Jahr: 2017

Jonas und Cäsar auf der Perspektivwechsel-Tour

Erste Perspektivwechsel-Touren absolviert

Premiere: Unsere ersten Perspektivwechsel-Stadtführungen haben am 11. Mai und am 15. Mai stattgefunden. Drei Schulklassen (8. Klasse) aus Oberneuland und Osterholz-Tenever nahmen mit insgesamt 75 Personen daran teil. Die Touren durch das Bremer Bahnhofsviertel dauerten jeweils rund zwei Stunden und wurden gemeinsam geleitet von Jörg, der früher auf der Straße lebte und sich jetzt in der Sozialarbeit engagiert, und Cäsar, dem langjährigen Vertriebskoordinator der Zeitschrift der Straße und Initiator der Perspektivwechsel-Touren. Das Foto oben zeigt Cäsar (rechts) und den Streetworker Jonas Pot d’Or während einer der Touren. Auf den Rundgängen passierten die Gruppen das Elefantendenkmal, die Bahnhofsmission, die Fachstelle Wohnen, die Comeback-Drogenberatungsstelle, den Verein Hoppenbank zur Strafentlassenenbetreuung, die Notunterkunft des Vereins für Innere Mission am Rembertiring, die Ausgabestelle Substitution für Drogenabhängige, das Café Papagei, die Büros der Zeitschrift der Straße und der Uni der Straße sowie die Medizinische Notversorgung. Jörg und Cäsar erklärten den Schüler:innen die Bedeutung dieser Orte und die Aufgaben der Einrichtungen und sprachen mit ihnen über die Problemlagen der Menschen, die sie aufsuchen. Haben die Stadtführungen Perspektivwechsel ausgelöst? Das wird sich erst …

Ein fast vergessenes Lager

#48 WARTURMER PLATZ – Die Siedlung am Wartumer Platz war einst ein „Familien-KZ“. Heute erinnert dort nichts mehr an die dunkle Vergangenheit Wie ein dörfliches Idyll mutet sie heute an, die Siedlung am Warturmer Platz. Lauter kleine Reihenhäuser mit schmucken Vorgärten, dazwischen eine Wiese, und alles ist umringt von Bäumen und Sträuchern. Auf einem kleinen Platz spielen die Kinder einer Kindertagesstätte. Gebaut wurde diese Siedlung in der Zeit des Nationalsozialismus. Als „Wohnungsfürsorgeanstalt“. Initiiert vom damaligen Wohlfahrtssenator Hans Haltermann entstand 1936 eine Unterbringung für die von den Nazis als „asozial“ und „minderwertig“ klassifizierten Familien Bremens. Sie wurde zwangsweise einquartiert und sollten im Sinne des Regimes umerzogen werden. Bis 1940 wurden etwa 160 Erwachsene und rund 400 Kinder eingewiesen. Heute deutet hier kaum mehr etwas auf die Schicksale hin, die Menschen an diesem Ort erlitten haben. Wieder leben Familien in den Häusern. Ob sie die Geschichte der Siedlung noch kennen? Die Anfänge des „Familien-KZ“ und die rassistische Vision von Otto Wetzel Die Anfänge dieses „Familien-KZ“, wie es die Bewohner nannten, reichen bis ins Jahr 1935 zurück. Damals …

#48 Warturmer Platz

Hintergrundfoto: Lomunet Arratiko/flickr.com EDITORIAL: Dorf inmitten der Stadt Der Warturmer Platz liegt versteckt zwischen einer Güterbahntrasse, der Bundesstraße 6, der A 281 und einem Gewerbegebiet. Eine laute, triste Gegend. Findet man aber den Weg in die Senator-Paulmann-Straße, landet man in einer anderen Welt. Die schmale Straße führt zu einem Platz, der auch ein Park sein könnte, mit Bäumen und Büschen auf einer großen Wiese und vor allem: Stille. Dieses Idyll ist umgeben von einem lückenlosen Ring kleiner Reihenhäuser, wie eine Wagenburg. Was heute einem Dorf gleicht, war vor rund 80 Jahren ein Ort des Schreckens. Die Nationalsozialisten hatten die Siedlung als Lager errichtet, in dem sie Sinti und andere einsperrten, die ihnen und ihrer Ideologie nicht passten. Die Familien mussten Zwangsarbeit verrichten, wurden geprügelt und zum Teil auch zwangssterilisiert (Seite 8). Viele Bewohner des Lagers blieben nach dem Krieg in den Häusern, zunächst als Mieter, später konnten sie die Häuser erwerben. Auch wenn die Siedlung lange unter einem schlechten Ruf litt, wurde sie über die Jahrzehnte zu einem kleinen Paradies mit einer dörflichen Gemeinschaft (Seite …

Semesterstart der Uni der Straße

Es geht wieder los! Das Sommersemester 2017 der Uni der Straße bietet ein besonders aktives Programm. Cory Patterson, Koordinator unseres Bildungsprogramms, lädt alle Interessierte zum Mitmachen ein: „Lasst uns gemeinsam ‚auf den Hund kommen‘, mit den Wölfen heulen, zu Künstler:innen werden und menschliche Vielfalt entdecken.“ Am 12. April steht gleich Werder Bremen auf der Tagesordnung. Neugierig? Den Blick ins Semester-Programmheft gibt’s hier. Für aktuelle Infos und zur Anmeldung besuchen Sie bitte die Programm-Website der Uni der Straße. Und schließlich ist gerade ein Beitrag über die Uni der Straße in der taz erschienen.

#47 Reihersiedlung

Hintergrundfoto: Maret Hosemann/flickr.com EDITORIAL: Von Vorurteilen und Hausbesuchen Die Frau hat mich noch nie gesehen, bittet mich aber gleich zu sich herein. „Es ist doch kalt draußen“, sagt sie – und schon kocht sie einen Pott Kaffee für mich, während ich in ihrer warmen Stube sitze. Nein, mit der Presse will sie nicht so gern sprechen, obwohl sie mir viel zu erzählen hat – aber das Leben hat ihr viel Grund gegeben zu misstrauen. Drei Mal sei sie schon geflohen, erzählt sie. Dennoch empfängt sie mich offen und warmherzig. Wenn in der Politik und bei Wohnungsbaukonzernen von der Reihersiedlung die Rede ist, dann wird oft über, aber selten mit den Bewohner:innen dieser Schlichtbauten geredet (Seite 8). Und: Ja, auch wir haben Berührungsängste. Aber wir haben uns aufgemacht und waren bei Michaela (Seite 12) und Mücke (Seite 14), bei Günter und Heiko (Seite 20), haben Dieter getroffen (Seite 22) und auch allerlei Haustiere gestreichelt (Seite 16). Und wir waren bei den Nachbar:innen aus der Reiherstraße, um mit jenen zu reden, die allerlei Vorurteile pflegen und damit …

„Ich bin auch für radikalere Maßnahmen offen“

#47 REIHERSIEDLUNG – Ein Gespräch über Schlichtwohnungen, Hausbesetzungen und die Ohnmacht der Bremer Politik – mit Joachim Barloschky vom Aktionsbündnis „Menschenrecht auf Wohnen“ Zeitschrift der Straße: Brauchen wir mehr Schlichtwohnungen in Bremen? Joachim Barloschky: Gegenwärtig sieht es so aus, also ob wir bald gar keine mehr haben. Eben! Unser Aktionsbündnis tritt dafür ein, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum in der Stadt gibt. Der muss natürlich einen ordentlichen Standard haben und gewisse ökologische Kriterien erfüllen. Dafür kämpfen wir. Die Menschen in den Schlichtbausiedlungen sind oft mit wenig zufrieden. Ich wurde neulich von einem Freund angegriffen: Barlo, bist du jetzt auch noch einer, der sich für die Scheiß-Wohnungen einsetzt? Nein. Aber im Gegensatz zur Vonovia haben wir mit den Bewohnern geredet, während die Politiker nur mit der Vonovia geredet haben. Die Bewohner:innen wollen bleiben, eine einfache Sanierung und Mitbestimmung. Was würde das konkret heißen? Es müsste dort zumindest Warmwasser und eine Heizung geben. Das kann man machen. Das haben ja die Bewohner:innen in der Holsteiner Straße in Walle alles selbst organisiert. Die haben richtige Investitionen getätigt! Das …

Die Macht der Gewöhnung

#46 WACHMANNSTRASSE – Nach anfänglichen Protesten akzeptieren die Schwachhauser heute die Unterkunft für Geflüchtete Am Anfang war die Angst vor den Flüchtlingen groß. Rückblende: Wir schreiben das 2013 und der Bremer Senat sucht händeringend nach Wohnraum. In Schwachhausen wird eine zweite Flüchtlingsunterkunft geplant, über 1.000 Menschen flüchten allein in diesem Jahr nach Bremen. 2016 werden es sogar 3.185 sein. Doch so einfach ist das in Schwachhausen nicht. Die grüne Beiratssprecherin Barbara Schneider erinnert sich, dass einige Anwohner:innen vorschlugen, neue Flüchtlingsunterkünfte doch lieber in Tenever einzurichten. Weil dort die Nachbarn doch auch Arabisch sprächen. Als im Dezember 2013 die erste Einwohnerversammlung einberufen wird, stellen sich die Stadtteilpolitiker:innen schon auf die alten, vorurteilsdurchtränkten Argumente ein. Und die kommen auch: „Es ist oft nur eine Frage von Minuten, bis die ersten Ängste wegen Lärm, Dreck und Kriminalität durch die Flüchtlinge ausgesprochen werden“, sagt Schneider. Die entkräftet sie mit Fakten: Die Bremer Polizei verzeichnet rund um Flüchtlingsunterkünfte keinen Anstieg von Kriminalität. Ebenso wenig käme es vermehrt zu Ruhestörungen. Die Mehrheit der gut 60 Anwohner:innen scheint diese Sorgen nicht zu …

#46 Wachmannstrasse

Hintergrundfoto: Michael Vogel EDITORIAL: Ein bisschen Angst und Idealismus Wenn du aus südwestlicher Richtung kommst und in die Wachmannstraße willst, puh! – also bevor es da so richtig bürgerlich-lauschig wird, muss ja erst einmal der Stern bezwungen werden. „Ein Angstraum“ ist das, sagt der Landes­behinderten­beauftragte, mit dem wir dort einen kleinen Rundgang gemacht haben (Seite 26). Doch schon ein paar Meter weiter kann es erstaunlich ruhig sein! In der alten Villa nämlich, in der statt Kaufleuten und Richtern heute lauter Buddhisten residieren. Wir haben sie mal zu Hause besucht, wo es übrigens sehr schlicht, aber gar nicht so religiös zugeht (Seite 20). Auch anderswo an der Wachmannstraße ist es weniger bourgeois, als man gemeinhin denkt. Nicht nur in dem ehemaligen Seniorenheim, in dem heute geflüchtete Menschen leben – was nicht jedem im Schwachhausen gleich gefallen hat (Seite 28). Sondern auch bei dem Cembalobauer Christian Kuhlmann, in dessen Werkstatt früher mal ein reicher Kaffeeröster sein Büro hatte. Dort haben wir einen idealistischen Autodidakten kennengelernt, der andere gern zu sich nach Hause einlädt (Seite 8). Ein paar …

„Das ist oft berührend“

Ein Gespräch mit Petra Kettler, der neuen Vertriebskoordinatorin der Zeitschrift der Straße Wie sahen deine ersten Tage als Vertriebskoordinatorin aus? Ich habe vor allem viel mit den ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Wir haben Verbesserungsvorschläge gesammelt und Dinge angesprochen, die bei der Arbeit stören. Da konnte ich einiges herauslocken, das sie von sich aus vielleicht nicht gesagt hätten. Zum Beispiel? Das Büro war manchmal etwas schmuddelig. Das Reinigungsunternehmen ist nur für die Fußböden und Toiletten zuständig. Alles andere müssen wir aber selbst sauber halten. Wenn man das weiß, wischt man den Kaffeefleck eben schnell mal weg. Das ist ja nicht weiter schlimm. Wie erlebst du die Stimmung im Vertriebsteam? Alle stehen voll hinter dem Projekt! Es ist ja kein gewöhnliches Ehrenamt: Man hat Kontakt mit Menschen, mit denen man sonst eher wenig zu tun hat. Wir schnacken viel mit unseren Verkäufern, sofern die Sprache das zulässt, und erfahren viel aus ihrem Leben. Das ist oft berührend. Was gehst du als nächstes an? Im Büro bin ich dabei, die Dinge ein wenig zu ordnen – Strukturen …

#45 Humboldtstrasse

Hintergrundfoto: Alain Rouiller/flickr.com EDITORIAL: Etwas teurer, noch erlesener Schön, dass Sie sich eine Zeitschrift der Straße gekauft haben! Vielleicht haben Sie dabei gestutzt: Unser Magazin ist etwas teurer geworden. Und nicht dicker. Aber wir können Ihnen das erklären! Tun wir natürlich auch, in aller gebotenen Ausführlichkeit: auf den Seiten 28 und 29. Dafür bekommen Sie jetzt ein paar Geschichten aus der Humboldtstraße, die Sie sonst noch nirgendwo gelesen haben! Zum Beispiel haben wir einen wunderbaren Künstler entdeckt, der dort sein Atelier hat, aber völlig zu Unrecht noch nie irgendwo ausgestellt wurde: Fabian Schulze (Seite 14). Außerdem haben wir uns in der Friedensgemeinde mit einem Iraner getroffen, der in seiner alten Heimat vom Tod bedroht ist – weil er Bibelkurse besucht. Jetzt hat er erstmals mit einer Journalistin gesprochen (Seite 24). Schon früher wurden Anwohner:innen der Humboldtstraße verfolgt. Die Stolpersteine erinnern deshalb an sie. Aber wer waren diese Menschen eigentlich? (Seite 20). Weil diese Ausgabe im Viertel spielt, ist auch seine Gentrifizierung ein Thema für uns – also die schleichende Verdrängung einkommensschwächerer BewohnerInnen durch die Aufwertung …