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MEIN BLOCK(LAND)

#92 H.-H.-MEIER-ALLEE – Sie war eine der Ersten: Die 96-jährige Holde S. lebt seit 1964 in Schwachhausens einzigem Hochhaus

„Hier war früher nur Blockland“, erinnert sich Holde S., „und hinten im Westen sahen wir in der Ferne die Sonne untergehen. Auch der schöne Baumbestand hier kommt noch aus dieser Zeit. Durch die Feuchtigkeit gedeiht hier alles so gut.“ Ein Hauch Wehmut schwingt noch mit in diesen Sätzen. Sie erzählen von einer Zeit, in der an Neu-Schwachhausen mit seinen mehrstöckigen Gebäuden aus den 1960er-Jahren noch lange nicht zu denken war. Holde S. hat diese Zeit selbst miterlebt und darf mit ihren 96 Jahren wohl als ein Urgestein des Stadtteils bezeichnet werden.

In der von Mehrparteienhäusern gesäumten H.-H.-Meier-Allee bewohnt sie eines der prägnantesten Gebäude, vielleicht des ganzen Stadtteils. Sie nennt eine Wohnung mit eineinhalb Zimmern im 15-stöckigen Wohnblock mit der Hausnummer 51 ihr Eigen. Mit der schmucklos grauen Fassade und diesem Verbotsschild auf der anliegenden Grünfläche, das Kindern das Spielen auf dem Rasen verbietet, wirkt das Areal ein bisschen aus der Zeit gefallen.

„Damals fuhren auf der Weser noch Dampfschiffe. Die müssten heute eigentlich im Museum stehen“, schweift Holde S. ein weiteres Mal in die Vergangenheit. Es sind vor allem solche sprachlichen Bilder, mit denen sie die alten Zeiten beschwört. Es ist nicht ganz leicht, diesen Gedanken zu folgen. Ob das eine bessere Zeit für sie war? Vielleicht. Immer wieder jedenfalls schwingen nachdenkliche Töne im Gespräch mit. Mal ganz leise, mal auch sehr laut. „Das gibt es heute alles nicht mehr“, sagt sie kopfschüttelnd, „das war früher alles ganz anders“, „heute ist alles viel zu anonym“ – so klingen große Teile des Gesprächs, die natürlich auch eine gewisse Schublade bedienen. Dass aber nicht alles besser war, das weiß Holde S. auch aus eigener Erfahrung.

Trotz Wirtschaftswunder und Rekordwachstum in der jungen Bundesrepublik war bezahlbarer Wohnraum auch Anfang der 1960er-Jahre vielerorts ein rares Gut. So auch in Bremen und seinen stark wachsenden Stadtteilen. Dennoch regte sich vehementer Widerstand in der Nachbarschaft, als erste Pläne für den bis heute polarisierenden Gebäudekomplex bekannt wurden. Architekt Siegfried A. Morschel hatte es entworfen, der auch mit seinem Engagement für die sogenannte „Mozarttrasse“ aneckte: einer Schnellstraße durchs Ostertorviertel an der Weser, die Widerstände in der Bevölkerung schürte, welche viele bis heute für die Blaupause des linksalternativen Aktivismus des „Viertels“ halten. „Passt auf, wie man hier baut“, wurde Holde S. schon in der Schulzeit von einer ermahnt. Anders als die Mozarttrasse wurde dieses Haus aber gebaut. Und aller Skepsis zum Trotz versuchte schließlich auch Holde S., inzwischen bei der Post verbeamtet, mit Erfolg ihr Glück bei der Ausschreibung, um an eine der begehrten Wohnungen zu gelangen.

„Ich suchte eben eine Wohnung. Das war alles sehr schwer damals“, erläutert sie und das klingt fast eine Entschuldigung für eine pragmatische Entscheidung vor beinahe 60 Jahren. Aber nur kurz. Tatsächlich ärgere sie sich heute eigentlich nur noch darüber, nicht früher zugeschlagen zu haben, wie ihr eine gute Freundin damals eindringlich geraten hatte: „Ich habe leider ein bisschen zu lange gezögert. Dann blieb nur noch die kleine Wohnung zur Nord-West-Seite. Das war nicht ideal, aber man war zufrieden.“ Immerhin war Holde S. nun erstmals Eigentümerin einer Wohnung. Dass dazu auch eine „reiche Tante“ beigetragen hat, lässt sie nicht unerwähnt.

Nach dem Umzug aus dem nur einen Steinwurf entfernten Hauptmann-Böse-Weg in die neue Bleibe waren es fortan nicht mehr die Farben und Düfte der Flora des Blocklands, dafür aber der Blick auf den Dom, welcher der Ur-Bremerin beim Gang auf ihren eigenen Balkon seit 1964 täglich große Freude bereitete. Auch die in der Folge wachsende Infrastruktur des jungen Neu-Schwachhausens gefiel ihr zunehmend besser: Schlachter, Bäcker, Post, Apotheke und später auch der Wochenmarkt – alles vor der Haustür.

Und nicht zu vergessen: die Nähe zur St. Remberti-Kirche sowie die Tram-Haltestelle unten, von der sie schon unzählige Male zum Gottesdienst in den Dom gestartet ist. Holde S. weiß zu schätzen, was sie an ihren eigenen vier Wänden in diesem Quartier hat: „Hier habe ich doch alles, was ich zum Leben brauche.“

Welche Rolle das heute für sie spielt? „Ohne den Schlachter und diese Lage w.re ich schon längst im Altenheim. Aber das hält mich hier und das brauche ich auch für meine Selbstständigkeit.“ Und die ist ihr heilig – darum packt sie die Dinge gern selbst mit an, wo es ihr im Alter noch möglich ist. Zwar wisse sie auch um die Vorzüge, zum Beispiel im traditionellen Café Knigge direkt nebenan einen Mittagstisch zu bekommen, aber am liebsten koche sie sich ihre Kartoffeln und das Gemüse aber doch selbst. Die Unterstützung vom Paritätischen benötige sie zwar ebenfalls in einigen Lebensbereichen, aber immerhin die Krankengymnastik habe sie nach einer Weile wieder abbestellt: „Das belastet doch die Krankenkassen“, sagt sie, „außerdem beziehe ich meine Betten noch selbst – das ist genug Bewegung und hält jung.“

Text: Tim Lachmann
Fotos: Wolfgang Everding