In unserem neuen Videoclip kommen zehn unserer Aktiven zu Wort. Sie beschreiben, wie aus ihrer Sicht die Zeitschrift der Straße ihren Anspruch einlöst, zugleich ein Medienprojekt, ein Sozialprojekt und ein Lernprojekt zu sein. Auf dreierlei Weise schafft die Zeitschrift der Straße damit gesellschaftliche Rendite.
Videoproduktion: Fabian Giering
Konzeption & Foto: Michael Vogel
Damit die Zeitschrift der Straße auch langfristig ihre gesellschaftliche Rendite erbringen kann, braucht sie Ihre Unterstützung als Mitglied im neu gegründeten Freundeskreis.
Die Zeitschrift der Straße ist zu gleichen Teilen ein Medienprojekt für Bremen, ein Sozialprojekt für Menschen in schwierigen sozialen Lebenslagen und ein Lernprojekt für Studierende. Diesen Dreiklang betonen wir bei jeder Gelegenheit in der Hoffnung, dass die Besonderheit unseres Straßenmagazins deutlich wird.
Sozialprojekt
Eine der Konsequenzen dieses Dreiklangs sind seine Kosten. Wäre die Zeitschrift der Straße ein gewöhnliches kommerzielles Produkt und kein Sozialprojekt, würden wir sie nicht auf der Straße, sondern über Kioske verkaufen. Zweifellos wäre dank der vertrauteren und bequemeren Kaufsituation der Absatz deutlich höher. Wir könnten also in höherer Auflage drucken, was die Druckkosten pro Exemplar senken würde. Außerdem liegt die Zeitschriftenprovision in Kiosken bei 10-15% des Verkaufspreises, während unsere Straßenverkäufer:innen 55% erhalten.
Lernprojekt
Wäre die Zeitschrift der Straße ein gewöhnliches kommerzielles Produkt und nicht auch noch ein Lernprojekt, müssten wir zwar auf Studierende als ‚kostenlose‘ Mitarbeiter:innen verzichten. Dafür würden wir aber eine sehr viel höhere Routine und Effizienz in den Abläufen erreichen. Denn das ständige Kommen und Gehen von Studierenden ist mit hohem Einarbeitungs- und Betreuungsaufwand verbunden. Unser früherer Chefredakteur Armin Simon schätzte 2014 die Kosten einer reinen Profi-Redaktion um ein Drittel niedriger pro Heft als die Kosten, die uns durch Schreibwerkstätten und individuelles Schreibcoaching entstehen.
Dreifache gesellschaftliche Rendite
Zum Glück muss die Zeitschrift der Straße keinem Investor eine marktübliche finanzielle Rendite abliefern, sondern nur ihre eigenen Kosten decken. Rendite „erwirtschaftet“ unser Straßenmagazin aber dennoch:
als Medienprojekt schafft sie eine „Heimatrendite“, indem Bremer:innen ihre Stadt anders – vielleicht auch besser – sehen, kennen und schätzen lernen;
als Sozialprojekt ermöglicht sie eine „soziale Rendite“ in Form von Einkommen, Tagesstruktur, Anerkennung und Zugehörigkeit für einige der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft;
als Lernprojekt liefert sie eine „Bildungsrendite“ in Form besserer Fach-, Sozial- und Selbstkompetenzen sowie prägender Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichem Engagement für junge Menschen, die künftig die Geschicke der Gesellschaft mitbestimmen werden.
Damit die Zeitschrift der Straße ihre dreifache gesellschaftliche Rendite auch langfristig erbringen kann, sind wir auf Spenden angewiesen. Regelmäßige Spenden verringern unsere Abhängigkeit von den oft stark schwankenden Straßenverkäufen und verschaffen uns Spielräume für die Weiterentwicklung. Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt erzielt die Hälfte seiner gesamten Einnahmen aus Spenden. Wir liegen gerade einmal bei 5%.
Freundeskreis
Um das zu ändern, laden wir Sie ein, dem Freundeskreis der Zeitschrift der Straße beizutreten und unser Medien-, Sozial- und Lernprojekt durch einen Mitgliedsbeitrag von 8 Euro pro Monat oder den Preis einer Zigarette (26 Cent) pro Tag zu unterstützen. Die Freund:innen sind näher dran am Geschehen dank eigener Freundeskreis-Rundschreiben sowie Treffen mit Gleichgesinnten und den Macher:innen von Bremens außergewöhnlichem Straßenmagazin. Alles Weitere finden Sie hier. Wir freuen uns auf Sie.
Pünktlich zu ihrem fünften Geburtstag hat es die Zeitschrift der Straße ins Finale der Google Impact Challenge 2016 geschafft. Und zwischen dem 8. und 24. Februar können Sie uns zu Gewinnern machen!
Finale der Google Impact Challenge (8.-24. Februar 2016):
Die Abstimmungsfrist ist leider abgelaufen.
Der Wettbewerb, den das Internetunternehmen Google ausrichtet, soll ehrenamtliche und gemeinnützige Arbeit durch Weiterbildungen, Technologie und Geld unterstützen. Gesucht wurden Projekte, die die Lebenssituation von Gemeinschaften verbessern oder die Arbeit von Organisationen unterstützen, indem sie bisher ungelöste Probleme mit digitalen Hilfsmitteln oder kreativen Ansätzen beheben.
Auch wir von der Zeitschrift der Straße haben uns beworben. Als kreativen Ansatz unseres Tuns stellten wir die Synergien in den Mittelpunkt, die entstehen, wenn Hochschulen und Zivilgesellschaft zusammenwirken. Denn Kern der Zeitschrift der Straße ist es ja, dass Leistungen, die Studierende in ihrem Studium erbringen sollen, in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden – ob als Mitglied des Marketingteams, beim Design oder beim Schreiben der Artikel in unseren Ausgaben. Die Zeitschrift der Straße verbindet, was unserer Meinung nach viel stärker zusammengehört. Zu diesem Thema gibt es einen aktuellen Beitrag und unseren neuen Videoclip.
Zwei Runden haben wir seit letzten Herbst bereits gemeistert – von Tausenden Teilnehmern (laut Google) sind 210 ins Finale eingezogen, darunter auch wir. Am Ende werden 105 Finalisten prämiert. Unsere Chancen stehen also nicht schlecht. Aber dafür brauchen wir unbedingt Ihre Unterstützung, denn die Gewinner werden in einer öffentlichen Abstimmung ermittelt. Und das bedeutet: Jede Stimme zählt.
Vielen Dank für die Unterstützung.
Anzeigenmotiv: Michael Vogel
Konfettifoto: Sherrie Thai/flickr.com
Ein Blick hinter die Kulissen der Zeitschrift der Straße in der aufregenden Woche ihres fünfjährigen Jubiläums.
Montag, 1. Februar 2016: Die neue Ausgabe #35 AM SCHWARZEN MEER geht in den Verkauf. Als das Vertriebsbüro morgens um 10 Uhr öffnet, ist der Andrang der Straßenverkäufer:innen groß. Sie kaufen Hefte für 90 Cent das Stück und verkaufen sie dann auf der Straße für zwei Euro. Drei Stunden später sind bereits über 600 der 6000 gedruckten Hefte verkauft. Zum Gewusel im Vertriebsbüro trägt auch ein studentisches Kamera-Team der Hochschule Bremerhaven bei, das Aufnahmen für einen ZdS-Werbeclip dreht. Sturm und Regenschauer machen Außenaufnahmen und Interviews mit Straßenverkäufern zur echten Herausforderung für die Studierenden. Ein weiteres Kamera-Team, diesmal von Buten un Binnen, begleitet einen unserer Verkäufer in die Neustadt. Nachmittags tagt die Leitungsrunde der Zeitschrift der Straße, um die letzten Einzelheiten der Woche zu besprechen.
Dienstag, 2. Februar 2016: Heute ist Jubiläumstag – 5 Jahre Zeitschrift der Straße. Der Verkauf läuft mit unverminderter Dynamik weiter, während das studentische Kamera-Team erneut mit Starkwind zu kämpfen hat. Nachmittags reisen Vertreter:innen anderer norddeutscher Straßenzeitungen an, um erst mit uns zu tagen und dann zu feiern. Hempels aus Kiel, Jerusalemmer aus Neumünster und Hinz&Kunzt aus Hamburg sind hochrangig vertreten. Um 17 Uhr findet noch schnell eine Redaktionssitzung statt, bevor um 18 Uhr ca. 70 Gäste zur Jubiläumsfeier im Café Papagei eintreffen: Straßenverkäufer:innen und Ehrenamtliche, Mitarbeiter:innen, Vorstand und Verwaltungsrat des Vereins für Innere Mission, Studierende und Professor:innen, unsere langjährigen Partner von der Druckerei und auch der Bremer Staatsrat für Soziales. Live-Musik und rot-weiße Dekoration, Tombola, Essen und Getränke, kurze Reden und eine lange Wäscheleine mit allen 35 Ausgaben daran geben den vielen fröhlichen Gesprächen einen schönen Rahmen. Die Organisatorinnen der Jubiläumsfeier, fünf Seetouristik-Studentinnen der Hochschule Bremerhaven, haben wirklich gezaubert.
Mittwoch, 3. Februar 2016: Für 11 Uhr haben wir zum Pressegespräch ins Café Papagei geladen. Zahlreiche Pressevertreter:innen sind der Einladung gefolgt. Es gibt viel über die Vergangenheit und die Zukunft der Zeitschrift der Straße zu berichten. Die Pressevertreter:innen zeigen großes Interesse. Das Gespräch dauert mit anderthalb Stunden doppelt so lang wie geplant, was hoffentlich ein gutes Zeichen ist. Für alle, die nicht dabei sein können, gibt es eine Pressemitteilung. Nachmittags tagt noch eine Projektgruppe zur geplanten Uni der Straße.
Pressegespräch der Zeitschrift der Straße am 3.2.2016
Donnerstag, 4. Februar 2016: Der Verkauf der neuen Ausgabe brummt. Die Straßenverkäufer:innen sind in Hochform, wie es scheint. Die positive Berichterstattung in Zeitung, Radio und Fernsehen hilft ihnen bestimmt. Wir posten kräftig auf Facebook und twittern munter in die Welt hinaus. Am Abend, also nach nur vier Tagen, sind 2000 der 6000 Hefte der Ausgabe #35 verkauft.
Freitag, 5. Februar 2016: Nach einigem Hin und Her beschließen wir in enger Abstimmung mit unserer Druckerei, in der nächsten Woche 5000 Hefte nachdrucken zu lassen, um insgesamt auf eine Auflage von 11 000 zu kommen. Parallel gehen die Arbeiten der Bremerhavener Studierenden am ZdS-Werbeclip weiter. Und auf unserer Website laufen die Vorbereitungen für das Finale der Google Impact Challenge. Denn wenn am 8. Februar das öffentliche Voting für die deutschen Initiativen mit den besten sozialen Innovationen beginnt, wollen wir bereit sein.
Was für eine Woche! Gerne wieder.
Text: Michael Vogel
Fotos: Lena Möhler Titelbild: Michael Vogel
Die Zeitschrift der Straße feiert Jubiläum. Nicht alles lief wie geplant. Aber vieles besser als erwartet. Wir sind eben ein Lernprojekt – heute wie damals
Am 2. Februar 2011 lag sie endlich vor uns: Die erste Ausgabe der Zeitschrift der Straße. Zwei Jahre Arbeit, bisweilen ungewöhnliche Kooperationen, viel Zeit und auch einige Nerven hatte sie uns gekostet. Das Foto oben zeigt den Verkaufsstart mit Bertold Reetz (links) und den VerkäuferInnen Kati und Kai (†2015).
Kaum einer von uns hätte gedacht, wohin sie uns führen würde: Knapp 300.000 Hefte haben unsere Straßenverkäuferinnen und -verkäufer bislang an Mann und Frau gebracht, Tausende Bremerinnen und Bremer kaufen regelmäßig bei ihnen. Viele Leserinnen und Leser sammeln die Ausgaben als journalistischen Stadtplan. Die gedruckten Auflagen zahlreicher Ausgaben sind ausverkauft.
Vorbereitungskreis der Zeitschrift der Straße im Herbst 2010, vier Monate vor Erscheinen der ersten Ausgabe
Die Versuchung ist groß, die Geschichte der Zeitschrift der Straße als souveräne Erfolgsstory zu erzählen und dabei alle Irrungen und Beinahe-Pleiten der letzten Jahre unter den Tisch fallen zu lassen. Doch das wäre nur die halbe Wahrheit. Bremens Straßenmagazin ist nicht nur ein Sozialprojekt, sondern auch ein Lernprojekt für Studierende und junge Berufsanfänger, dessen Erfolg sich an anderen Kriterien bemisst.
Tatsächlich war es eine pädagogische Idee, die 2009 den Impuls zur Entwicklung der Zeitschrift der Straße gab: die Idee, dass Lernaktivitäten von Studierenden umso wertvoller sind, je mehr sie auch der Allgemeinheit dienen. Diese Idee ist noch immer grundlegend für das Funktionieren der Zeitschrift. Denn Studierende unterschiedlicher Fachgebiete – aus den Bereichen Journalistik, Design, Tourismusmanagement und Gesundheitswissenschaften etwa – finden hier eine Lernumgebung, in der sie tun können, was sie für ihr Studium ohnehin tun müssen. Bei der Zeitschrift der Straße aber haben ihre Lernaktivitäten reale Konsequenzen, nützen anderen Menschen und entfalten gesellschaftliche Wirkung. Learning by doing good.
Gruppenbild mit Zeitschrift der Straße: Hochschulteam im Sommer 2013 (Foto: Björn Wiedenroth)
Rund 200 Studierende haben sich bislang bei der Zeitschrift der Straße engagiert. Einige von ihnen sind auf dem Gruppenfoto von 2013 zu sehen. Ihnen stehen 750 registrierte VerkäuferInnen gegenüber, denen die Zeitschrift der Straße Arbeit statt Almosen bietet oder zeitweise bot – und Zugehörigkeit statt Ausgrenzung.
Damit sei nur angedeutet, was möglich wäre, wenn sich alle 2,8 Millionen Studierenden in Deutschland gesellschaftliches Engagement auf ihr Studium anrechnen lassen könnten. Oder wenn Hochschulen gar Prüfungsleistungen mit konkretem gesellschaftlichem Mehrwert verlangen würden.
Die Zeitschrift der Straße ist ein Vorstoß in diese Richtung. Sie ist das weltweit einzige Straßenmagazin, das zugleich ein Bildungsexperiment ist und sich als Übungsfeld für die Kooperation von Hochschulen und Zivilgesellschaft versteht. Nachahmung erwünscht!
#35 AM SCHWARZEN MEER – Wie jemand durch ein Tauschgeschäft zum Tätowierer wurde
Die Nadel sticht einige Millimeter in die Haut. Ein Sirren erfüllt den Raum, das beim Einstechen dumpfer wird. In der Luft ein medizinischer Geruch von Desinfektionsmitteln. Ein Mann liegt auf dem Bauch, von der Mitte seines Rückens bis zwischen die Schulterblätter entsteht ein Rosenkohl, gestochen von Philip Spence. Eigentlich wollte der Mann eine Palme, doch auf einem Spaziergang im Schrebergarten hat er entdeckt, dass eine Rosenkohlpflanze ganz ähnlich aussieht. Die Entscheidung war klar: Der Kohl ist weniger banal. So einzigartig die Menschen sind, so individuell ist oft die Auswahl der Motive, mit denen sie sich profilieren (siehe Foto).
Spence, 28, ist professioneller Tätowierer, er trägt Vollbart und gern bunte Socken. Er arbeitet mit Andrea Hood im Tätowierstudio Tiny Town Am Schwarzen Meer, in das er vor Kurzem als Partner eingestiegen ist. Man sieht es nicht sofort, aber die Tattoos auf Spence‘ Haut sind fast alle selbst gemacht. Von Freunden. Und einige, da, wo es ging, auch von ihm selbst. Auf der Innenseite seines linken Arms hat sein Motto einen persönlichen Platz gefunden: „DIY OR DIY“ steht dort in Großbuchstaben. „DIY“ ist eine englische Abkürzung und bedeutet: Do it yourself – mach es selbst!
Als Spence zum ersten Mal eine Tätowiermaschine in der Hand hielt, überlegte er nicht lange und stach sich auf dem linken Oberschenkel. Beim Setzen des ersten Stichs fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, was er sich machen sollte. Heute ziert ihn an dieser Stelle ein Kreis, im Inneren drei Linien, die ungefähr ein Dreieck ergeben.
An die Tätowiermaschine kam er damals durch Zufall. Zusammen mit einem seiner besten Freunde nutzte er einen Proberaum zum Musizieren, die Miete zahlte Spence allein. Im Gegenzug erhielt er von seinem Freund gelegentlich kleine Geschenke. Vor zwei Jahren war die Tätowiermaschine dabei.
Zu Beginn hat er viel und oft spontan herumprobiert, doch sein Anspruch stieg mit jedem vollendeten Tattoo. Nicht nur für seine Kunden möchte er immer bessere Tattoos machen, auch die Tattoos, die er sich von Freunden stechen lässt, wurden es. Spence steht zu allen seiner DIY-Tattoos. Mit einer Ausnahme. Mit 19 Jahren wollte Spence sein erstes Tattoo, doch es fehlte das nötige Geld. Ein Freund eines Freundes hatte gerade angefangen, mit der Maschine zu üben. Also stach der ihm sein erstes Tattoo: das vordere Kettenblatt eins Fahrrads. Spence verdreht leicht die Augen, grinst aber, als er erzählt, dass er es auf einer Amerikareise als einziges Motiv professionell ausbessern und erweitern ließ. Zuvor sei es „einfach zu bescheiden“ gewesen.
Wenn Spence einen Freund oder eine Freundin tätowiert hat, bittet er sie manchmal darum, auch ihm ein Tattoo zu stechen. Die Motive auf seinem linken Arm sind so entstanden: eine Fahrradkette, die sich um seinen Oberarm legt, oder eine Baumscheibe auf der Arminnenseite. Deren Bedeutung, sagt er, muss nicht offensichtlich für andere sein. Für ihn sind Tattoos wie Narben. Narben erzählen Geschichten, und irgendwann, sagt Spence, sieht man weniger die Narbe als eher eine bestimmte Zeit oder ein Gesicht, das man damit verbindet.
Bevor er professioneller Tätowierer wurde, hatte Spence als Fahrradkurier gearbeitet. Damals stach er sich den Abdruck seiner Radlerhose nach. Beim rechten Bein bemerkte er zu spät, dass er verrutscht war und die Enden sich nicht treffen würden. Ein Versehen, sicher, aber eben auch eine weitere „Narbe“. Bereut hat Spence dieses Tattoo, wie alle anderen, noch nie.
Am Schwarzen Meer, das klingt nach Urlaub, nach Sonne, nach der angenehmen Schläfrigkeit, die Wärme und Wellenrauschen verursachen. Das Bremer Schwarze Meer hingegen erzeugt wenig von dieser Stimmung. Stattdessen fühlt man sich zurückversetzt in das Ostertorsteinviertel der Neunzigerjahre.
Graffitis und Tags, wohin man schaut, herrenlose Sitzmöbel am Straßenrand, mit Parolen beschriftete Betttücher in den Fenstern, zwei bekannte Tattoostudios an einer Straße von gerade einmal 630 Metern – und dazwischen schmale Altbremer Familienhäuser und kleine Geschäfte, die schon seit Jahrzehnten hier ihre Kundschaft finden.
Die Gentrifizierung, so scheint es, hat Am Schwarzen Meer noch keine Ankerpunkte gefunden. Die Bewohner, die unsere Autoren für diese Ausgabe interviewten, sind auf eine trotzige Weise stolz darauf. Die Ateliergemeinschaft Krake etwa, die nicht nur Energieversorger mit Werbematerial ausstattet, sondern auch Punkbands betreut (S. 22).
Oder das Ehepaar Lösche-Hartlage, das aus der Sammelleidenschaft des einen das Geschäftsmodell der anderen formte (S. 24). Stolz auf seine Arbeit ist auch Markus Becker. Er arbeitet als Präparator im Zentrum für Pathologie. Warum er das macht und ob seine Arbeit den Genuss von Erdbeeren beeinflusst, lesen Sie auf Seite 8.
Diese Ausgabe entstand übrigens in Zusammenarbeit mit der Hochschule Bremen: Studierende des Fachs Internationale Journalistik schrieben und fotografierten die Geschichten in diesem Heft. Es war eine bereichernde Erfahrung für alle – und wir hoffen, auch für Sie, die Leserinnen und Leser. Aber urteilen Sie selbst!
Viel Spaß beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 Der Präparator
Besuch bei einem, für den der Tod Arbeitsalltag ist
Die Zeitschrift der Straße hat in den letzten zwölf Monaten eine Entwicklung durchlaufen, die wir ihr (und uns selbst) vor einem Jahr nicht zugetraut hätten. Wenn Sie die folgende Aufzählung lesen, dann denken Sie daran, dass die Zeitschrift der Straße praktisch komplett von Ehrenamtlichen, Studierenden, Lehrenden und Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten getragen wird und über keine Angestellten verfügt.
Was also ist in den letzten zwölf Monaten geschehen?
Neues Vertriebs- und Redaktionsbüro (Dezember 2014): Umzug vom Lloydhof in die Nähe des Bremer Hauptbahnhofs, wo es nun Teil eines größeren „Servicezentrums“ für wohnungslose Menschen ist.
Neue Redaktionsleitung (Januar 2015): Tanja Krämer und Philipp Jarke lösen Armin Simon ab, der die Zeitschrift seit ihrer Gründung journalistisch entwickelt und betreut hat und nun nach Süddeutschland umzieht.
Neues Design (Januar 2015): Die Zeitschrift erhält ein fotografisches Cover, ein Logo, ein neues Layout mit neuen Schriften und einige neue Rubriken. Das Design ist aus einem Gestaltungswettbewerb hervorgegangen.
Höhere Erscheinungsfrequenz (ab Februar 2015): Zehn statt der früheren sechs Ausgaben pro Jahr ermöglichen es unseren Straßenverkäufer:nnen, ihren Stammkund:innen öfter etwas Neues anzubieten.
Neue Verkäufer-Ausstattung (Mai 2015): Rot leuchten sie, wenn sie ihre neuen Mützen und Westen tragen, unsere Straßenverkäufer:innen. Dazu gibt es noch eine passende schwarze Umhängetasche.
Neue Online-Strategie (Oktober 2015): Während die gedruckte Zeitschrift weiterhin Bremer Straßen und Orte behandelt, thematisieren unsere Website und unser Facebook-Auftritt stärker soziale Probleme und unsere Sozial- und Bildungsarbeit.
Neues Webdesign (November 2015): Nachdem im Februar die alte, etwas chaotische Website nur an das neue Design angepasst worden war, machte die neue Online-Strategie eine komplette Überarbeitung erforderlich. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, finden wir.
Twitter-Kanal (Dezember 2015): Um Kurzmeldungen zu veröffentlichen und ggf. live berichten zu können, twittern wir nun unter @ZdStrasse. Die Tweets werden auch auf unserer Homepage angezeigt.
Seit Herbstbeginn hat der Straßenverkauf spürbar zugenommen. Die Ausgaben von September (#31 WESTERDEICH), Oktober (#32 GETEVIERTEL) und November (#33 FALKENSTRASSE) waren nach 3-4 Wochen ausverkauft. Auch die aktuelle Ausgabe (#34 FLUGHAFEN) läuft wieder sehr gut. Uns freut besonders, dass unsere Verkäufer:innen auf diese Weise in der nasskalten Jahreszeit mehr Geld in der Tasche haben.
Seit Anfang 2011 haben sich über 700 Personen für den Straßenverkauf registrieren lassen. Die Zahl der tatsächlich Aktiven ist im Jahresverlauf von 30-35 auf derzeit ca. 50 gestiegen, was den steigenden Absatz teilweise erklärt. Sie werden von einem guten Dutzend Ehrenamtlicher im Vertrieb unterstützt. Und rund 200 Studierende von fünf Hochschulen haben sich bis heute im Lernprojekt Zeitschrift der Straße engagiert.
Berichtenswert ist weiterhin, dass wir Aktion Mensch für die Anschubfinanzierung der Uni der Straße gewinnen konnten, die wir im April 2016 starten wollen; und dass wir mit der Zeitschrift der Straße das Finale der Google Impact Challenge erreicht haben, das im Februar 2016 ausgetragen wird.
Keine üble Bilanz, oder? Wenn Sie nun beeindruckt sind und das Gefühl haben, eine so tolle Sache unterstützen zu wollen, besuchen Sie uns doch auf der Spendenplattform betterplace.org und helfen Sie uns mit Ihrer Spende, auch weiterhin Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten zu helfen.
Der Flughafen ist typisch Bremen: Er hat eine lange Tradition und gehört zu den zehn wichtigsten Luftverkehrszentren des Landes. Im Schnitt starten oder landen hier täglich etwa 7.500 Menschen, 25.000 Arbeitsplätze hängen von dem gut zwei Kilometer langen Stück Asphalt auf dem Neuenlander Feld ab. Und trotzdem wirkt der Flughafen bescheiden und fast gemütlich. Bremisch eben. Grund genug für unsere Fotografen und Autoren, sich am südlichen Ende der Straßenbahnlinie 6 umzuschauen.
Sie trafen den Vorsitzenden des Bremer Vereins für Luftfahrt (BVL). Der Verein hat den Bremer Flughafen vor über einem Jahrhundert gegründet. Beim BVL ist es eine Frage der Ehre, ohne viel technischen Schnickschnack auf Sicht zu fliegen (S. 8).
Für die Bremer ist ihr Flughafen ein Tor zur Welt, über ihn kommt aber auch allerhand illegales Zeug in die Stadt, gut versteckt in Koffern und Kisten. Vieles passiert den Zoll wohl unbemerkt, aber hin und wieder fliegen die Schmuggler auf und ihre Ware landet in der Asservatenkammer. Unsere Fotografen durften einen Blick hineinwerfen und haben schöne Bilder von zum Teil abscheulichen Dingen mitgebracht (S. 12).
Das Flugfeld ist eine der größten Grünflächen der Stadt und dadurch Lebensraum für erstaunlich viele Lebewesen. Mit welchen Tricks die Tiere von der Startbahn ferngehalten werden, lesen Sie ab S. 20.
Und schließlich erzählt uns ein Jumbo-Kapitän, warum er seine Profession einem Zufall verdankt und wie sich der Beruf des Piloten seit den frühen 1970er-Jahren verändert hat.
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
#34 FLUGHAFEN – Viele Flüchtlinge kommen. Einige müssen wieder gehen – ob sie wollen oder nicht
Es sind Bilder, die kaum jemanden unberührt lassen in diesen Tagen: Menschen, die durchnässt und durchgefroren aus heillos überfüllten Booten klettern, mit kaum etwas im Gepäck als dem nackten Leben. Menschen, die bei Nacht und Nebel an Grenzzäunen entlangstolpern, in der Hoffnung, an einem sicheren Ort ein neues Leben zu beginnen. Menschen, die auch hier in Bremen ankommen, mit großen Ängsten und noch größeren Hoffnungen. 3.611 Asylanträge wurden in diesem Jahr bis Ende September allein in Bremen gestellt, drei Mal so viele wie im gesamten Jahr 2013. Viele der Menschen werden vorläufig bleiben können. Einige jedoch nicht. Sie werden wieder abgeschoben – oder reisen, wie es die Behörden formulieren, „freiwillig“ aus. Diese sogenannten freiwilligen Rückführungen geschehen zum Teil mit erheblichem Druck auf die Geflüchteten. „Verlängerungen von Duldungen werden vermehrt an die Bedingung geknüpft, Bestätigungen über Beratungsgespräche vorzulegen. Ihnen wird immer wieder nahegelegt, dass es besser wäre, das Land zu verlassen“, erklärt Marc Milis vom Flüchtlingsrat.
Verschärfte Abschieberegeln und ihre Auswirkungen auf Flüchtlinge aus dem Westbalkan
Seit dem ersten November gilt zudem ein neuer Asylkompromiss von Bund und Ländern. Demnach sollen nun insbesondere Flüchtlinge aus Albanien, Kosovo und Montenegro schneller abgeschoben werden. Viele von ihnen sind Roma. Bislang hatten die Bundesländer hier einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser gilt künftig nicht mehr. Wer eine Aufforderung zur „freiwilligen Ausreise“ verstreichen lässt, muss ohne Ankündigung abgeschoben – und nicht wie bisher eine Woche vor der Abreise informiert werden. Die Polizei muss die Menschen nun ohne Vorwarnung abholen, wenn die freiwillige Ausreise verweigert wurde. Für die Flüchtlinge sei dies oft traumatisierend, schilderte Gundula Oerter von der Flüchtlingsinitiative kürzlich der taz.
Eine Frage der Haltung der Innenbehörde
Noch schiebt Bremen im bundesweiten Vergleich recht wenige Flüchtlinge ab. Tatsächlich wurden 2013 lediglich fünf Personen über den Bremer Flughafen in ihr Heimatland gebracht, 2014 waren es zwei, in diesem Jahr bislang ebenfalls zwei. Die Hansestadt liegt damit im bundesweiten Vergleich auf einem der untersten Ränge – weit hinter Städten wie Frankfurt am Main oder Düsseldorf, die im vergangenen Jahr mehrere Tausend Flüchtlinge von ihren Flughäfen aus abgeschoben haben. „Die geringe Zahl der Abschiebungen ist einer Haltung der Bremer Innenbehörde zuzuschreiben“, sagt Marc Milis.
Bremens Rückführungen und die Gründe für die Nutzung des Hamburger Flughafens
Die Zahlen trügen jedoch auch ein wenig. Denn das Bundesland Bremen schiebt sowohl über den eigenen als auch über den Hamburger Flughafen ab. Zudem können Menschen auch auf dem Landweg in ihre Herkunftsorte reisen. Informationen dazu, wie viele Menschen über Hamburg ausreisen mussten, will die Sprecherin des Senators für Inneres, Rose Gerdts-Schiffler, „aufgrund des derzeitigen Arbeitsvolumens der Ausländerbehörden“ nicht ermitteln. Die Gründe aber legt sie gern offen: Zum einen gebe es vom Hamburger Flughafen aus Direktflüge, die in Bremen nicht angeboten würden. Außerdem könnten Sicherheitsbegleitungen von der Hamburger Bundespolizei besser organisiert werden. Und zu guter Letzt seien die Kosten niedriger: So sei eine Rückkehr von Begleitkräften noch am selben Tag möglich, während beim gleichen Routing von Bremen aus aufgrund späterer Flugzeiten eine Übernachtung vor Ort mit Hotelkosten notwendig wäre.