragt der junge Mann. „Es ist Dienstag“, entgegnet Cory und überreicht ihm Handtuch und Rasierer.
Karin und Cory, Angestellte der Inneren Mission, arbeiten im Café Papagei, einem Treffpunkt für Wohnungslose und Menschen mit wenig Geld. Hier gibt es günstigen Kaffee, belegte Brötchen, Bockwurst und auch ein warmes Mittagsessen. Die Gäste können hier duschen, ihre Wäsche waschen oder sich eine Postadresse einrichten.
Das Café Papagei als Ort der Begegnung und Unterstützung für Wohnungslose
Etwa ein Drittel der Besucher ist ohne Wohnung, ansonsten mischen sich die Szenen. Das liegt vor allem an der Lage – früher, als die Wohnungslosenhilfe noch im Jakobushaus am Breitenweg war, kamen überwiegend Obdachlose, erzählt Karin, während ihre Augen den Raum absuchen.Ihr Gesicht ist freundlich, an den Händen trägt sie blaue Gummihandschuhe, mit denen sie sich auf dem Tresen abstützt. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei der Inneren Mission und seit über einem Jahr im Café Papagei. „Ich kenne zwar nicht alle hier mit Namen, aber ich weiß, was sie trinken“, erzählt sie. Wenn einer der Stammgäste nicht kommt, macht Karin sich schon mal Sorgen. „Ich bin gerne im Kontakt mit den Menschen“, sagt sie und setzt sich während ihrer Zigarettenpause zu den Gästen an den Tisch.
Das Café hat von neun bis 16 Uhr geöffnet, der Raucherraum ist um halb zehn schon ordentlich gefüllt. Es ist laut. Manche umarmen oder küssen sich zur Begrüßung, andere sitzen allein und murmeln vor sich hin. Im Nichtraucherraum, wo auch der Tresen steht, ist es ruhiger. Hier sitzt eine Gruppe älterer Herren und liest Zeitung, geredet wird kaum. Bei allem Trubel achten alle, die rein oder rausgehen, penibel darauf, dass die Tür zum Raucherraum immer geschlossen wird.
Ein Ort der Ablenkung und Hilfe für Menschen mit Lebensgeschichten
Michael sitzt mit seinem Laptop im Raucherzimmer, an seinem Stammplatz: in Steckdosennähe. Er hat kurze weiße Haare und sieht irgendwie ordentlich aus hinter seinem Rechner, fast unauffällig. Er kommt nur dienstags hierher, ansonsten geht er ins „comeback“, ein Treffpunkt für Menschen, die von Drogen gefährdet oder abhängig sind. Michael ist 53 und wenn er erzählt, wie und warum er hierhergekommen ist, muss er weit ausholen. Er hat viel erlebt, sagt er, „genug für mehrere Leben“. Das sieht man ihm nicht an, und fast glaubt man, er könnte einem alles erzählen, wenn ihm der Schalk so aus den blauen Augen blitzt. Was immer geblieben ist, ist das Interesse an Computern. Angefangen hat er mit dem Commodore 16, „das ist heute ein Kultgerät“, sagt er und lacht. Michael ist arbeitslos und wird als „schwer vermittelbar“ eingestuft. Nach verschiedenen Ausbildungen und gesundheitlichen Problemen kamen private dazu, schließlich geriet er in die Abhängigkeit. Heute kommt er ins Café, weil er sich zu Hause langweilen würde: „Natürlich ist meine Arbeit hier Ablenkung von den anderen Sachen. Aber wenn jemand Probleme mit seinem PC hat, dann helfe ich.“ So arbeitet er in seinem Traumberuf, zumindest ein bisschen.
Ein wichtiger Service für die Menschen ohne festen Wohnsitz
Vom Raucherraum gelangt man über eine Treppe nach oben. Vor der Poststelle drängen sich die Menschen, manche stehen in Gruppen, andere allein. Es ist eine bunte Mischung, verschiedene Sprachen sind zu hören. Eine alte Frau mit weißen, zusammengebundenen Haaren wird von einem großen, jungen Mann begleitet. Er stützt sie und erzählt ihr Dinge, über die sie lacht. Drei Stunden täglich ist die Poststelle geöffnet, die Besucher können sich hier eine Adresse einrichten und täglich ihre Post abholen. Derzeit haben im Café Papagei 480 Menschen eine Postadresse. Die Post, gesammelt und sortiert, liegt hinter dem Schreibtisch von Conni, in einem weißen, halbhohen Schrank, der für so viele Postadressen viel zu klein wirkt. Conni erledigt die Post allein, manchmal bekommt sie Hilfe von Praktikanten. Sie trägt auffällige Ohrringe und ihre asymmetrisch geschnittenen Haare lenken die Blicke hin und her. Conni, die ihre Gesprächspartner mit einem klaren, aber freundlichen Blick fokussiert, registriert jeden Brief im Computer, für manche müssen die Adressaten sogar unterschreiben. „Damit nachgewiesen werden kann, dass die Klienten ihre Post tatsächlich erhalten“, sagt Conni. Gerade bei Briefen vom Jobcenter sei das wichtig.
Kaffee schenken sie im Café Papagei gern und viel aus, Alkohol nie.
An drei Tagen in der Woche sind Ärzte vom Verein für medizinische Notversorgung vor Ort, die Patienten in Notlagen ehrenamtlich untersuchen und behandeln. Manche der Patienten leiden unter Ekzemen und anderen Hautkrankheiten, auch Krätze sei schon mal vorgekommen. „Kleiderläuse sind auch immer ein Problem“, erzählt Conni. Aber für den Fall gibt es neue Kleidung und eine Dusche. „Wenn sich jemand in unsere Hände begibt, dann kriegen wir alles hin.“ Problematisch wird es, wenn nach einem Parasitenbefall nicht alle Textilien weggeworfen werden, weil sich die Besitzer nicht davon trennen können. Dann kann es schon mal dauern, bis das Problem behoben ist. Ekel gibt es hier kaum. Solange man nicht zu stark riecht oder aufdringlich ist, ist hier alles in Ordnung, sagt Conni. „Hier können dir blaue Tentakel wachsen, das ist ganz egal.“
Ein Ort der Ruhe und Begegnung
Im Nichtraucherraum, etwas zurückgezogen gegenüber dem Tresen, sitzt Uwe und trinkt einen Kaffee. Seine Haare haben helle Spitzen, fast als hätten Sonne und Meer sie aufgehellt. Er schaut einmal in der Woche herein, „einfach, um einen günstigen Kaffee zu trinken“. Außerdem seien die Leute hier sehr nett, die Mitarbeiter empfindet er als engagiert. „Da kann man sich schon mal wohlfühlen.“ Obwohl das Essen gut riecht und vergleichsweise billig ist, nimmt er das nicht in Anspruch, weil er selber gerne kocht. Und weil es ihm hier auch schnell zu anstrengend wird: Es gibt „Kandidaten“, wie er sie nennt, die ihm zu stressig sind. „Die aggressive Atmosphäre ist manchmal spürbar“, sagt er, vor allem im Raucherzimmer. Aber Uwe hat auch ein paar nette Bekannte hier, „Sympathisanten“ nennt er sie, und die trifft er gern.
Vom Leben auf der Straße zu einem festen Platz in Bremen
Uwe bestellt sich einen kleinen Saft und sitzt ruhig auf seinem Platz am Fenster. Er war nie obdachlos, lediglich wohnungslos, in Bremen hat er direkt ein möbliertes Zimmer vermittelt bekommen. Hier will er bleiben. Obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielt, in ein anderes Land zu ziehen. Das hat er vor Jahren schon mal probiert: Damals hat Uwe in Frankreich gelebt, bis ihm irgendwann das Geld ausging – und er wieder zurückgekommen ist. Auch in Holland hat er schon gelebt, in Amsterdam. Damals war es die Mentalität der Menschen, die ihm irgendwann nicht mehr gefiel und ihn zurückkehren ließ. Die Mentalität, sagt Uwe, lernt man am besten auf der Straße kennen. Deshalb hat er in Amsterdam, Köln und Hamburg Straßenzeitungen verkauft. Auch in Bremen hat er eine Zeit lang die Zeitschriftder Straße verkauft: „Nur kurz, nur um die Stadt kennenzulernen“, sagt er. Hierhergekommen zu sein, war eine gute Entscheidung, hier fühlt er sich wohl – „Bremen hat was“.
Für alle, die eine Pause vom Alltag brauchen
„Habt ihr einen Strohhalm?“ Ein junger Mann kommt gehetzt an den Tresen und verschwindet gleich wieder, ohne Strohhalm. „Nichts, womit du dir die Nase machen kannst“, murmelt ein tätowierter Mann, der allein an einem Tisch sein Frühstück isst. Ins Café Papagei kommen nicht nur Wohnungslose, auch Menschen mit Drogenproblemen Drogenproblemen treffen sich hier. Seit dem Umbau des Hauptbahnhofs verschiebt sich die Drogenszene. Im Hinterhof, heißt es, bekommt man alles. Das schreckt manche der alten Stammklienten aus dem Jakobushaus ab. Um das Problem in den Griff zu bekommen, soll der Eingang des Cafés verlegt werden, in den Hinterhof – so wird er vom Tresen aus einsehbar, und Menschen mit Hausverbot können direkt wieder rausgeschickt werden. Hausverbot bekommt hier, wer Alkohol oder Drogen ins Café mitbringt oder versucht, diese zu verkaufen. „Hier können sich alle treffen, aber nur, wenn sie es schaffen, die Drogen während dieser Zeit aus dem Kopf zu lassen“, sagt Conni. Denn das Café ist vor allem ein Treffpunkt für Wohnungslose und das soll so bleiben.
Ihre Stadtkenntnis ist gefragt. Wir suchen Bremer Straßen und Orte für unsere nächsten Ausgaben
Seit Anfang 2011 thematisiert die Zeitschrift der Straße in jeder Ausgabe eine Straße bzw. einen Ort in Bremen. Sie beschäftigt sich mit den Menschen, die sich an den Orten aufhalten, und mit dem Leben auf den Straßen. Die Zeitschrift der Straße erzählt Geschichten, die es nirgendwo sonst zu lesen gibt.
Inzwischen ist auf diese Weise ein „journalistischer Stadtplan“ in 42 Teilen entstanden, und fast monatlich kommt ein neuer hinzu. Die meisten Ausgaben unserer Zeitschrift können Sie online lesen (Rubrik LESEN im Hauptmenü).
Für 2017 sind wir noch auf der Suche nach Straßen und Orten mit Potenzial, um ihnen Ausgaben zu widmen. Ob eine Straße „schön“ oder ein Ort „bedeutend“ ist, spielt für uns keine Rolle. Meist sind es unscheinbare, etwas abgelegene Straßen, die mit Überraschungen aufwarten.
Möchten Sie uns eine Straße oder einen Ort vorschlagen? Dann teilen Sie uns mit, worin Sie das Potenzial dieser Straße bzw. dieses Ortes sehen. Welche Geschichten gibt es dort zu entdecken und zu erzählen? Was hat sich zugetragen? Was für Menschen leben dort? Wie gehen sie miteinander um? Mit wem sollten wir uns unterhalten? etc.
Wir sind gespannt auf Ihre Ideen und Vorschläge. Bitte schicken Sie sie an: redaktion(ät)zeitschrift-der-strasse.de.
Wie entsteht eigentlich eine Ausgabe der Zeitschrift der Straße? Wie gelangt sie in den Straßenverkauf? Wie werden die StraßenverkäuferInnen unterstützt? Wie sieht das Vertriebsbüro aus? Welche Projekte hat das Team der Zeitschrift der Straße für die nächste Zeit in der Pipeline? Welche Möglichkeiten bietet die Zeitschrift für freiwilliges Engagement?
Am Donnerstag, den 27. Oktober 2016, ab 17 Uhr erhalten Sie Antworten auf diese und weitere Fragen. Der Freundeskreis der Zeitschrift der Straße lädt alle Interessierten ein zu einer Info-Veranstaltung ins Café Papagei (Auf der Brake 2, 28195 Bremen). VertreterInnen von Redaktion, Vertrieb, Marketing und auch der Uni der Straße stellen ihre Arbeitsbereiche vor und stehen danach in lockerer Runde bei Snacks und Getränken für Gespräche zur Verfügung.
Natürlich freut sich der Freundeskreis auch über neue Mitglieder und bietet die Möglichkeit, während des Abends beizutreten.
Wir freuen uns darauf, Sie zu dem Treffen begrüßen zu dürfen. Damit wir besser planen können, bitten wir Sie um eine unverbindliche Anmeldung.
Tut uns leid, die Anmeldung ist inzwischen geschlossen.
Blumenthal ist nur ein kleines Fischerdorf außerhalb des Zollgebietes, als einige Konsuln und Kaufleute hier 1883 eine Aktiengesellschaft gründen: die Bremer Wollkämmerei. Heute steht Blumenthal vor allem für wirtschaftlichen Niedergang und soziale Probleme, irgendwo am Rande der Stadt. Dazwischen liegen Aufstieg und Fall eines Unternehmens, das mal zu den ganz Großen seiner Branche gehörte und der Stadt ein riesiges, noch dazu weitgehend denkmalgeschütztes Areal hinterlassen hat. Blumenthal, das war die Wollkämmerei.
Was aus all dem jetzt werden soll? Wir haben uns mal eine Weile drinnen umgesehen (Seite 16) und dann ein paar Leute gefragt, die sich mit so was auskennen. Welche Visionen sie für die Wollkämmerei haben, ist ab Seite 8 nachzulesen und auch anzugucken. Außerdem haben wir nach den Spuren der ZwangsarbeiterInnen gesucht, die einst hier schuften mussten (Seite 12). Wir haben einen Mann besucht, der am Beispiel unseres Mülls viel über die Entwicklung dieser Brache in neuerer Zeit erzählen kann (Seite 22). Und eine Frau, die auch mal ganz oben war – und sich in Blumenthal wieder zurückgekämpft hat. Das Ergebnis: lauter Rekorde, ab Seite 26.
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Jan Zier, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
#42 WOLLKÄMMEREI – Was soll eigentlich aus der Wollkämmerei werden? Wir haben ein paar Leute gefragt, die sich mit so was auskennen
Das ganze Gelände ist größer als der Vatikan. Aber eine Brache, mehr oder weniger. Und das schon seit vielen Jahren: 2009 machte die Bremer Wollkämmerei endgültig dicht. Was geblieben ist? Eine „Perle der Industriekultur“, wie die Bremer Wirtschaftsförderer schreiben, und zwar eine mit „hohem Entwicklungspotenzial“. Aber was genau soll das heißen?
Anfrage bei Klaus Hübotter: Der Alt-Kommunist und Ehrenbürger hat als Kaufmann und Bauherr schon zahllose historische Gebäude in Bremen gerettet. Den Schlachthof und den Speicher XI, das Bamberger Haus, die Villa Ichon, den alten Sendesaal von Radio Bremen. Und so weiter! Wenn also irgendjemand eine gute Idee für die Wollkämmerei haben könnte, dann ist es Klaus Hübotter. Doch er sei „ohne Zeit und Ideen“, schreibt uns der Mittachtziger, mit besten Grüßen.
Vom Ghetto zur zentralen Vision
Mit seiner Architektur der Gründerzeit sei das Gelände „ideal als Bürofläche für Künstler, Designer, Ingenieure und Architekten, für Gastronomie oder als Veranstaltungsraum“, behaupten die Wirtschaftsförderer. „Das ist genau die Fantasielosigkeit, die Bremen kaputt macht“, sagt Arie Hartog, der Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses, ein Mann, der sich gerne grundsätzliche Gedanken über die Stadt macht. „Wir denken solche Gebiete ja immer als Peripherie und Ghettos“, sagt Hartog – daher auch die Idee, Künstler dort anzusiedeln. „Es sind Reste. Also müssen wir die Denke umdrehen und behaupten: Das wird das Zentrum und es dann städtebaulich entwickeln.“ Diejenigen, die sich da dranmachen, sagt Hartog noch, die sollten mal Lucius Burckhardt und Doug Saunders lesen, „um den Kopf von stadtplanerischen Dogmen zu lösen“.
Der erste Versuch einer Vision für die Wollkämmerei
Noch sprechen die zuständigen Wirtschaftsförderer allerdings lieber von einem „Branchenmix aus Metall-, Maschinen- und Anlagenbau, Spedition, Chemiefaserproduktion und Heizkraftwerk.“ 2011 hat Bremen das Gelände für drei Millionen Euro gekauft, ein Jahr später wurde das Ensemble unter Denkmalschutz gestellt. Und der „Palast der Produktion“ zog ein. Es war dies der erste Versuch, so etwas wie eine Vision für die Wollkämmerei zu entwickeln: Vier Wochen lang durften 90 Kreative nach einem „Gegenmodell zur vereinzelten Erwerbsarbeit“ suchen. Möglich gemacht haben das damals die beiden Architekten Daniel Schnier und Oliver Hasemann von der „ZwischenZeitZentrale“ (ZZZ). In der ganzen Stadt denken die beiden sich Konzepte und Zwischennutzungen für leer stehende Häuser und Brachen aus, mittlerweile im offiziellen Regierungsauftrag.
Kreative Konzepte für die Wollkämmerei mit Brauerei und Kleingewerbe
Hasemanns Idee: In die ehemalige „Sortiererei“ der Wollkämmerei, 4.500 Quadratmeter groß, könnte „Schafs-Bräu“ einziehen, eine „Brauerei-Manufaktur“ für das, was man heute Craft Beer nennt. Zugegeben, auch Daniel Schnier hat diese Idee anfangs belächelt – andererseits: In der Union Brauerei in Walle funktioniert sie gut. Daneben würde Schnier gerne „Kleinstgewerbe“ ansiedeln, „mit Leuten, die mit ihren verrückten Ideen sonst keine Chance haben“. Die aber, beispielsweise, Lebensmittel produzieren wollen, regionale Produkte. Ein, zwei Jahre könnten Teile der Wollkämmerei oder einige der leer stehenden Läden drumherum mietfrei abgegeben werden, an Leute, die weder Raum noch Kapital haben und eigenverantwortlich arbeiten wollen.
Raum für Feiern und kreative Nutzungsmöglichkeiten
Auf den großen Investor zu warten lohnt jedenfalls nicht, sagt Schnier – und wenn, dann würde der wohl eh in die Überseestadt gelotst. „Und bevor die nicht voll ist, passiert auch in der Wollkämmerei nichts.“ Und was noch fehlt, in Bremen-Nord, das sind Räume für Feierlichkeiten, zum Beispiel, wenn man zehn Kids einlädt – oder auch viele Hundert Verwandte und Freunde, wie es auf Hochzeiten öfter vorkommt, gerade bei muslimischen. Und wer so etwas sucht, in Bremen, wird oft erst in Hannover fündig, sagt Schnier. Stattdessen treffen sich nun am Wochenende die Auto-Tuner auf dem Gelände, und manchmal gibt es auf der historischen Achse sogar kleine Rennen. Das passt dann irgendwie doch wieder ganz gut, wo doch oft vom „Detroit Bremens“ die Rede ist, wenn es um Blumenthal und die Wollkämmerei geht.
Über die Entwicklung von Industriebrachen und die Zukunft der Wollkämmerei
Verena Andreas ist eine, die viele solcher Industriebrachen kennt: „In Dortmund spazierte ich um den Phoenix-See – dort wo früher ein Stahlwerk stand. In Duisburg kletterte ich auf einen Hochofen, in Manchester ging ich zwischen alten Fabrikhallen entlang, in denen nun an Laptops gearbeitet wird, besuchte Plattenläden und Bars in einer alten Baumwollbörse. In Detroit freute ich mich über Bagelshops und Burgerläden, Urban Gardening und Kunstprojekte, die mir kurzzeitig Zuflucht vor den verfallenden Straßenzügen boten. Und wer heute in Barcelona an der Strandpromenade das Mittelmeer genießt, erahnt wohl kaum noch, dass dort vor 30 Jahren große rauchende Industrieanlagen die Stadt vom Meer abschnitten.“ Andreas ist Raumplanerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bremen. Dort beschäftigt sie sich mit Stadtplanung und -entwicklung; auf Reisen spaziert sie gern durch brachliegende Viertel in alten Industriestädten. Auch die Wollkämmerei kennt sie gut: Verena Andreas ist Mitautorin einer neuen Studie über die Entwicklung in Bremen-Nord.
Potenziale und die Notwendigkeit ganzheitlicher Stadtentwicklung
„Das Gelände hat besondere Qualitäten: die Weser und die nahe gelegenen Parkflächen sowie die besonderen Gebäude der historischen Achse“, sagt die Raumplanerin. „Warum wurden diese Qualitäten nicht für das allseits beliebte Wohnen am Wasser oder für kleine Startups und Dienstleistungsunternehmen erschlossen, so wie andere Städte dies mit vergleichbaren Flächen machen?“ Weil das Gelände ein Gewerbegebiet ist, das ganz viele Arbeitsplätze schaffen soll. „Aber es kann nur dann zu einem lebendigen und wirtschaftsstarken Arbeitsort und Entwicklungsmotor in der Stadt werden, wenn der Rest Blumenthals mit seinen gravierenden Problemlagen parallel entwickelt wird“, sagt Andreas: „Es braucht große Investitionen – öffentliche wie private.“ Damit ein Umfeld geschaffen wird, in dem sich Menschen wohlfühlen – als Arbeitnehmer und Bewohner. Ein Umfeld, in dem die Leute in der Mittagspause etwas essen gehen können, in dem sie attraktiven und bezahlbaren Wohnraum finden, dazu Kinderbetreuungsplätze und Schulen, auf die man seine Kinder gerne schickt.
„Dafür braucht es Eingriffe an der gesamten Achse zwischen Wätjens Park und Bahrsplate und später auch darüber hinaus.“ Es geht nicht allein um die Wollkämmerei, sagt die Wissenschaftlerin. Sondern darum, „das ganze Stadtteilumfeld von Arbeiten über Wohnen bis hin zur Bildung als Ganzes zu betrachten und zu entwickeln“.
Die Osterstraße ist ein Ort, der über Jahre in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hin träumte. Es war ein langer, ereignisarmer Schlaf. Doch dann kamen die Menschen, und mit ihnen ihre Ideen und Projekte. Das faszinierende an der Osterstraße ist heute, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche Menschen anzieht. Tagsüber die Alteingesessenen, die Kioskgäste, die Krankenhausangestellten, die Besucher mit ihren Blumensträußen. Abends dann die Studierenden, die in die Kneipen einfallen, die sich entlang der Osterstraße neu angesiedelt haben. Und in den Zeiten und Räumen dazwischen: bunte Vögel, eigenwillige Ladenbesitzer, Künstler – und Lebenskünstler.
Unsere Fotografin Jasmin Bojahr, Meisterschülerin an der Hochschule für Künste, fasste es auf einer Redaktionskonferenz treffend zusammen: Die Straße oszilliert. Und auch unsere Texte atmen dieses Auf und Ab. Die Geschichte von Herma Siebrasse etwa, die nicht anders konnte, als ein künstlerisches Leben zu führen (Seite 20). Oder das Interview mit Christine Fischer, klein im Wuchs, aber großherzig im Leben (Seite 8). Ein ganzes Drama breiten wir Ihnen in unserem letzten Text in dieser Ausgabe aus. In den Hauptrollen: zwei Liebende, freundliche Musiker – und ein nicht immer freundliches Publikum (Seite 24).
Besonders ans Herz legen aber möchten wir Ihnen unseren Text über die Spekulation mit Wohnraum für Wohnungslose, wie sie exemplarisch derzeit auch an der Osterstraße geschieht (Seite 10). Ein wichtiges Thema, wie wir finden – gerade weil es keine einfachen Antworten gibt.
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße