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FACHHANDEL DER STERNE

#94 BISMARCKSTRASSE – Ein bisschen verwunschen wirkt er ja schon: der Edelsteinladen Kassiopeia. Dabei ging es hier anfangs nur um das Geschäft mit Kaffee aus aussortierten Bohnen

Der Name „Kassiopeia“ lässt zunächst an Sternbilder und Mythologie denken. Auch der kleine Laden an der Bismarckstraße hat auf den ersten Blick etwas Magisches an sich, mit seinen dezenten, aber kunstvollen Verzierungen und seiner schweren Holztür. Dabei ging es bei der Gründung 1952 zunächst vor allem um Kaffee, erst später kamen Schmuck und Edelsteine dazu.

Begonnen hat die Geschichte in der zwei Kilometer entfernten Weberstraße. Dort gründeten Josef und Ursula John ihre Firma. Auch der Name hatte für Josef John nicht viel mit Magie oder Mystik zu tun. Er war U-Boot-Fahrer im Krieg und hat oft in den nächtlichen Sternenhimmel geblickt. Dabei hat er besonderes Gefallen an dem Sternbild der Kassiopeia gefunden und sich schließlich entschieden, seine Firma nach ihm zu benennen. Auch in der Einrichtung des kleinen Geschäftes lassen sich die maritimen Einflüsse wiederfinden. Der vom Licht der Vitrinen ausgeleuchtete Verkaufsraum ist gefüllt mit solchen Andenken: die Schiffsglocke etwa oder eine Galionsfigur. Gemütlich ist es. Und die heimelige Atmosphäre macht Lust, es sich beim Tee auf dem Sofa bequem zu machen.

Nach Kriegsende vor 70 Jahren hat das Ehepaar John vor allem Kaffee verkauft. Der war damals sehr gefragt, erzählt Ursula John. Allein in Bremen habe es über 400 Kaffeeversandhäuser gegeben und die beiden stiegen ein in das aufblühende Geschäft: „Die Menschen sind ja hinter jeder Kaffeebohne hergerannt.“ Angefangen haben sie mit sogenanntem Verlesekaffee. „Bohnen, die nicht so schön aussahen, hat man ja damals rausgenommen aus dem Kaffee“, berichtet Ursula John. Mit ihrem Mann hat sie diese Kaffeebohnen gezielt aufgekauft.

Ursula John betreibt ein Traditionsgeschäft, das sich erst selbst erfinden musste.

Der Umzug aus der Weberstraße stand gleich nach zwei Jahren an. Das hatte mit der Hochzeit von Josef und Ursula John zu tun. „Früher war es ja so, dass man nicht zusammenleben durfte, wenn man nicht verheiratet war“, erzählt sie. „Selbst als diese Wohnung hier gemietet wurde, haben alle Menschen darauf geachtet, dass wir ja nicht zusammen hier übernachten.“

Zum Kaffee wurden nach und nach immer mehr Produkte in das Sortiment aufgenommen und mittlerweile hat sich der Schwerpunkt auf Tee verschiedenster Sorten verlagert. Man findet schwarzen Tee, Rooibos oder auch grüne Tees. Ins Auge springt allerdings etwas völlig anderes: Die Vitrinen im vorderen Teil des Ladens sind gefüllt mit Edelsteinen, Schmuck und Perlen. „In unseren Anfangsjahren wurden wir nach Perlen gefragt. So etwas gab es nach dem Krieg alles gar nicht“, sagt Ursula John, „und wir haben dann rumgehorcht und unsere ersten aus Japan importiert.“ Später kamen die Edelsteine dazu. „Dann wollten die Leute Jadeketten haben, dann andere und so ist das immer mehr geworden mit den Edelsteinen.“

Die Johns haben sich umgehört und immer neue Quellen aufgetan. Das habe sich eben so ergeben, über Kontakte zu Menschen, „die drüben gewesen sind und Steine mitgebracht haben.“ Schließlich kamen sie auf Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz, einen zentralen Umschlagplatz für Edelsteine aus aller Welt.

Und da kommt auch die Esoterik wieder ins Spiel. Denn auch wenn die Johns selbst nicht an die magischen Kräfte von Edelsteinen glaubten, legten sie doch Flyer aus, auf denen die übernatürlichen Bedeutungen der Steine beschrieben wird: ihre Auswirkungen auf das Gefühlsleben, mutmaßliche Heilkräfte und die Zusammenhänge einzelner Steine mit den Tierkreiszeichen.

Kassiopeia könnte auch ins Geschäft mit Erinnerungen einsteigen, wenn Tee mal aus der Mode kommt.

Mit dem Infomaterial kamen die Johns dem Interesse ihrer Kundschaft entgegen. Die erzählten beim Einkauf, dieser Stein hier sei für dieses gut, der da für jenes, „… und da haben wir uns Bücher gekauft, haben das Wissen den Kunden zur Verfügung gestellt.“ Ursula John kommentiert das mit einem Lächeln: „Wir haben immer gesagt, ein Stein tut gut, wenn er dir auch gefällt. Edelsteine sind eben etwas Besonderes.“

Mit Vorurteilen oder Ein- wänden gegenüber Tierkreiszeichen und übernatürlichen Heilkräften von Edelsteinen wurde Ursula John in der gesamten Zeit, die Kassiopeia nun besteht, noch nie konfrontiert. „Wenn jemand das nicht glaubt, interessiert er sich gar nicht dafür. Dann kommen die auch nicht zu uns“, erzählt sie lapidar.

„Die Kunden finden die Steine schön und sagen: Wenn die mir dann guttun, ist das ja eine schöne Sache.“ Ursula John betont allerdings auch, dass sie nie etwas in esoterischer Richtung aktiv angestoßen habe. „Wir wollten keinen Aberglauben fördern. Wir fanden die Steine auch schön. Es hat uns Spaß gemacht, damit zu arbeiten.“ Freude macht ihr auch der Austausch mit den interessierten Kunden, „die oft auch viel mehr davon wussten als wir“.

Und ein bisschen steckt das an, wenn man im Gespräch mit der sympathischen Dame ihr ungewöhnliches Geschäft kennenlernt. Zumindest für den Blick auf diese besondere Sparte Einzelhandel gilt: Die Bismarckstraße hat durchaus ihre bezaubernden Seiten.

Text und Recherche:
Lara Nagel, Eileen Stoffers, Katharina Witkabel
Fotos:
Beate C. Köhler

#94 BISMARCKSTRASSE

EDITORIAL: STRASSE IN ARBEIT

Liebe Leser:innen,

dieses Heft ist eine Premiere, oder um noch kurz in der Sprache des Theaters zu bleiben: eine Wiederaufnahme. Denn zum ersten Mal nach langer Corona-Pause und dem Wechsel unserer Chefredaktion ist diese Ausgabe mal wieder an der Uni Bremen entstanden. Recherchiert und geschrieben haben es Studierende am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung. Wie viel Sie beim Lesen davon merken? Keine Ahnung. Aber wir haben uns so intensiv wie lange nicht mit unseren Produktionsbedingungen auseinandergesetzt, mussten vieles wieder neu erlernen – vermeintliche und echte Selbstverständlichkeit neu aufrollen. Und das kann bekanntlich nie schaden.

Tatsächlich eher ein Zufall ist, dass sich auch fast alle unserer Geschichten von der Bismarckstraße ums Arbeiten drehen: im Wortsinn Hand- und Lohnarbeit, aber stets in besonderer Form. Torsten Bauer betreibt etwa eine der letzten Neonglasbläsereien Deutschlands und gehört zu den vielleicht letzten VertreterInnen eines aussterbenden Traditionshandwerks. Ihn haben wir in seiner Werkstatt besucht (Seite 16). Mit dem Blick in die Zukunft waren wir hingegen im „Creative Hub“, wo fast 150 Start-ups gemeinsam ihre ersten Schritte in neue Geschäftszweige unternehmen und dabei eine solidarische Community aufbauen (Seite 12). Ein höchstens auf den ersten Blick gewöhnlicher Einzelhan- del ist „Kassiopeia“, dessen Sortiment sich über die Jahre wie selbstverständlich von Kaffee und Tee um Edelsteine erweitert hat (Seite 8).

Das alles sind Schlaglichter auf eine lange und sehr bekannte Bremer Straße, die Sie ganz bestimmt vom Durchfahren kennen – aber hinter deren Kulissen und Fassaden wir Sie gerne einladen möchten.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Fachhandel der Sterne (online lesen)

Der kleine Laden „Kassiopeia“ hat neben Tee und Kaffee auch Mystik im Sortiment

12 Ein Heim für 150 Projekte

In eine alte Kinderklinik sind heute die Kreativen eingezogen, um zu arbeiten

16 Tradition mit Strahlkraft

Bildstrecke

22 Leben im Kunstwerk

Die Afa-Siedlung galt einst als stil-widrig und ist heute ein Denkmal

28 Freud und Leid der Straße

Unsere VerkäuferInnen Steffi und Janosch schlagen sich als Paar durch

30 Todesanzeige

Wir nehmen Abschied von Florea Ispas

31 Impressum und Vorschau

BREMENS ORKUS

#93 BAHNHOFSVORPLATZ – Unter dem Bahnhofsvorplatz liegt ein Bunker, der für die Öffentlichkeit nur auf Führungen zugänglich ist. Seine Geschichte war mit dem Kriegsende noch lange nicht vorbei.

Beim Intercity Hotel am Hauptbahnhof, noch vor den Straßenbahngleisen und Busspuren, geht es hinab. Der Eingang des Bunkers endet bald an einem gebogenen Gittertor und sieht ganz harmlos aus: wie die Einfahrt einer Tiefgarage. Und das ist auch kein Wunder, denn die Nazis planten bereits beim Bau, den Bunker nach dem „Endsieg“ als Garage zu nutzen. Diese und andere geschichtliche Tatsachen erzählt Historiker Andreas Calic, der hier für den Verein StattReisen Führungen durchführt. Er hat die Schlüssel für die Unterwelt.

Hinter Gitter und Rolltor empfängt uns eine nicht sonderlich angenehme Geruchswolke. Der Gestank von Ammoniak mischt sich mit der intensiven, abgestandenen Moderluft aus dem Inneren der Anlage. Calic erklärt, dass seit einiger Zeit, auf Anregung des StattReisen-Teams, regelmäßig von der Stadtreinigung vor dem Eingang sauber gemacht wird. Der Eingangsbereich wird dann mit Hochdruckreinigern abgespritzt und was die so wegschwemmen, sammelt sich hinter dem Rolltor: Dosen, Unrat und ein Berg von Einwegspritzen.

Ein versteckter Ort voller Geschichten

Hin und wieder liegen auch Menschen vor dem Tor, weshalb vor Führungsbeginn manchmal auch die Polizei verständigt wird, um gegebenenfalls Hilfe zu holen. Die Stadtführer:innen haben hier auch schon Menschen beim Sex überrascht, gerade als sich Gruppen zur Führung am Eingang einfanden.

Wir passieren ein Tor – und was für eins: etwa einen halben Meter dick und rund zweieinhalb Meter im Quadrat. Stahlbeton. Das ist allerdings kein Überbleibsel des Weltkriegs: Es wurde eingebaut, als der Bunker im Kalten Krieg zum ABC-Bunker umfunktioniert wurde. Der Blick ins Innere lässt hingegen wieder die Ursprungsidee von der Tiefgarage erkennen. Der Raum ist wohl hundert Meter lang und dreißig breit.

Im Krieg sollten hier 900 Menschen Platz finden. Laut Calic geht man aber davon aus, dass hier sehr viel mehr vor den Bomben der Alliierten Deckung suchten – aber wirklich gezählt hat das damals natürlich niemand. Es ist warm, die Luftfeuchtigkeit ist hoch und es riecht streng nach Schimmel.

Am Eingang zur Unterwelt warten zwei Tore – und jede Menge Müll.

Einblick in die unterirdischen Zugänge und ihre Schicksale

Anfang der 1990er-Jahre, beim Umbau des Bahnhofvorplatzes, wurde die Ausfahrt verschlossen. Man könnte sie wieder aufgraben, sie ist nicht für die Ewigkeit versiegelt worden. Auch einer der Personenzugänge wurde damals geschlossen. Direkt darauf steht heute eine Straßenlaterne, deren Befestigung im Betondeckel sich von unten bestaunen lässt. Neben der Treppe befindet sich eine Rinne zum Schieben von Fahrrädern. Die wurde tatsächlich bereits von den Nazis angelegt: für die besagte Zukunftsgarage.

Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich der zweite Personenzugang. Tageslicht schimmert durch die Ritzen und oben läuft hörbar jemand mit einem Rollkoffer über das Pflaster, das auf einer Metallplatte liegt. Diese Platte ist mit Scharnieren versehen und hat hydraulische Säulen zum öffnen. Diese Anlage ist allerdings stillgelegt, weil die Feuerwehr den Notausgang nicht mehr zugelassen hat, nachdem 2003 klar war, dass der Bunker keine Funktion als Schutzraum mehr erfüllen wird.

Eine Geschichte von Zwangsarbeit, Notunterkünften und gesellschaftlichem Widerstand

Die Geschichte des Bunkers ist also lang und geht weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Gebaut wurde er 1940 und 1942 von Zwangsarbeiter- Innen und einer Arbeitskolonne aus Italien. Beim Richtfest wehte neben der Hakenkreuzflagge die italienische Trikolore. Bunkerbau ist harte Arbeit: 7.000 Kubikmeter Beton, 15.000 Kubikmeter Erde und 2,5 Millionen Liter Grundwasser wurden dafür bewegt. Aus Sicht einiger Bremer:innen soll die Baufirma die Zwangsarbeiter dabei zu gut behandelt haben. Es gab Beschwerden von „anständigen Deutschen“ und tatsächlich wurden der Firma daraufhin Folgeaufträge entzogen.

Nach dem Krieg wurde der Bunker, wie eigentlich alle dieser Anlagen in Bremen, für die ausgebombte Bevölkerung kurzzeitig als Notquartier genutzt. Doch der Bahnhofsbunker blieb weiter Wohnraum. In den 1950er-Jahren wurde er zum Wohnheim für wohnungslose Männer. Es dauerte bis 1977, bis die Innere Mission ein Grundstück fand, um das Jakobushaus (heute besser bekannt als Papageienhaus) fertigzustellen. Immer wieder fanden potenzielle Anwohner:innen genug Energie und scheinbar gute Argumente, die Wohnungslosen von ihrer Nachbarschaft fernzuhalten.

Vergessene Stimmen

Andreas Calic erzählt von Briefen mit Inhalten wie diesem: Man wolle kein „asoziales, arbeitsscheues Gesindel, das den ganzen Tag Alkohol trinkt, in unserer Nachbarschaft.“ Die Männer lebten hier unten in den Nischen, den Parkplätzen für die Autos an beiden Seiten des Tiefbaus. Damals waren sie durch Gitter vom Mittelteil abgegrenzt. Wenn man da unter der Erde steht und Calic für kurze Zeit das Licht ausschaltet, sind nur noch die phosphoreszierenden Streifen und Beschriftungen an den Wänden zu sehen. Sie leuchten in einem gespenstischen grün. Man denkt unwillkürlich an die Kriegszeit, wie sich wohl die Menschen hier fühlten, wenn der Strom plötzlich aus war. Wenn die Sirenen heulten, wenn Erde und Wände beim Einschlag der Bomben erzitterten.

Text:
Heiko Lenthe
Fotos:
Hartmuth Bendig

#93 BAHNHOFSVORPLATZ

EDITORIAL: DIE RUHE AM BRENNPUNKT

Liebe Leser:innen,

die Plätze vor Bahnhöfen sind immer geschäftige Orte. Die meisten Menschen dort haben es eilig: Schnell noch den Zug erwischen, hastig zur Straßenbahn laufen, noch einmal an der Zigarette ziehen und einen Kaffee „to go“ kaufen, bei dem nur der schwere Milchschaum verhindert, dass er in der Eile überschwappt. Alles ist immer in Bewegung. Oder?

So ganz stimmt das nicht. Denn Plätze vor Bahnhöfen sind immer auch Orte, wo jene sesshaft werden, die es sonst nirgendwo mehr sind. Sie bitt en um eine kleine Spende, sie trinken ihr Bier, sie schlafen, sie streiten sich. Wer sich in diesen Tagen länger dort aufhält, merkt: Das Klima am Bremer Bahnhofsvorplatz ist rauer geworden. Der Ordnungsdienst patrouilliert, die Polizei ist mit einem Mannschaftswagen vor Ort, videoüberwacht ist der Platz ohnehin.

Vielleicht haben wir deshalb ausgerechnet hier nach Orten der Ruhe gesucht – von denen es überraschenderweise einige gibt. Da wäre zum Beispiel das Übersee-Museum, das sein Schaumagazin im Großkino nebenan präsentiert. Hier sind nicht nur Dinge versammelt, die in der Ausstellung nicht zu sehen sind, sondern auch Sichtweisen konserviert: der historische Blick auf ferne Kulturen, das Staunen über die Vielfalt der Welt. Dass Sammeln hier kein Selbstzweck ist, haben wir bei einem Besuch erfahren (Seite 16). Am anderen Ende des Platzes geht es ebenfalls um die Konservierung der Welt, diesmal der hiesigen. Auf eine faszinierende Reise zwischen Vergangenheit und Zukunft hat uns die Leiterin der Landesarchäologie Uta Halle mitgenommen (Seite 8).

Während Landesarchäologie und Übersee-Museum den Blick weiten, schiebt ihm das neue „City Gate“ eher einen Riegel vor: Jahrelang hatte man über die Nutzung der Freifläche zwischen Bahnhof und Innenstadt diskutiert, heute steht dort ein riesiger Neubau – mit dem noch nicht alle so richtig warm geworden sind (Seite 12).

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Von Steinzeit-Bremern und Knochenjägerinnen

In der Landesarchäologie erforschen HistorikerInnen, was die Bremer Erde so alles ans Licht bringt

12 Pforte oder Mauer?

Über die Bebauung des Bahnhofsvorplatzes wurde in Bremen lange diskutiert. Inzwischen steht das „City Gate“

16 Schau-Fenster der Stadt

Bildstrecke

22 Bremens Orkus (online lesen)

Direkt vor dem Hauptbahnhof steht ein Bunker, auch wenn man ihn nicht sehen kann

28 Mit Gott bei den Eichhörnchen

Unser Verkäufer Andrej stammt aus Sibirien, wo er schießen gelernt hat, aber nicht in den Krieg ziehen wollte

30 Unsere neuen Verkaufsgebiete

Die Zeitschrift der Straße wird neuerdings in festgelegten Gebieten verkauft. Wir erklären das System

28 „Ich habe nicht so einen guten Start gehabt“

Unser Verkäufer Daniel Hollstein erzählt aus seinem Leben

31 Impressum und Vorschau

MEIN BLOCK(LAND)

#92 H.-H.-MEIER-ALLEE – Sie war eine der Ersten: Die 96-jährige Holde S. lebt seit 1964 in Schwachhausens einzigem Hochhaus

„Hier war früher nur Blockland“, erinnert sich Holde S., „und hinten im Westen sahen wir in der Ferne die Sonne untergehen. Auch der schöne Baumbestand hier kommt noch aus dieser Zeit. Durch die Feuchtigkeit gedeiht hier alles so gut.“ Ein Hauch Wehmut schwingt noch mit in diesen Sätzen. Sie erzählen von einer Zeit, in der an Neu-Schwachhausen mit seinen mehrstöckigen Gebäuden aus den 1960er-Jahren noch lange nicht zu denken war. Holde S. hat diese Zeit selbst miterlebt und darf mit ihren 96 Jahren wohl als ein Urgestein des Stadtteils bezeichnet werden.

In der von Mehrparteienhäusern gesäumten H.-H.-Meier-Allee bewohnt sie eines der prägnantesten Gebäude, vielleicht des ganzen Stadtteils. Sie nennt eine Wohnung mit eineinhalb Zimmern im 15-stöckigen Wohnblock mit der Hausnummer 51 ihr Eigen. Mit der schmucklos grauen Fassade und diesem Verbotsschild auf der anliegenden Grünfläche, das Kindern das Spielen auf dem Rasen verbietet, wirkt das Areal ein bisschen aus der Zeit gefallen.

„Damals fuhren auf der Weser noch Dampfschiffe. Die müssten heute eigentlich im Museum stehen“, schweift Holde S. ein weiteres Mal in die Vergangenheit. Es sind vor allem solche sprachlichen Bilder, mit denen sie die alten Zeiten beschwört. Es ist nicht ganz leicht, diesen Gedanken zu folgen. Ob das eine bessere Zeit für sie war? Vielleicht. Immer wieder jedenfalls schwingen nachdenkliche Töne im Gespräch mit. Mal ganz leise, mal auch sehr laut. „Das gibt es heute alles nicht mehr“, sagt sie kopfschüttelnd, „das war früher alles ganz anders“, „heute ist alles viel zu anonym“ – so klingen große Teile des Gesprächs, die natürlich auch eine gewisse Schublade bedienen. Dass aber nicht alles besser war, das weiß Holde S. auch aus eigener Erfahrung.

Widerstand und Wohnungssuche

Trotz Wirtschaftswunder und Rekordwachstum in der jungen Bundesrepublik war bezahlbarer Wohnraum auch Anfang der 1960er-Jahre vielerorts ein rares Gut. So auch in Bremen und seinen stark wachsenden Stadtteilen. Dennoch regte sich vehementer Widerstand in der Nachbarschaft, als erste Pläne für den bis heute polarisierenden Gebäudekomplex bekannt wurden. Architekt Siegfried A. Morschel hatte es entworfen, der auch mit seinem Engagement für die sogenannte „Mozarttrasse“ aneckte: einer Schnellstraße durchs Ostertorviertel an der Weser, die Widerstände in der Bevölkerung schürte, welche viele bis heute für die Blaupause des linksalternativen Aktivismus des „Viertels“ halten. „Passt auf, wie man hier baut“, wurde Holde S. schon in der Schulzeit von einer ermahnt. Anders als die Mozarttrasse wurde dieses Haus aber gebaut. Und aller Skepsis zum Trotz versuchte schließlich auch Holde S., inzwischen bei der Post verbeamtet, mit Erfolg ihr Glück bei der Ausschreibung, um an eine der begehrten Wohnungen zu gelangen.

„Ich suchte eben eine Wohnung. Das war alles sehr schwer damals“, erläutert sie und das klingt fast eine Entschuldigung für eine pragmatische Entscheidung vor beinahe 60 Jahren. Aber nur kurz. Tatsächlich ärgere sie sich heute eigentlich nur noch darüber, nicht früher zugeschlagen zu haben, wie ihr eine gute Freundin damals eindringlich geraten hatte: „Ich habe leider ein bisschen zu lange gezögert. Dann blieb nur noch die kleine Wohnung zur Nord-West-Seite. Das war nicht ideal, aber man war zufrieden.“ Immerhin war Holde S. nun erstmals Eigentümerin einer Wohnung. Dass dazu auch eine „reiche Tante“ beigetragen hat, lässt sie nicht unerwähnt.

Lebensqualität im Alter

Nach dem Umzug aus dem nur einen Steinwurf entfernten Hauptmann-Böse-Weg in die neue Bleibe waren es fortan nicht mehr die Farben und Düfte der Flora des Blocklands, dafür aber der Blick auf den Dom, welcher der Ur-Bremerin beim Gang auf ihren eigenen Balkon seit 1964 täglich große Freude bereitete. Auch die in der Folge wachsende Infrastruktur des jungen Neu-Schwachhausens gefiel ihr zunehmend besser: Schlachter, Bäcker, Post, Apotheke und später auch der Wochenmarkt – alles vor der Haustür.

Und nicht zu vergessen: die Nähe zur St. Remberti-Kirche sowie die Tram-Haltestelle unten, von der sie schon unzählige Male zum Gottesdienst in den Dom gestartet ist. Holde S. weiß zu schätzen, was sie an ihren eigenen vier Wänden in diesem Quartier hat: „Hier habe ich doch alles, was ich zum Leben brauche.“

Welche Rolle das heute für sie spielt? „Ohne den Schlachter und diese Lage w.re ich schon längst im Altenheim. Aber das hält mich hier und das brauche ich auch für meine Selbstständigkeit.“ Und die ist ihr heilig – darum packt sie die Dinge gern selbst mit an, wo es ihr im Alter noch möglich ist. Zwar wisse sie auch um die Vorzüge, zum Beispiel im traditionellen Café Knigge direkt nebenan einen Mittagstisch zu bekommen, aber am liebsten koche sie sich ihre Kartoffeln und das Gemüse aber doch selbst. Die Unterstützung vom Paritätischen benötige sie zwar ebenfalls in einigen Lebensbereichen, aber immerhin die Krankengymnastik habe sie nach einer Weile wieder abbestellt: „Das belastet doch die Krankenkassen“, sagt sie, „außerdem beziehe ich meine Betten noch selbst – das ist genug Bewegung und hält jung.“

Text:
Tim Lachmann
Fotos:
Wolfgang Everding

#92 H.-H.-Meier-Allee

EDITORIAL: DER STADTRAND VON EINST

Liebe Leser:innen,

dafür, dass die H.-H.-Meier-Allee gewissermaßen eine Sackgasse ist, kommen doch ganz schön viele Menschen durch – wenn auch nicht unbedingt mit dem Auto. Wo die ehemalige Erschließungsstraße Neu-Schwachhausens im Norden endet, fahren die Straßenbahnen nämlich weiter ins Grüne und bringen vor allem Studierende aus Zentrum und Neustadt an die Uni. 7.000 Fahrräder pro Tag kommen noch dazu. Und daher kennt man die Straße in Bremen wohl auch in erster Linie: vom Durchfahren.

Für diese Ausgabe haben wir aber doch mal angehalten und zum Beispiel eine jahrzehntelange Bewohnerin des so markanten wie sonderbar deplatzierten Hochhauses besucht (Seite 26). Gleich um die Ecke trafen wir Christos in seinem Restaurant Akropolis und haben uns seine Geschichte erzählen lassen (Seite 8). Und weil die kulinarische Bandbreite der Straße bei Ouzo und Bifteki längst nicht aufhört, haben wir Kamera und Notizblock dann auch gleich noch ins Café Knigge ausgeführt und zwischen den Stammgästen ungefähr die halbe Stadt getroffen (Seite 14).

Und das ist es wohl tatsächlich, was diese Straße ausmacht: eine soziale Durchmischung, die so gar nicht zum weit verbreiteten Schwachhausen-Vorurteil passen mag. Hochhaus hier, Park dort – und eine Gastronomie, in der man Tisch an Tisch auf KünstlerInnen, Abgeordnete und Ärztinnen genauso treffen kann wie auf Studierende, Geflüchtete oder KleingärtnerInnen aus der Gegend.

Die H.-H.-Meier-Allee ist eine verhältnismäßig junge Straße, die trotzdem schon gravierende Veränderungen erlebt hat und das auch heute noch tut. So haben wir ein Quartier erlebt, das sehr grün ist, aber um seine Bäume kämpft (Seite 12) – und wo Menschen ein Zuhause gefunden haben, die hier nur ganz kurz zur Ruhe kommen sollten (Seite 22). Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Ein Koffer, hundert Mark und große Träume

12 Fernwärme erhitzt Gemüter

14 „Zu Knigge ging man einfach…“

22 Am Ende dieser Straße

26 Mein Block(land) (online lesen)

28 „Mama, bring uns Schokolade!“

31 Impressum und Vorschau

ZDS-GRÜNDER MICHAEL VOGEL ERHÄLT BUNDESVERDIENSTKREUZ

Mit der ZEITSCHRIFT DER STRASSE hat er die Bremer Presselandschaft bereichert: Nun hat Prof. Dr. Dr. Michael Vogel das Verdienstkreuz am Bande vom Bundespräsidenten verliehen bekommen.

Diese besondere Ehrung überreichte Bürgermeister Andreas Bovenschulte Prof. Dr. Dr. Michael Vogel, Gründer und Initiator unseres Straßenmagazins, am 29. September im Senatsaal des Bremer Rathauses. Bovenschulte verband dies mit einer persönlichen Würdigung des besonderen gesellschaftlichen Engagements Vogels:

Manche Ausgabe der ‚Zeitschrift der Straße‘ habe ich selbst in Händen gehalten und gelesen und war jedes Mal begeistert vom Konzept und dem Inhalt. Auch jetzt als Bürgermeister lerne ich noch viel daraus über die manchmal sehr kleinen Quartiere oder auch nur Straßenzüge, die da in ihrer Einzigartigkeit dargestellt werden. Viel wichtiger aber als der inhaltliche Aspekt sind das Konstrukt und die Energie, die Michael Vogel in das Projekt gesteckt hat. Er hat es durch Krisen geleitet und zweimal selbst vor dem Untergang gerettet. Dafür gebührt ihm großer Dank.“

DIE UNSICHTBARE KREUZUNG

#91 HEMELINGER BAHNHOFSTRASSE – Der mit Abstand meiste Verkehr um die Hemelinger Bahnhofstraße ist an der Oberfläche gar nicht zu sehen. Er wird seit Jahren untendurch geleitet

Wenn man etwas hören oder fühlen könnte, dann müsste es an dieser Stelle sein: exakt unter der Bushaltestelle „Hemelinger Bahnhofstraße“ an der Nordwestecke des kleinen Wilkensparks. Hier kreuzt unterirdisch der Hemelinger Straßentunnel. Aber weder vibriert es unter den Füßen, noch hört man leisestes Rauschen. Ganz anders vor der Tunnelöffnung an der Sebaldsbrücker Heerstraße: Die frühere Belastung der Straßen lässt sich hier erahnen. Welch ein immenses Autoaufkommen ergießt sich tagtäglich hinein und wälzt hinaus! Lkw verschiedenen Kalibers rattern, Pkw fahren zügig um die Kurven, oben kreuzt die Straßenbahn. An der Fußgängerampel vor der Tunnelöffnung ist eine Verständigung im Lärm kaum möglich. Im Auto jedoch ist es ein angenehmeres Erlebnis. Der mit knapp 600 Metern längste Straßentunnel Bremens leitet Kraftfahrzeuge unter zwei Eisenbahntrassen und der ganzen Godehardstraße durch. Radfahrer und Fußgänger können abgetrennt neben der Fahrbahn die Bahntrassen unterfahren – begleitet von Lärm, aber sicher.

Es ist schon klar, warum in Hemelingen viele bereits in den Siebzigerjahren ohne Tunnel den Schwerlast- und Durchgangsverkehr satt hatten. Durch die Großansiedlung von Mercedes-Benz 1978 in Sebaldsbrück mit zunächst rund 6.000 Beschäftigten verschärfte sich die Lage. Erwartet wurden täglich 16.000 Fahrzeuge auf dem Weg ins Werk und hinaus, darunter 8.000 Lkw Die neuen Anforderungen waren enorm. Vor allem Brügge weg, Schlengstraße und Bruchweg waren durch Lärm, Abgase und Staus extrem belastet. Auch die Hemelinger Bahnhofstraße blieb nicht verschont. Frau Riedemann-Schmitz vom traditionsreichen Schuhgeschäft erinnert sich: „Beim Daimler-Schichtwechsel abends um zehn war der Brüggeweg voll und die Autos wälzten sich Stoßstange an Stoßstange da durch. Wenn der Brüggeweg dann dicht war, sind alle hier durchgefahren. Manche Bewohner sind auch weggezogen, weil sie es mit der Verkehrsentwicklung nicht mehr aushielten.“

Um 1988 kam die Tunnel-Idee in Gang, wurde aber Mitte der Neunziger wegen hanseatischer Sparsamkeit in schwieriger Haushaltslage wieder ausgebremst. Ein mehrfach zitierter Satz des damaligen Ortsamtsleiters beleuchtet die Stimmung: „Eine Verarschung aller Hemelinger ist das.“ Heftige Debatten über die Sanierung Hemelingens fanden in diesen Zeiten statt . Erst 1999 begann der Tunnelbau. 2003 wurde die unterirdische Straße zum Preis von rund 175 Millionen Euro eingeweiht. Eine Filmdokumentation der damals für den Bau verantwortlichen Gesellschaft für Projektmanagement und Verkehrswegebau verdeutlicht den Aufwand, etwa die Arbeiten unter dem Grundwasserspiegel, die unter Druckluft statt fanden. Heute kaum denkbar: Alles entstand in der vorgesehenen Bauzeit.

Verlustfrei ging das nicht vonstatten. So mussten vor dem Bau Wohnhäuser „abgeräumt“ werden, wie es in einem Beiratsprotokoll von 1997 heißt. „In der Godehardstraße waren es acht oder neun, in unserer Straße zwei“, so Frau Riedemann-Schmitz. „Dazu gehörte auch der Wilkens-Bungalow, der auf dem Villengrundstück für einen der Söhne gebaut worden war.“ Diese Vorgänge waren zwar rechtens, aber mit Schicksalen verbunden. Die Entschädigung dürfte für eine neunzigjährige Frau, die ihr Haus am Lebensende verlassen musste, kein Trost gewesen sein.

In der Hemelinger Bahnhofstraße zeigt Frau Zaun von der Firma Seekamp Metall rüber zum anliegenden Parkplatz: Diese Fläche musste der Betrieb für den Tunnelbau hergeben. Und bis heute teilen Beschäftigte und Firmenleitung dort das Innenleben der angrenzenden Röhrenöffnung, denn „gelegentlich riecht es daraus. Und oft hören wir die lauten Krankenwagensirenen“, beschreibt Frau Zaun die Lage. Die Röhre ist hier ein akustischer Verstärker.

Unbestreitbar ist aber die deutliche Entlastung des Durchgangsverkehrs. Bereits kurz nach Eröffnung 2003 nutzten durchschnittlich 12.422 Fahrzeuge den Tunnel t.glich. Stefan Last, Projektingenieur beim Amt für Straßen und Verkehr, erklärt: „Heute sind es rund 20.000 Fahrzeuge, davon 14 Prozent Lkw.“ Last spricht über Folgekosten: „Für den Unterhalt reicht eine Viertel Million pro Jahr nicht.“ Wofür? Allein die Stromkosten belaufen sich jährlich auf 100.000 Euro. Er ergänzt Wartungs- und Sicherheitsmaßnahmen, dazu einige Beispiele: Für frühzeitiges Erkennen von Problemen im Tunnel kontrolliert die Polizei 17 Kameras rund um die Uhr. Sichttrübung und CO2-Werte werden gemessen, Strahlventilatoren sorgen für Frischluft zufuhr, aufwendige Feuerwehrübungen finden alle sechs Jahre nächtlich bei Vollsperrung statt . Mit hohem Sicherheitsstandard werden die anspruchsvollen EU-Anforderungen an einen Tunnelbetrieb erfüllt.

Bedeutsam für Planung und Folgen des Tunnelbaus waren noch andere wichtige Bewegungen. Im Stadtteil mobilisierten sich damals Kräfte, die sich für die Lebensqualität über der Trasse starkmachten, besonders für eine anwohnerfreundliche und grüne Gestaltung. Unter anderem wurde vor Baubeginn durchgesetzt, dass in der Hemelinger Bahnhofstraße die Wilkens-Villa und der Park mit dem alten Baumbestand nicht, wie es der Plan vorsah, der Untertunnelung geopfert wurden. „Es handelt sich dabei um sehr alte, kapitale Blume, deren Erhalt von hervorragender Bedeutung ist“, schrieb Ortsamtsleiter Rissland 1996 nach einer einstimmigen Beiratsentscheidung an Bausenator Hattig. Eine Verlegung der Tunnelachse unter die Godehardstraße wurde erreicht. Heute ist das Ensemble ein optischer Glücksmoment der Straße.

Text:
Ulrike Plappert
Foto:
Volker Busch

#91 HEMELINGER BAHNHOFSTRASSE

EDITORIAL: DURCH DEN WILDEN OSTEN

Liebe Leser:innen,

diese Ausgabe ist wirklich etwas Besonderes, auch für die Redaktion selbst: Seit wir im Frühjahr mit neuer Chefredaktion an den Start gegangen sind, konnten wir uns endlich erstmals live, in Farbe und offline treffen! In den Monaten zuvor hatte das Team pandemiebedingt nur per Video konferiert, die Ausgaben seit März 2020 entstanden sämtlich ohne persönliche Treffen. Dass man das den Heften selbst vielleicht gar nicht so angemerkt hat, ist dem großen Einsatz aller Beteiligten geschuldet, die trotz erschwerter Bedingungen nie die Motivation verloren haben. Und doch macht es einen bedeutenden Unterschied, ob man sich nur am Bildschirm sieht oder persönlich bei einer Tasse Kaffee diskutiert, Ideen entwickelt und wieder verwirft, gemeinsam lacht, auch mal streitet und die neue Ausgabe plant. Wir jedenfalls haben diese wieder neue, alte Situation sehr genossen – denn genau so gehört es sich ja eigentlich, wenn man gemeinsam eine Zeitschrift macht.

Wir waren also gemeinsam in der Hemelinger Bahnhofstraße unterwegs. Dabei hatten wir das Glück einer wirklich fachkundigen Führung: Ortsamtsleiter Jörn Hermening war bereit, uns bei unserem kleinen Redaktionsausflug zu unterstützen und uns Historisches und Aktuelles, Offensichtliches und Verstecktes zu zeigen und zu erklären. „Im Inneren der Wurst“ (Seite 16) trafen wir Künstler:innen und Handwerker:innen in ihren Ateliers, im Inneren der alten Moschee sprachen wir mit Necati Tepe über den geplanten Neubau (Seite 8) und sogar im Inneren der Straße waren wir unterwegs: nämlich in jenem Tunnel, der seit einigen Jahren unter der Hemelinger Bahnhofstraße verläuft (Seite 22) und den Schwerlastverkehr aufnimmt, der zuvor immer wieder auch durch die schmale Straße donnerte. Einigermaßen beschwingt also nehmen wir Sie jetzt mit ins buntbeschauliche Hemelingen und wünschen eine anregende Lektüre!

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Raus aus dem Keller

In Hemelingen entsteht eine neue Moschee gleich neben dem alten Gebetsraum

12 Ein Haus im Niemandsland

In der Notunterkunft von La Campagne finden Drogenabhängige Hilfe

16 Im Inneren der Wurst

Bildstrecke

22 Die unsichtbare Kreuzung (online lesen)

Der meiste Verkehr in Hemelingen fließt diskret unter der Erde

20 Vom Leben geküsst

Wie sich die Szenekneipe Kuß Rosa über die Jahre verändert hat

24 „Die Hemelinger kommen vor allen anderen rein“

Die Union Brauerei expandiert von Walle nach Hemelingen

28 „Ich habe nicht so einen guten Start gehabt“

Unser Verkäufer Daniel Hollstein erzählt aus seinem Leben

31 Impressum und Vorschau

EIN FALL FÜR DR. DÖRNATH

#90 KLEIN MEXIKO – In ihrer Praxis behandelt Alexandra Dörnath exotische Tiere – wenn sie durch die Tür passen. Die anderen besucht sie vor Ort

Hunde, Katzen oder Mäuse sucht man vergebens im Wartezimmer dieser Tierarztpraxis. Stattdessen wimmelt es hier nur von TierhalterInnen, die ihre Papageien, Vogelspinnen, Schlangen und Echsen vorbeibringen, damit ihnen geholfen werden kann. Keine Frage: Die „Tierarztpraxis Klein Mexiko“ ist etwas Besonderes, hier in der Bennigsenstraße, am Rande der Westfalensiedlung.

Die Inhaberin der Praxis ist die Tierärztin Dr. K. Alexandra Dörnath. Sie lebt schon in vierter Generation in Klein Mexiko. Ihre Liebe für Tiere hat Alexandra Dörnath schon früh in ihrer Kindheit entdeckt. „Meine Mutter hat es mir vorgelebt. Als ich auf die Welt kam, hatte sie bereits Landschildkröten, Papageien, Sittiche und vieles mehr. Ich bezeichne mich selber auch als Tiermensch oder auch als Tierlehrerin. Ich liebe Tiere, ich lebe mit ihnen, ich spreche mit ihnen und genau so sprechen sie auch mit mir. Wir verstehen uns gegenseitig. Ich behaupte, wir betreiben Telepathie miteinander.“

In ihrer Kindheit entwickelte sich auch der Wunsch, beruflich etwas mit exotischen Tieren zu machen. Am liebsten wollte Alexandra Dörnath Zoodirektorin werden und entschied sich daher, Tiermedizin zu studieren – einer der Wege, um diesen Beruf ergreifen zu können. Sie verließ Klein Mexiko nach dem Abitur und studierte daraufhin Tiermedizin in Berlin und London. „Ich war dann 17 Jahre weg und arbeitete im In- und Ausland mit exotischen Tieren, übrigens auch im richtigen, im großen Mexiko. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich wieder hierherkomme. Aber manchmal gibt es Irrungen und Wirrungen des Lebens, manchmal passieren persönlich Dinge, die man nicht vorhersehen kann, und nun bin ich seit fünfzehn Jahren wieder da und habe nach meiner Wiederkehr eine Tierarztpraxis für exotische Tiere eröffnet.“

Alexandra Dörnath wollte als Kind am liebsten Zoodirektorin werden. Foto: Felix Müller

Alexandra Dörnath empfängt in ihrer Praxis alle Arten von exotischen Tieren – sofern sie durch die Praxistür passen. Zu ihren Patienten gehört zum Beispiel eine Echse. die nach einer Darmoperation nachbehandelt werden muss, und eine Schlange, die aus einem brennenden Haus gerettet wurde. Viele der Tiere, um die sich die Tierärztin kümmert, passen aber schlicht nicht in die Räumlichkeiten der Praxis, weshalb Alexandra Dörnath zu den Tieren nach Hause fahren muss. „Ich mache Hausbesuche bei Elefanten, Leoparden, Krokodilen, Affen und Co., die können ja schlecht zu mir kommen. Ich betreue Zirkusse, Zoos, aber auch Privathalter“, erzählt die Tierärztin stolz.

Einen typischen Arbeitsalltag gibt es dabei nicht. Viele der Patienten sind nachtaktiv, weshalb der Arbeitstag auch mal bis in die späte Nacht gehen kann. Außerdem kann es auch immer zu spontanen Einsätzen der Tierärztin kommen, da auch Behörden, wie Polizei und Feuerwehr, ihre Hilfe anfordern, wenn irgendwo ein exotisches Tier entdeckt wurde. Dörnath zufolge handelt es sich dabei meistens um SpaziergängerInnen, die eine Ringelnatter entdeckt haben und nicht wissen, dass diese hier heimisch ist, und sie für eine gefährliche Giftschlange halten. Sie bedauert, dass viele Menschen den Bezug zur Natur verlieren und gar nicht mehr unterscheiden können, welche Tierarten hier überhaupt heimisch sind und welche nicht. Es kommt allerdings auch manchmal vor, dass die Behörden anrufen, weil ein Tier entdeckt wurde, das wirklich gefährlich ist. Dörnath kann sich noch gut daran erinnern, dass sich die Polizei vor einigen Jahren meldete, weil eine Auszubildende einer Supermarktkette eine Spinne entdeckt hatte. Die Tierärztin fuhr danach sofort in den bereits evakuierten Supermarkt und entdeckte, dass es sich tatsächlich um eine giftige Bananenspinne handelte. Dr. Dörnath fing die Spinne daraufhin ein – und versuchte danach alles, um die vom Transport nach Deutschland schwer verletzte und stark mitgenommene Spinne aufzupäppeln. Zu ihrem Kummer überlebte die Spinne nicht. Zum Glück für Mensch und Tier kommt es allerdings nur alle paar Jahre einmal vor, dass giftige Tiere unbemerkt zusammen mit exotischem Obst nach Deutschland importiert werden.

Angst hat die Tierärztin für exotische Geschöpfe trotz ihrer oft risikoreichen Arbeit allerdings keine. „Objektiv betrachtet ist es natürlich gefährlich. Eine ausgewachsene Schnappschildkröte könnte mir potenziell den kleinen Finger abbeißen und ich habe auch schon Schlangen behandelt, die mit ihrem Gift sechs erwachsene Menschen töten könnten. Habe ich deshalb Angst? Nein! Es ist immer die Frage, was man persönlich als gefährlich einstuft.“ Und da sind die Vorstellungen eben unterschiedlich: „Ich würde im Leben nicht auf ein Motorrad steigen. Das empfinde ich als wahnsinnig gefährlich. Aber wenn man mit Tieren hantiert und ihre Waffen kennt, dann kann ich mich dagegen schützen und das Tier einschätzen“, erklärt Dörnath. „In den über 20 Jahren, in denen ich mit Tieren arbeite, wurde ich bis jetzt auch nur einmal schlimm verletzt, und das war bei der Behandlung einer Hauskatze. Wegen der habe ich fast meinen Mittelfinger verloren“, berichtet sie und lacht.

Trotz ihrer vielen Erfolge und ihrer Liebe für ihre Tätigkeit als Tierärztin träumt Dr. Dörnath immer noch davon, irgendwann einmal Zoodirektorin zu werden. Das ist ihrer Meinung nach das Einzige, was ihre berufliche Karriere noch krönen könnte. Dabei ist sie durchaus zuversichtlich: „Irgendwann kann das vielleicht doch noch passieren. Ich habe ja noch 15 Berufsjahre. Das kann also durchaus noch etwas werden.“

Bis es so weit ist, wird sie weiter mit Begeisterung ihre besondere Praxis in Klein Mexiko führen und noch vielen exotischen Tieren und ihren HalterInnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Anmerkung der Redaktion: In der Printversion dieses Textes sind leider zwei Fehler enthalten: So wurde der Vorname falsch genannt und aus der Zoo- fälschlicherweise eine Zirkusdirektorin. Die Fehler haben wir hier korrigiert. 

Text: Sarah Ruhase
Fotos: Felix Müller