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#101 Fleetstrasse

EDITORIAL: Ein Tag im Grünen

Liebe Leser:innen,

von Katzenjammer kann bei uns in der Redaktion auch am Morgen nach der 100. Ausgabe keine Rede sein. Weil wir aber trotzdem dringend mal an die frische Luft wollten, haben wir uns für dieses 101. Heft in Richtung Stadtrand aufgemacht: ins Waller Fleet nämlich, zu den Kleingärten im Grünen.

Mit tatkräftiger Unterstützung unseres Begleitseminars an der Uni Bremen haben wir hier für eine unserer am wenigsten urbanen Ausgaben recherchiert – und dabei eine Menge gelernt. Im Fleetgarten zum Beispiel haben wir Menschen besucht, die hier unter fachkundiger Anleitung nachhaltiges Gärtnern ausprobieren (S. 18). Gleich um die Ecke steht eine Kirche, die heute als Wohnhaus dient (S. 22) – wenngleich als extravagantes. Außerdem haben wir ein waschechtes Kaisenhaus besucht (S. 8), das heute als Museum dient und von der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg berichtet. Und zu guter Letzt waren wir auch noch etwas weiter draußen: beim „Metalhenge“ (S. 12), das als Aussichtspunkt und Kunstwerk neue Perspektiven auf die Stadt eröffnet.

Wir hoffen, Sie haben beim Lesen mindestens so viel Spaß wie wir beim Schreiben. Und vielleicht lockt Sie das Heft ja auch selbst ein bisschen raus aus der Stadt – und rein in die herbstliche Natur. Aber auch, wenn Sie zu Hause auf dem Sofa bleiben, wünschen wir Ihnen wie immer eine spannende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Begehbare Bremensie

Kaisenhäuser waren eine Notlösung gegen die Wohnungsnot nach dem Krieg. Heute sind sie Geschichte

12 – Kunst auf einem Haufen Müll

Bildstrecke

18 – Schaufel für die Zukunft

Im Fleetgarten lässt sich nachhaltiges Gärtnern in der Praxis erlernen

22 – Da sucht man einen Garten – und bekommt eine Kirche dazu

Bremen hat eine bundesweit einmalige Parzellenkirche

28 – „Ich lass mir nicht mehr alles gefallen“

Unsere Verkäuferin Gabi im Porträt

#99 Arster Heerstrasse

EDITORIAL: 100 Meter vor Niedersachsen

Liebe Leser:innen,

es ist schon irgendwie komisch, wie wenig man von Arsten so zu sehen bekommt. Vor allem, weil das gar nicht mal nur für (Innen-)Stadtmenschen gilt, deren Bremen sich auf Zentrum, Viertel, Neustadt und Schwachhausen beschränkt. Nein, auch die zigtausend Pendler:innen aus dem südlichen Umland bekommen von Arsten nicht viel mit, obwohl der Ortsteil an der südlichen Landesgrenze ja so was wie der Eingang zur Stadt sein sollte. Die Arster Heerstraße, mit der wir uns in dieser Ausgabe der Zeitschrift der Straße beschäftigen, sieht auch genau so aus: Immer ländlicher wirkt die lange Erschließungsstraße, bis erste Bauernhöfe am Wegesrand auftauchen – und man schließlich mitten zwischen Korn und Raps im Feld steht.

Dort, von Niedersachsen aus betrachtet, wird dann auch schlagartig klar, warum der alte Hauptzugangsweg heute so abgeschieden wirkt, fast wie eine Sackgasse. Denn wo hier einst die Ochtum die Grenze markierte, tut das heute faktisch die Autobahn. Und die alte Heerstraße ist kaum mehr als eine unscheinbare Abzweigung vor der Abfahrt Bremen-Arsten und dem Zubringer, der einen in die Neustadt bringt, zum Flughafen, zu den Brücken über die Weser … aber eben nicht nach Arsten.

Umso spannender war es für uns, diese fast schon ländliche Gegend kennenzulernen, und die Menschen, die hier einen Freizeitverein gegründet haben (Seite 8), ein eigenes Museum über ihren Ortsteil betreiben (Seite 22) – oder Autos verkaufen, die auch als Zeitmaschinen funktionieren (Seite 14). Also: Herzlich willkommen in Arsten. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Boule ist nur der Anfang

Ein Verein bringt Menschen in Arsten zusammen

12 – In der Mitte des Dorfes

Nach 130 Jahren schließt das Gasthaus „Zur Börse“

14 – Monte Carlo an der Ochtum

Bildstrecke

20 – Was von Bello übrig bleibt

Wohin mit den sterblichen Überresten von Haustieren?

22 – Im Rhythmus der Steine

Ein kleines Museum erzählt in Arsten von den Steinsetzern

28 – „Wenn man die Sprache nicht spricht, ist es sehr schwer“

Petre und seine Familie verkaufen die Zeitschrift in Bremerhaven

INFLATIONSAUSGLEICH FÜR STRASSENVERKÄUFER:INNEN

Diese Woche ist unsere 100. Ausgabe erschienen! Es macht uns sehr stolz, dass wir soweit gekommen sind trotz aller Widrigkeiten entlang des Weges, wie zwei Beinahe-Pleiten 2012 und 2014, einem Neustart 2015 und diversen Corona-Lockdowns unseres Vertriebsbüros 2020 und 2021.

Doch zum Feiern ist uns derzeit nicht zumute. Denn unsere Straßenverkäufer:innen sind den stark gestiegenen Preisen vor allem von Lebensmitteln hilflos ausgeliefert. Maßnahmen der Bundesregierung zur Entlastung der Haushalte durch 9-Euro-Ticket, Trankrabatt oder Home-Office-Pauschale kommen bei ihnen nicht an.

Gleichzeitig merken wir an unseren Absatzzahlen, dass die Menschen angesichts der Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung ihr Geld zusammenhalten. Die Folge ist, dass die Straßenverkäufer:innen nicht nur mit steigenden Lebenshaltungskosten, sondern auch mit sinkenden Verkaufserlösen zu kämpfen haben.

Da wir eine Preiserhöhung der Zeitschrift der Straße vorläufig vermeiden möchten, um den Absatz nicht zusätzlich zu bremsen, haben wir uns entschieden, kurzfristig den Verkäuferanteil am Verkaufspreis von 2,80 Euro von 1,40 Euro auf 1,80 Euro anzuheben. Dies ist auf dem Cover der 100. Ausgabe erkennbar.

Für die Verkäufer:innen ist dieser „Inflationsausgleich“ eine gute Nachricht und hoffentlich ein Anreiz, engagiert zu verkaufen. Allerdings haben wir das Problem damit von der Verkaufsseite auf die Produktionsseite verlagert. Ein Euro pro Heft reicht nicht aus, um die Herstellkosten zu decken, zumal die Papierpreise in den letzten zwei Jahren infolge der Holzknappheit stark gestiegen sind.

Ohne ein Maßnahmenbündel aus Preiserhöhung, Kostensenkung, Anpassung des Geschäftsmodells der Zeitschrift der Straße und/oder ganz neuer Einnahmequellen werden wir nicht ewig durchhalten. Mit Ihrer Spende können Sie uns aber Zeit verschaffen, die wir für eine langfristige Problemlösung brauchen

Zum Spenden können Sie:

Verein für Innere Mission in Bremen
Bank: Sparkasse Bremen
IBAN: DE22 2905 0101 0001 0777 00
BIC: SBREDE22XXX
Verwendungszweck: Zeitschrift der Straße

Vielen Dank, dass Sie uns helfen zu helfen!

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Text: Michael Vogel

bischofsnadel

ZWISCHEN DEN WELTEN

#98 BISCHOFSNADEL – Die Bischofsnadel ist Tunnel, Durchgangsweg sowie Park- und Stadteingang. Und manchmal vergisst man bei all diesen Übergängen fast, dass sie auch selbst ein Ort ist. Nur eben einer dazwischen.

Ein leichter Wind weht durch die Bäume in den Wallanlagen: ein angenehmer Wind an einem der ersten milden Frühlingstage in diesem Jahr. Die Sonne wirft ihre Strahlen auf die Wasserflächen und sorgt für ein stimmungsvolles Glitzern. An den Bäumen sind erste Knospen zu erkennen, die zusehends das winterliche Grau verdrängen. Dazu sorgen die singenden Vögel für eine liebliche Idylle mitten im Herzen der Stadt. Auf dem Weg entlang der Bischofsnadel begegnen mir viele Men­schen, die genau diese Entspannung von der Hektik des Alltags zu suchen schei­nen: Spaziergänger:innen, die Hand in Hand am Wasser schlendern, spie­lende Kinder, oder die vielen Fahrräder – sie alle scheinen in Ruhe das Wetter zu genießen. Auch unter den großen roten Sonnenschirmen an der Unterführung am Wall haben viele Menschen Platz genommen und genießen, in Gespräche vertieft, Kaffee, Pizza oder andere Kleinigkeiten, die dort angeboten werden. Es dauert nicht lange an diesem Ort und auch ich verfalle in eine entspannte Grundstimmung. Bis auf wenige vorbeifahrende Autos und gelegentliche Polizeisirenen könnte man fast vergessen, sich mitten in Bremen nahe Hauptbahnhof und Altstadt zu befinden.

Zwischen Café und Pizzeria offenbart sich eine kurze Unterführung, die eine schnelle Verbindung in die Innenstadt schafft, ohne die Straße am Wall überqueren zu müssen. Nach dem hellen Tageslicht in den Wallanlagen wirkt der Tunnel dun­kel. Gelbes, spärliches Licht beleuchtet die kleinen Geschäfte, die sich dicht an dicht reihen. Viele Menschen sind hier unterwegs. Einige besuchen Kiosk, Schnei­derei oder Schuster, die meisten aber nutzen die Unterführung nur als schnellen Durchgang. Die Verweilstimmung in dem engen, hallenden Tunnel ist verflogen. Kaum jemand hält sich hier länger auf. Am Ende führen 15 Stufen wieder aus der Unterführung heraus.

Tunnel, Park und Häuserschlucht: Die Bischofsnadel ist alles zugleich.

Zurück im Tageslicht stehe ich in einer kurzen Gasse, die zur Innenstadt führt. Durch die fünfstöckigen Gebäude auf beiden Seiten ist der Weg größtenteils in Schatten gehüllt. Rechts von mir wartet eine kurze Schlange darauf, eine kleine Bäckerei betreten zu können. Davor stehen einige Menschen an Stehtischen und trinken Kaffee. Gegenüber tritt eine Person aus einem Laden für Fischspezialitäten und verlässt die Gasse in Richtung Altstadt. Es herrscht reges Treiben. Der Blick fällt geradeaus direkt auf den Dom, der jedoch teilweise von Büro- und Geschäfts­gebäuden verdeckt wird. Manche Gebäude wirken wie verblichen, verlassen und wenig einladend. Mit ihren sandsteinfarbenen und grauen Fassaden verschmelzen sie fast nahtlos mit den Straßen und Wegen ringsherum. Kaum jemand schenkt diesen Gebäuden echte Aufmerksamkeit. Sie wirken belanglos und das Flair der Altstadt weit entfernt.

Anders sieht es gleich daneben aus. Hier erstrecken sich viele bunte Wagen des Woche­nmarktes mit ihren verschiedenen Angeboten. Das Ensemble wirkt mit den Menschen dazwischen auf eine sympathische Weise unaufgeräumt. Davor befindet sich ein kleiner Platz mit eckigem Glasquader, in dem sich Café und Bar befinden. Überspannt wird das Ganze von einem riesigen

Glasdach. Mit dem historischen Rathausgebäude und Dom im Hintergrund könnte der Kontrast kaum größer sein. Während ich auf die Menschen auf dem Wochen­markt oder im Café blicke, fahren im Minutentakt Busse und Bahnen an mir vorbei. Schnell eilen einige noch zur Haltestelle, um ihre Bahn zu bekommen, bevor sich die Türen mit lautem Piepen schließen. Der Alltag scheint die Menschen hier zu bestimmen: Erledigungen machen oder von einem Ort zum anderen gelangen. Obwohl sich auch hier Menschen treffen und miteinander reden, strahlt dieser Ort für mich Anonymität aus. Genauso schnell, wie viele gekommen sind, sind sie auch wieder verschwunden – einige in die Unterführung in Richtung Wall, andere weiter in Richtung Innenstadt.

Text:
Joshua Köhler
Foto:
Beate C. Köhler

#98 Bischofsnadel

EDITORIAL: Die mit dem Tunnel

Liebe Leser:innen,

ein bisschen Angst hatten wir vor dieser Ausgabe ja ehrlich gesagt schon. Schon als die Straße in der Redaktionskonferenz zum ersten Mal auf dem Tisch lag, war die Stimmung nicht gerade euphorisch. „Ist das nicht dieser Tunnel unterm Wall?“, meinte die eine Kollegin. „Wie viele Häuser gibt’s da?“, der andere, „vier?“ Und auch wenn es natürlich doch ein paar mehr sind, ist diese Straße anders als viele andere, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Die Bischofsnadel ist halb Park, halb Innenstadt. Sie hat diesen sonderbaren Tunnel, der auf seine Art eher Hindernis als Abkürzung zu sein scheint. Und für die allermeisten Bremer:innen ist sie vor allem Durchgangsstation. Tausende Menschen kommen hier durch, kaum einer bleibt da. Und wahrscheinlich ahnen Sie es schon: Gerade weil die Bischofsnadel so sonderbar ist, haben wir ihr diese Ausgabe gewidmet.

Hier im Tunnel haben wir die Kunstgalerie „Tunnelblick“ besucht, die von Künstler:innen gegründet wurde, um ihre Arbeiten selbst und ohne profitorientierte Händler:innen verkaufen zu können (Seite 20). Und wo wir schon bei der Kunst waren, haben wir draußen an der frischen Luft Bernd Altensteins Skulptur, „Das Ende“ in den Blick genommen (Seite 12). Wir haben gelernt, dass man auch mit Modekollektionen die Welt besser machen kann (Seite 8), und wir haben uns die Zeit genommen, auch die Straße selbst – diesen Ort des Übergangs – auf uns wirken zu lassen (Seite 24).

Wir waren gerne in der kleinen Straße mit dem Tunnel und hoffen, Sie haben nun auch viel Spaß daran und eine spannende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Mode der Straße

Mit Klamotten soll Geld für Obdachlose gesammelt werden

12 – Das Ende am Anfang

Bernd Altensteins Skulptur am Rande der Bischofsnadel irritiert. Und das soll sie auch

14 – Nur auf der Durchreise

Bildstrecke

20 – „Einfach mal Kunst kaufen“

In der Galerie „Tunnelblick“ verkaufen Künstler:innen ihre Arbeiten einfach selbst

Ob die Bischofsnadel nun Tunnel, Ein- oder Ausgang ist: Sie ist auf jeden Fall ein Ort der Kontraste

28 – „Kommt drauf an, was man daraus macht“

Helmut hat als Zeitungsverkäufer angefangen, um für seinen Hund zu sorgen

MISSION: BAGEL

#97 JÜDISCHE GEMEINDE – Zu den Aufgaben von Rabbinern wie Natanael Teitelbaum gehört, die Einhaltung der Regeln in der koscheren Küche zu kontrollieren. Wir begleiten ihn zu Bäckermeister Holger Groth – mitten in der Nacht.

Drei Uhr, das ist eine unwirkliche Zeit. Zwischen gestern und morgen, wache ich wie gerädert nach wenigen Stunden Schlaf auf. Zwei Wecker klingeln im Fünf-Minuten-Takt, die Snooze-Taste hat keine Chance. Auf keinen Fall will ich mein Date mit dem Rabbi verpassen: Um Viertel vor vier sind wir verabredet an diesem unwirtlichen Freitagmorgen im April.

Überpünktlich stehe ich schließlich in der Kälte vor der Bäckerei am Sielwall, es schneit sachte, in der Ferne grölen Besoffene am Eck, von denen man hofft, sie blieben, wo sie sind. Dann, nach endlosen Minuten in der Kälte, blitzen zwei Scheinwerfer auf, ein Mercedes-Bus nimmt Kurs auf die Bäckerei. „Sie haben ja Arbeitszeiten“, sage ich matt, als Rabbiner Natanel Teitelbaum aus dem Auto steigt. Er lacht freundlich und zuckt mit den Schultern. Was muss, das muss.

Die Hintertür steht offen an diesem dunklen Freitagmorgen, wir treten ein in eine arbeitsame, aber warme Welt: Holger Groth, der Bäckermeister, glasiert gerade Back­waren mit einem Pinsel auf einem großen Blech.

Die Begrüßung ist freundlich, fast nebensächlich, wie selbstverständlich. Über­raschung jedenfalls ist Groth nicht anzumerken. „Ich hab’ nix zu verbergen“, sagt er. Er macht seinen Job. Die Bagels sind schon fertig und kühlen gerade ab. Die Challot sind geflochten und mit Mohn bestreut: Die Hefezöpfe warten auf den Ofen, sie werden für Schabbat gebraucht. Der Rabbi nimmt einen Rundum-Blick. Begutachtet die Challot. Schaut auf den Ofen. Scheint zufrieden. Sie kennen sich schon lange, der Rabbiner und der Bäcker. „Wir sind nicht nur Partner, sondern auch Freunde geworden“, sagt der Rabbi. „Oder?“ – „Na logo!“, ruft Holger Groth, der unterdessen schon das nächste Blech für den Ofen vorbereitet hat. Es ist ein ungleiches Freundespaar: Hier der ehrwürdige Rabbiner mit seiner Kippa, dort der tätowierte Norddeutsche mit seinem Schnack, nicht minder standesbewusst: „Bäckermeister der Zunft!“, sagt er, „nicht, dass Sie aus mir noch einen Friseur machen!“

Backt koscher für die jüdische Gemeinde: Bäckermeister Holger Groth.

Ursprünglich hatte Groth zwei Filialen, eine ganz in der Nähe der jüdischen Gemeinde in der Schwachhauser Heerstraße. Seit ein Bäcker gekündigt hat, lohnte das nicht mehr: „Wir sind jetzt nur noch zwei Bäcker, damit kannst du keine zwei Filialen betreiben“, sagt er. Also konzentriert er sich jetzt ganz auf seine Bäcke­rei im Viertel. Auch wenn die Wege nun weiter sind, sind die jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder weiterhin treue Kunden.

„Koscher, das hat nicht nur mit den Zutaten zu tun. Das hat auch mit Vertrauen zu tun“, sagt Rabbiner Natanel Teitelbaum. Groth’s Backstube verkauft koschere Waren, er ist hier, um alles zu kontrollieren. Seit wann sie zusammenarbeiten? „Ich hab’ mir das nicht aufgeschrieben“, sagt Holger Groth, der Pragmatiker, wäh­rend er das nächste Blech in den Ofen schiebt.

Die jüdische Gemeinde ist auf ihn zugekommen, vor einigen Jahren. Groth begann zunächst mit Brot und Brötchen, dann habe sich das Sorti­ment sukzessive erwei­tert. Gemeinde­mit­glieder bestellen dort Backwaren für Schabbat, aber auch für Geburtstage oder andere Feierlichkeiten. Die Gemeinde selbst bestellt belegte Brötchen oder Kuchen für Veranstaltungen.

Wer es ernst meint mit den jüdischen Speisevorschriften, hat es hier in der Dia­spora nicht so leicht. Vieles kann man online bestellen, sicher. Aber frische Backwaren etwa sind schwer zu bekommen, auch wenn es inzwischen weitere Interessenten für die Koscher-Zertifizierung in Bremen gibt.

Und koscher zu essen, das ist für viele der orthodoxen Mitglieder essenziell. Koscher, das bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem: Parve, ohne Milch. Denn Milch und Fleisch vertragen sich nicht in der koscheren Küche. Wird ein Fleisch­gericht serviert und soll danach ein süßer Nachtisch gereicht werden, muss er ohne Milch sein. Zum Beispiel ein Berliner: Der Teig muss ohne Milch sein, und auch das Fett in der Fritteuse muss im Zweifel getauscht werden: pflanzliches Fett statt tierischem.

Für Groth bedeutet das alles in der Praxis: Ein Extrafach im Ofen, Extrableche, keine Milch in Teig und Glasur und bestimmte Farbstoffe und Emulgatoren auch nicht. Und: Eine Zeitschaltuhr. Denn eigentlich muss – streng genommen – ein Jude den Ofen an- und ausschalten. Weil der Rabbiner verständlicherweise nicht ständig in der Backstube sein kann, ist dieses Hilfsmittel unerlässlich.

Auch bestimmte Farbstoffe sind tabu: Karmin etwa, das aus Läuseblut gewonnen wird. Denn Läuse sind nicht koscher. „Und selbst, wenn sie koscher wären, würde ich sie nicht essen“, sagt der Rabbiner: „Ich meine: Läuse!“ Er schüttelt sich und lacht.

Sie sind ein eingespieltes Team, der Rabbi und der Bäcker. Zu Pessach, während dem die Juden kein gesäuertes Brot essen, sagt Groth scherzhaft: „Da hab’ ich eine Woche Ruhe vor Euch!“ In Wahrheit ist die Situation eine gute für beide Seiten: Die Gemeinde­mit­glieder haben eine zertifizierte Anlaufstelle mit koscheren Backwaren, in der sie bedenkenlos einkaufen und bestellen können, der Bäcker garantierte Abnahmen für seine Produkte. Beide Seiten: zufrieden miteinander.

Koscher hat nicht nur mit den Zutaten zu tun, sagt der Rabbiner – sondern auch mit Vertrauen.

Auch Sonderbestellungen sind kein Problem für Bäcker Groth. Vor einiger Zeit etwa brauchte Rabbiner Teitel­baum Challot ohne Mohn: „Ich wollte jemanden im Gefängnis besuchen“, erzählt er, und dem Inhaftierten – kein Bremer Gemeinde­mitglied, wie er betont – zum Schabbat Challot mitbringen. Allerdings ist Mohn im Gefängnis nicht erlaubt, wie er auf Nachfrage erstaunt erfuhr. So buk Bäcker Groth einen Hefezopf ohne Mohn fürs Gefängnis – und der Häftling hatte dank Groth und Teitelbaum einen Hauch von Schabbat in seiner mutmaßlichen Tristesse.

Aber woher weiß man eigentlich als Rabbiner, auf was man alles achten muss? Immerhin ist ein Rabbiner ein Religionsgelehrter und kein Ernährungs­wissen­schaftler, und trotz fundierter Ausbildung bleiben vielleicht praktische Fragen offen. Teitelbaum hat seine Mentoren zu solchen Besuchen begleitet: „Ein verant­wort­licher Rabbiner wird nie allein entscheiden“, sagt er. Manche Menschen dächten, ein Rabbiner, der um Rat frage, sei schwach: „Das Gegenteil ist der Fall.“

Inzwischen weiß er längst, worauf es bei den Kontrollen ankommt. Wie oft er sie durchführt, will er nicht sagen: „Sonst weiß er Bescheid.“ Er, Bäcker Groth, scheint sich indessen recht wenig um die Kontrollen zu scheren. Sein Gewissen ist rein, er backt, wie es sich gehört, für die reguläre Kundschaft ebenso wie für jene, die auf koschere Backwaren Wert legen. Als vorerst alles im Ofen und für den Moment nichts weiter zu tun ist, atmet er kurz durch: „Jetzt ist Zeit für eine Ziga­rette!“ Der Rabbiner begleitet ihn nach draußen, vor der Backstube reden sie im Morgengrauen über dies und das.

Nach der kurzen Pause geht es für Holger Groth weiter, die Challots sind dran: Am Freitagabend, also in wenigen Stunden, beginnt der Schabbat. Der Rabbiner hat seine Kontrolle beendet, er wird später wiederkommen und einige Hefezöpfe abholen. „Willst jetzt noch was mitnehmen?“, fragt der Bäcker. Rabbiner Teitelbaum lehnt ab und verweist scherzhaft auf seinen Bauch. „Ach was“, sagt Bäcker Groth, „das ist die Wohlfühlzone! Frauen lieben das!“ Der Rabbiner ist nicht überzeugt. „Ich bringe das nächste Mal meine Frau mit, dann kannst du ihr das noch mal sagen“, sagt er und lacht.

Text und Fotos: Karolina Meyer-Schilf

#97 Jüdische Gemeinde

EDITORIAL: Mehr Alltag wagen

Liebe Leser:innen,

Sie haben natürlich recht: Wir haben ein bisschen gemogelt und die jüdische Gemeinde ist in Wirklichkeit gar keine Straße. Dass sie aber ein bisschen so funktioniert, haben wir spätestens bei der Recherche für diese Ausgabe gelernt: Sie ist Lebensraum für eine Gruppe von Menschen, die sie miteinander verbindet. Sie hat ihre Zentren wie etwa die Synagoge, in deren Inneres wir einen neugierigen Blick werfen durften (Seite 14). Sie hat natürlich auch ihre informelleren und alltäglicheren Treffpunkte wie das Bistro Hamitbach, dessen Eigentümerin wir kennengelernt haben (Seite 8). Die Gemeinde hat auch ihre eigenen Verkehrswege und -formen, ihre Regeln, für deren Einhaltung der Rabbiner zuständig ist. Wir wollten wissen, wie so eine „Koscherkontrolle“ abläuft, und haben uns des Nachts mit ihm auf den Weg gemacht (Seite 10). Und natürlich hat auch diese Straße, die keine ist, ihren Anteil an der Stadtgeschichte (Seite 22).

Aber klar: Diese Ähnlichkeiten waren nicht der eigentliche Grund dafür, dass wir uns an eine Zeitschrift der Straße über die jüdische Gemeinde gesetzt haben. Es war vielmehr unsere Neugier auf das Leben hinter den Fassaden – auf ein Stück Bremen, das bald 80 Jahre nach der Shoa noch immer von der Polizei beschützt werden muss. Und auf einen Alltag, den wahnhafte AntisemitInnen unterschiedlichster Couleur partout nicht zur Normalität werden lassen wollen.

Wir sind froh über diesen Einblick in ein gar nicht mal so kleines – und stetig wachsendes – Stück Bremen. Und wir freuen uns, Sie nun daran teilhaben zu lassen. Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß und eine spannende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – „Mir ist die Tradition wichtiger als die Einhaltung aller Regeln“

Das Bistro Hamitbach bringt einen Hauch Israel nach Bremen

Wir begleiten den Rabbiner auf seiner nächtlichen Koscherkontrolle bei Bäcker Groth im Viertel

14 – Hinter verschlossenen Türen

Bildstrecke

20 – Purim Sameach!

Purim ist vergleichbar mit Karneval und damit das lustigste Fest des Judentums

22 – Grabungen in Bremens Sportgeschichte

Werder-Fans erinnern an die Geschichte jüdischen Sports in Bremen

26 – „Ich möchte wieder tanzen“

Unsere Verkäuferin Nicole sagt, ihr helfe die Zeitschrift dabei, ehrlich zu überleben

28 – Wir nehmen Abschied

Todesanzeigen

KÖCHIN DURCH ZUFALL

#96 KONSUL-SMIDT-STRASSE – Evrim Arslan wollte ein kleines Restaurant, so was wie einen Tante-Emma-Laden ohne viel Stress und Hype. Geklappt hat immerhin das Erstere

Im Laden von Evrim Arslan trifft traditionelle türkische Küche auf moderne Einflüsse. So findet man zum Beispiel einen Spinatsalat mit Mandeln und Datteln auf der Karte: eine Kombination, die zwar ungewöhnlich klingt, aber wirklich extrem gut funktioniert. Evrim ist mit ihrem Laden vor gut fünf Jahren in die Konsul-Smidt-Straße gezogen. Wir haben sie dort besucht.

Olivenöl, Zitrone, Knoblauch, Kräuter. Das sind die Gerüche, die einem als Erstes in die Nase steigen, wenn man Evrims Laden „Meze by Evrim“ betritt. Die Inneneinrichtung ist, genau wie das Essen, ein Mix aus Tradition und Modernität. Und was den Laden noch einmal besonders abhebt, ist die spezielle Art von Essen: die Meze. Das sind kleine Portionen unterschiedlicher Vorspeisen, vergleichbar mit spanischen Tapas. So kann man sich mittags seinen eigenen Teller aus verschiedenen, regelmäßig wechselnden Meze zusammenstellen und bezahlt dabei nach Anzahl der Portionen. Und: Wer seine eigene Verpackung mitbringt, bekommt eine Meze umsonst.

Die Chefin bei der Arbeit: Meze für den Mittagstisch.

Das kommt besonders denen entgegen, die sich hier in ihrer Pause ihr Mittagessen holen. Denn wer aufgrund der Lage davon ausgeht, dass bei Evrim nur schicke Geschäftsleute essen, der irrt sich: „Ich bemerke, dass es eher junge Leute sind. Ich vermute mal, das sind mehr die Auszubildenden, deswegen haben wir unsere Preise auch lange so gelassen und erst zum Jahreswechsel das erste Mal etwas erhöht. Ich wollte beim Mittagstisch immer unter der Zehn-Euro-Grenze bleiben, da sind wir immer noch weit drunter. Wir kommen den Leuten ja auch gerne entgegen, zum Beispiel mit der Gratis-Meze beim eigenen Teller.“

Die Leidenschaft zum Kochen beginnt bei Evrim bereits als Kind, als sie und ihre Zwillingsschwester aufgrund zweier arbeitender Elternteile oft selbst für ihr Mittagessen sorgen. „Mit 15 habe ich dann schon den traditionellen türkischen Reis gekocht. Also ich habe wirklich immer schon gekocht. Und auch immer sehr gerne.“ Mit 24 führen einige Zufälle dazu, dass Evrim anfängt, auch beruflich zu kochen. Nach der Trennung von ihrem Mann sucht sie nach einer Möglichkeit, für ihre zwei Kinder sorgen zu können. Über eine Freundin kommt sie als Putzkraft zu einer Firma in Huchting. Dort hört sie, dass die Firmenkantine schließen muss: „Die haben keinen gefunden, der da kochen wollte. Also hab ich gesagt, dann versuch ich’s. Und dann war ich von 2006 bis 2011 da und habe gekocht.“ Danach übernimmt Evrim die Leitung der Pressekantine des Weser-Kuriers.

„Nach zwei Jahren wurde das aber etwas langweilig – nur Kantine ist einfach eintönig.“ Als sie nach Bremen zog, habe ihr damaliger Freund sie dann auf einen freien Laden aufmerksam gemacht: Richard-Wagner-Straße, Ecke Hollerallee. „Er hat gesagt: ‚Du kannst so gut kochen, mach doch einfach einen kleinen Laden auf, so als Ausgleich.‘ Ich wollte auch nie groß werden, ich wollte so einen kleinen Tante-Emma-Laden.“ Aber nach zwei, drei Jahren wurde es dann doch immer mehr: mehr Catering, mehr Veranstaltungen. Ihr Vorgänger hier in der Überseestadt habe sie gefragt, ob sie die Fläche nicht übernehmen wolle. Ihr Konzept passe doch gut in die Überseestadt. Und: „Dann hab ich hier aufgemacht. Das war mir allerdings wieder zu viel, also habe ich den Standort in der Hollerallee abgegeben. Jetzt habe ich den Laden hier und mache nach wie vor die Pressekantine beim Weser-Kurier. Das reicht mir insgesamt auch. Wir machen ja auch viele Veranstaltungen, zum Beispiel im Pier 2, da haben wir schon für viele Konzerte das Catering gemacht.“

Die Leidenschaft zum Kochen beginnt bei Evrim (links) bereits als Kind

Dass sich der Standortwechsel vom alteingesessenen Schwachhausen in die gerade erst entstehende Überseestadt auch auf die Kundschaft auswirkt, hat Evrim schnell gemerkt: „Hier ist es eben noch nicht so nachbarschaftlich und eingewohnt wie in Schwachhausen. Wir haben zum Glück viel Stammkundschaft aus der Hollerallee, die kommen dann manchmal mit dem Fahrrad hierher. Mittlerweile haben wir natürlich auch hier Stammkunden, aber generell sind die meisten hier schon ganz anders als am alten Standort. Am Anfang war ich ehrlich gesagt etwas enttäuscht. Die Leute hier sind irgendwie etwas unpersönlicher. An der Hollerallee wollten die meisten auch ein bisschen schnacken, wenn sie da waren, das ist hier eher selten. Aber wir haben bisher auch nur mittags geöffnet. Da kommen eben meist nur diejenigen, die nicht so viel Zeit haben, das verstehe ich dann ja auch. Deshalb haben wir ab diesem Frühjahr von Donnerstag bis Samstag auch abends geöffnet, da kann man dann hier auf der Terrasse sitzen.“ Außerdem hat Evrim kurz vor Pandemiebeginn damit angefangen, Tanzabende mit DJ in ihrem Laden zu veranstalten. Vieles musste in den letzten zwei Jahren abgesagt werden, soll dieses Jahr aber nachgeholt werden.

Und dass ein Sommerabend auf der Terrasse, mit Blick auf den Europahafen, bei Getränken und Meze, auch dort, in einem so jungen und eigentlich eher „unbremischen“ Stadtteil wie der Überseestadt, den gleichen Bremer Flair wie ein Abend an der Schlachte haben kann, ist sehr gut vorstellbar.

Text und Recherche:
Annika Schöll
Fotos:
Wolfgang Everding

#96 Konsul-Smidt-Strasse

EDITORIAL: Szenische Einstiege

Liebe Leser:innen,

„Es war eine dunkle und stürmische Nacht“, so beginnt der Roman „Paul Clifford“ von Edward Bulwer-Lytton: jenem zweifelhaften englischen Literaten, nach dem gar ein Festival benannt ist. Gekürt werden dort regelmäßig die schlechtesten ersten Sätze von Romanen. Auch Snoopy hat seinen ersten und einzigen Roman mit eben diesem Satz begonnen. Das konnten unsere Autorinnen und Autoren nicht wissen, als sie ihre Texte für diese Ausgabe schrieben, die zum Teil exakt in diesem Setting beginnen: dunkel, windig, Nieselregen.

Journalist:innen lieben szenische Einstiege, und das ist auch oft genau richtig so: Denn wir wollen Sie, unsere Leserinnen und Leser, ja mitnehmen zu den Orten, die wir für Sie gesucht und gefunden haben. Wenn es allerdings – wie in der Überseestadt – allzu oft stürmisch ist (und abends natürlich dunkel), dann sagt das schon viel über einen Ort aus. Abweisend wirkt es dort, wenn der Wind durch die Häuserschluchten fegt. Das Quartier ist immer noch im Werden, das haben auch wir frierend erfahren und aufgeschrieben.

Wir haben ein Paar besucht, das vom heimeligen Steintor an die cleane Waterkant gezogen ist und uns berichtet, wie die Umstellung gelingt (Seite 22). „Versiegelte Landschaften“ fand unser Fotograf vor, die er in eine Bildstrecke mit ganz eigentümlich fesselnder Ästhetik gegossen hat (Seite 14).

Dass die Überseestadt aber auch warm und gemütlich sein kann, haben wir in der Kulturenwerkstatt erlebt (Seite 10) und beim Meze-Essen in Evrim Arslans Bistro (Seite 20).

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Zwischen Luxusbar und Fresstempel

Unterwegs vom Landmark-Tower zum Zech-Turm

10 – Stein für Stein zum Selbst

In der Kulturenwerkstatt werden gezielte Kulturschocks verteilt

14 – Versiegelte Landschaften

Bildstrecke

Evrim Arslan wollte nur ein kleines Restaurant ohne viel Stress. Das Erstere hat geklappt

22 – Aus dem Viertel an die Waterkant

Was es bedeutet, nach Jahrzehnten im Viertel in ein Quartier zu ziehen, das sich erst noch erfinden muss

26 – „Ein Kaufmann ohne Furcht und Tadel“

Wer war Konsul Smidt?

28 – „Ich mag meine Kutte“

Unser Verkäufer Dirk ist ein Walle-Kind und stolz darauf