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„Der Wurm muss dem Fisch und dem Angler schmecken“

#75 BROMMYPLATZ – Bertold Reetz (oben links) und Michael Vogel haben 2010 zusammen die Zeitschrift der Straße gegründet – jetzt geben sie die Leitung des Projektes ab. Ein Gespräch über Konzepte und Lernerfolge, Krisen und die Zukunft    

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Michael Vogel: Das Ganze hat als Lernprojekt für Studierende begonnen – und nicht in erster Linie als Straßenmagazin. Dass es dann doch so gekommen ist, lag daran, dass es in Bremen bis 2011 noch kein eigenes Straßenmagazin gab.  

Bertold Reetz: Wir hatten bei der Inneren Mission ja schon mal eine Straßenzeitung entworfen, der Vorstand hat dann aber entschieden, dass das finanzielle Risiko zu groß ist. Damit war das für mich erst einmal gegessen – bis Michaels Studierende aus Bremerhaven vorbeikamen.

Michael Vogel: Das wesentliche Argument war, dass das Projekt erst einmal kein eigenes Personal benötigen würde. Die Studierenden sollten das einbringen, was sie in ihrem Studium lernen und dabei etwas machen, was sie sonst nur für ihre ProfessorInnen getan hätten. Damit war zugleich ein viel geringer wirtschaftlicher Aufwand für die Inneren Mission verbunden. In den ersten Jahren haben wir es zudem immer wieder geschafft, eine Finanzierung von außen zu bekommen, wenn ein Defizit da war. So haben wir quasi spielerisch begonnen.

Bertold Reetz: Für mich stand das Lernprojekt nicht so sehr im Vordergrund – ich wollte den Wohnungslosen eine Perspektive geben. Sie sollten etwas verkaufen können und dabei auf Augenhöhe sein, statt nur am Boden zu sitzen und zu betteln. Und alle VerkäuferInnen sollten selbst regeln können, wann sie wie viel verkaufen. Das war der Reiz: Ein Straßenmagazin als niedrigschwellige Möglichkeit, wieder in eine Tagesstruktur zu kommen.   

Bertold Reetz: Ganz schlecht! Wir haben zunächst kaum VerkäuferInnen gefunden – da war die Zeitschrift der Straße auch für mich ein Lernprojekt. Die ersten VerkäuferInnen waren drogenkranke Menschen, die Geld beschaffen mussten, um ihre Sucht zu finanzieren. Viele haben sich aber geschämt, das Magazin zu verkaufen. Da musste ich mir häufig anhören: „Dann weiß ja jeder, dass ich wohnungslos bin.“ Die Zeitschrift der Straße war einfach noch nicht etabliert – heute ist das anders, viele können sich jetzt eher mit dem Projekt identifizieren.           

Michael Vogel: Das rein typografische und sehr markante Design des Heftes war auch zunächst so, dass man gar nicht erkennen konnte, dass das eine Zeitschrift war. Aus der Entfernung wurde sie oft für ein Theaterprogramm gehalten.

Michael Vogel: Wir gingen von anderen Nutzen-Vorstellungen aus. Wenn der Verkauf bei einem mal besonders gut lief, dann ist er nicht etwa länger am Standort geblieben, um noch mehr zu verkaufen – sondern er hat umso früher damit aufgehört! Das war für mich als Ökonomen ein interessanter Lerneffekt, denn es widerspricht vielen Marketing-Lehrbüchern. Wir dachten: Wenn man mit einem Produkt der Monopolist ist in der Stadt: Wie kann man es dann nicht verkaufen wollen? Und wenn es gut läuft: Warum sollte man dann nicht weiter machen, um noch mehr zu verdienen? Das Argument der VerkäuferInnen war: Ich habe für heute genug verdient. Das ist verständlich, aber damit hatten wir nicht gerechnet.

Bertold Reetz: Wir haben am Anfang auch Promi-Verkäufe gemacht, unter anderem mit Bürgermeister Jens Böhrnsen von der SPD und Bürgermeisterin Karoline Linnert von den Grünen. Irgendwann gab es dann aber einen Stamm von VerkäuferInnen, die erkannt haben, dass sie so zusätzlich Geld verdienen und sich das eine oder andere extra leisten können.           

Ex-Bürgermeister Jens Böhrnsen und Verkäuferin Kati mit der Ausgabe #1 SIELWALL im Februar 2011

Ex-Bürgermeister Jens Böhrnsen und Verkäuferin Kati mit der Ausgabe #1 SIELWALL im Februar 2011 (Foto: M. Vogel)

Michael Vogel: Wie viele Start-Ups mussten auch wir erst einmal vieles ausprobieren, um zu verstehen, was funktioniert. Das war nicht vorhersehbar. So haben wir bis 2015 auch richtig Geld verbrannt – über 80.000 Euro. Das waren Verluste, die wir durch gewonnene Wettbewerbe und Förderpreise kompensieren mussten. Erst nach vier Jahren hat die Zeitschrift der Straße ihre eigenen Kosten gedeckt – das ging einher mit einem neuen Design und einer Verschlankung von Prozessen. Heute ist die Zeitschrift der Straße ein Lern- und Sozialprojekt mit einem Geschäftsmodell, das sich selbst trägt. Das macht sie besonders. Zugleich spielt Werbung nur eine sehr untergeordnete Rolle im Heft, und es gibt auch keinerlei Advertorials – sondern eine ganz klare redaktionelle Unabhängigkeit.    

Michael Vogel: Wir sind zu spät gekommen. Die anderen Straßenzeitungen gab es da ja alle schon seit 15 Jahren! Sie entstanden in einer Zeit, in der das gesellschaftliche Miteinander noch verbreiteter war. Lobby der Wohnungslosen zu sein war verkaufsfördernd.

Bertold Reetz: Als wir anfingen, gingen die Absatzzahlen etwa bei „Asphalt“ aus Hannover schon runter. Das war bei anderen Straßenzeitungen auch so. Es gibt durch den Verkauf auf der Straße eine Verbindung zu all den sozialen Themen, ohne dass man sie permanent thematisieren muss. Wir wollten ein modernes Magazin in einem besonderen Format aufbauen, das zeitlos, aber auch kulturell wertvoll ist und die einzelne Straße beschreibt, in der die jeweilige Ausgabe eben spielt. Wir haben damit eine Lücke in der Bremer Medienlandschaft gefüllt – und man das Magazin auch sammeln! Indirekt sind wir natürlich aber trotzdem auch Fürsprecher für jene, die sonst keine Stimme haben. 

Michael Vogel: Wenn die Leserschaft in jeder Ausgabe überwiegend unangenehme Themen findet, ist das auf die Dauer zu viel. Wir sind da leichtgängiger, aber auch authentischer, weil wir die Probleme dann thematisieren, wenn sie zu dem jeweiligen Ort passen.

Bertold Reetz: Wenn sie sich finanziert und dabei unabhängig ist, wenn sie eine gewisse Auflage erreicht und die Menschen, die sie verkaufen, sich damit identifizieren können.       

Michael Vogel: Eine Straßenzeitung muss von den VerkäuferInnen angenommen werden, aber auch von den LeserInnen. Und deren Präferenzen können jeweils ganz unterschiedlich sein. In unserem Fall muss also der Wurm nicht nur dem Fisch, sondern auch dem Angler schmecken. Das ist ein Spagat, der uns am Anfang viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Die Gestaltung etwa war anfangs vor allem für den Angler gedacht. Jetzt haben wir da eine Balance gefunden und können trotzdem noch Sehgewohnheiten herausfordern.

Michael Vogel: Preise haben wir sogar schon gewonnen, als die Zeitschrift noch tief in den roten Zahlen steckte! Manche waren Designpreise, andere hatten mit der Geschichte des Magazins zu tun und mit der Kooperation von Studierenden und Wohnungslosen.

Bertold Reetz: Ja! Gleich zwei Mal.

Michael Vogel: Nach der sechsten Ausgabe hatten wir kein Geld mehr. Wir saßen dann zusammen und haben überlegt: Wie kommen wir jetzt mit Anstand aus diesem Projekt raus? Dann bekamen wir eine Auszeichnung mit Preisgeld und es ging weiter. Das war aber echt auf Kante genäht! 2014 zog sich dann die Hochschule für Künste aus dem Projekt zurück, zugleich hatten wir beschlossen, zehn statt nur sechs Ausgaben im Jahr zu machen, damit die VerkäuferInnen öfter ein neues Produkt anzubieten haben. Dazu kam, dass unser damaliger Chefredakteur nach Karlsruhe zog. Wir standen also auf einmal ohne Design, ohne Layouter, ohne Fotografen und ohne Redaktionsleitung da – und hatten nur noch den Vertrieb. Das war ein Moment, indem wir mehrere Nächte lang gebrütet haben, ob es überhaupt Sinn hat, weiter zu machen.  

Bertold Reetz: Der Hochschule für Künste ging es auch gar nicht darum, dass Bedürftige die Zeitschrift verkaufen, das war nur ein Nebeneffekt ihres Designs. Als ich gemerkt habe, dass das nicht zusammen passt, dachte ich: Das Projekt ist gestorben.     

Bertold Reetz: Man muss kompromissbereit sein und kooperativ, man muss sich trauen, auch verrückte Ideen einzubringen, zu gucken, ob sie ankommen und auch damit leben können, wenn sie sich am Ende nicht durchsetzen, obwohl man selbst sehr überzeugt davon war. Man braucht eine hohe soziale Kompetenz, damit das ein zuverlässiges Projekt ist – denn am Ende leben Menschen davon, die VerkäuferInnen verlassen sich darauf, dass immer wieder eine neue Ausgabe erscheint. Bei dem Gedanken: ‚Was machen all diese Leute ohne uns?‘ hatte ich manchmal schlaflose Nächte.

Michael Vogel: Ein anderer Erfolgsfaktor, den ich nicht hätte vorhersagen können: Wir hatten nie einen Vertrag miteinander! So etwas gibt es ansonsten sehr selten. Die Zeitschrift war immer schon ein loses, nicht institutionalisiertes Netzwerk, das auf Freiwilligkeit basiert und auf dem gemeinsamen Willen zum Erfolg.

Bertold Reetz: Die Innere Mission hat zwar einen geschützten Rahmen geboten und das Know-how und die Räume zur Verfügung gestellt, die Kontakte zu den StreetworkerInnen und VerkäuferInnen – aber inhaltlich nie Einfluss genommen. Mittlerweile ist es uns gelungen, eine Mitarbeiterin über die Zeitschrift
der Straße
zu finanzieren, zusätzlich zur Redaktionsleitung – das war immer unser Traum!

Michael Vogel: Ja! 

Bertold Reetz: Wir beobachten das!

Michael Vogel: Eine der Herausforderungen wird sein, einen größeren Verkäuferstamm aufzubauen, gerade in den Stadtteilen, in denen die Zeitschrift der Straße bisher gar nicht vertreten ist. Da gibt es noch viel Potenzial in Bremen – zugleich möchten wir gerade dazu beitragen, dass weniger Menschen eine Straßenzeitung verkaufen müssen. Da schlagen zwei Herzen in unserer Brust.    

Bertold Reetz: Ich habe ja davon geträumt, dass es bei uns nicht allein um Wohnungs- und Obdachlose geht, sondern auch um andere Menschen, die nicht viel Geld haben, RentnerInnen etwa. Aber eine Straßenzeitung zu verkaufen ist noch immer sehr mit Scham besetzt.

Michael Vogel (links) und Studierende im Jahr 2013 mit Ausgaben der Zeitschrift der Straße. Das damalige Design wurde 2015 abgelöst. (Foto: privat)

Michael Vogel: Über 1.200 Menschen haben die Zeitschrift der Straße verkauft, weit über 600 Studierende aus mindestens neun Studiengängen und fünf Hochschulen haben daran mitgearbeitet. Zudem ist die Uni der Straße als Bildungsprogramm aus der Zeitschrift hervor gegangen, dazu die soziale Stadtführung „Perspektivwechsel“. Das hätten wir uns am Anfang nie vorstellen können!    

Michael Vogel: Die Uni der Straße wird es dann immer noch geben, die Stadtführungen auch. Es werden sich weitere solcher Projekte aus der Zeitschrift entwickeln, sie selbst wird aber aus sich heraus nicht so stark wachsen. So ist eher eine Triebfeder für neue sozial-unternehmerische Initiativen.   

Bertold Reetz: Ich lege mich darauf fest, dass wir in fünf Jahren mehr als 10.000 Hefte pro Ausgabe drucken und absetzen.

Bertold Reetz: Natürlich – das ist die einzige Möglichkeit für die VerkäuferInnen. Und das Heft in der Hand zu haben ist auch einfach ein gutes Gefühl! Ich glaube, dass die Digitalisierung auch an ihre Grenzen kommt – und wir dann mehr Hefte verkaufen.   

Michael Vogel: Das sind wir etwas unterschiedlicher Auffassung. Ich glaube, dass alle gedruckte Zeitungen und Magazine schweren Zeiten entgegen gehen. Es gibt ja in anderen Ländern schon Experimente mit digitalisierten Straßenzeitungen – bisher aber mit mäßigen Erfolg. Da ist noch keine echte, gute Innovation erkennbar. Wir sollten aber nicht die letzten sein, die noch auf Papier verkaufen, wenn die ganze Welt digital funktioniert.

Bertold Reetz, 65, arbeitete seit 1993 in der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission in Bremen. Von 1996 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand war er ihr Bereichsleiter. Seine Aufgabe übernimmt Katharina Kähler, die wir in der kommenden Ausgabe vorstellen.  

Michael Vogel, 52, ist Professor für Entrepreneurship Education an der Hochschule Bremerhaven, wo er seit 2003 lehrt. Sein zehn Jahre währendes ehrenamtliches Engagement als Anzeigenleiter, Fundraiser und Online-Redakteur der Zeitschrift der Straße setzt er weiter fort.

Interview:
Tanja Krämer und Jan Zier
Beitragsbild:
Jan Zier

#75 BROMMYPLATZ

EDITORIAL: Das kostet Leben

Die Zeitschrift der Straße ist teurer geworden, um 30 Cent, um genau zu sein. Das heißt: In diesem Jahr bekommen unsere VerkäuferInnen eine Gehaltserhöhung! Denn wir teilen uns das Geld brüderlich. 1,40 Euro gehen pro Ausgabe an die Menschen, die sie verkaufen. Und 1,40 Euro gehen an uns, die wir dieses Heft (und noch ein paar andere Sachen) für die Wohnungslosen machen. Der Grund für die Preiserhöhung ist simpel: Das Leben ist teurer geworden. Auf der Straße sowieso. Aber auch die Produktion dieser Zeitschrift kostet mehr als früher – etwa das Papier, auf dem diese Zeilen stehen. Da wir knapp kalkulieren, um dieses Sozialprojekt überhaupt realisieren zu können, müssen wir diese Kosten an Sie weitergeben. Wir hoffen, Sie bleiben uns dennoch gewogen!

Im neuen Jahr sind wir zunächst mal nach Peterswerder gezogen, wo wir mit einem Stadtplaner darüber geredet haben, wie der Gründerzeitplatz zu dem wurde, was er heute ist (Seite 12). Außerdem haben wir einen Mann getroffen, der zwar blind ist, aber findet, dass es ja noch Schlimmeres gibt im Leben (Seite 22). Wir haben lange mit allerlei Leuten auf dem Brommyplatz abgehangen (Seite 16) und auch mit Eltern geredet, die ihr Kind lieber hier großziehen als draußen auf dem Land (Seite 26). Und wir waren zu Gast bei einer Frau, die das hatte, was man gemeinhin eine schwere Kindheit nennt, aber trotzdem etwas aus ihrem Leben gemacht hat (Seite 8).

Außerdem ist es für uns an der Zeit, Abschied zu nehmen: Die Zeitschrift der Straße hat eine neue Leitung bekommen – Zeit für eine kleine Bilanz in eigener Sache (Seite 28).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Jan Zier, Tanja Krämer
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

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Aus dem Inhalt:

08 „Da hast du mal gelegen“

Die Lehrerin Finja Noffke hatte eine schwere Kindheit. Dann verlor sie
auch noch ihre Beine. Heute vermittelt sie Kindern die Lust am Leben

12 Weg mit dem Grün!

1991 war der Brommyplatz vor lauter Pflanzen kaum noch zu erkennen. Dann kam Heidbert Bäuerle

16 Bildstrecke

Gelb auf Grau

22 „Ich habe ein schönes Leben“

Dirk Graf-Frömke ist seit 25 Jahren blind. Ein Gespräch über Schicksalsschläge, neue Perspektiven – und Humor

26 Die Kinder vom Brommyplatz

Aufs Land ziehen oder nicht? Die Sobotkas haben sich entschieden

28 „Der Wurm muss dem Fisch und dem Angler schmecken“ (erweiterte Fassung online lesen)

Bertold Reetz und Michael Vogel haben die Zeitschrift der Straße gegründet – jetzt geben sie die Leitung ab. Ein Gespräch über Lernerfolge, Krisen und die Zukunft

Beitragsbild: Taema/flickr.com

EIN GUTER VORSATZ FÜR 2020

„Likes“ sind die digitale Währung für Sichtbarkeit und Anerkennung in den sozialen Medien und lösen die Produktion des Glückshormons Dopamin aus. Der hohe Anteil von Selfies in Timelines auf Instagram, Facebook etc. zeugt davon, wie wichtig Sichtbarkeit für das eigene Ego ist. Wer im Netz keine Schar von „Freunden“ und Followers hat, ist speziell bei jüngeren Altersgruppen gesellschaftlich geradezu irrelevant.

Wie ergeht es da Menschen, die nicht nur in der virtuellen Welt unsichtbar sind, sondern sogar in der realen? Menschen, die konsequent übersehen werden, weil ihr Anblick andere Menschen an Abgründe erinnert, die sie lieber verdrängen möchten? Menschen, die nicht nur keine „Likes“ erhalten, sondern vertrieben, ausgegrenzt und diskriminiert werden? Täglich. Die aus politischem Kalkül sogar in amtlichen Statistiken unsichtbar sind: Menschen ohne Wohnung.

Diese Bevölkerungsgruppe hat weder das Selbstbewusstsein, noch die Ressourcen, um für die eigenen Interessen kämpfen. Auf sich allein gestellt, wären wohnungslose Menschen nicht nur unsichtbar, sondern auch sprachlos. Zum Glück haben sie in Bremen eine kleine Lobby, die ihnen eine Stimme und ein wenig politisches Gewicht verleiht. Zu dieser Lobby gehören z.B. das Bremer Aktionsbündnis „Menschenrecht auf Wohnen“, der Verein für Innere Mission als Träger der Wohnungslosenhilfe, einige weitere Hilfsorganisationen und die Zeitschrift der Straße. Auch Sozialsenatorin Anja Stahmann engagiert sich für die Verbesserung der Lebenssituation wohnungsloser Menschen in Bremen.

Was jedoch fehlt, ist ein breites öffentliches Bewusstsein und Verständnis für das Leid, die Unsicherheit und die Scham, die Wohnungslosigkeit für die Betroffenen bedeuten. Um Aufklärungsarbeit zu leisten, bietet die Zeitschrift der Straße seit 2017 „Perspektivwechsel“-Führungen durch das Bremer Bahnhofsviertel an. Tandems aus ehemals wohnungslosen Menschen und Ehrenamtlichen erklären die „Szene“ und ihre Plätze, stellen Hilfsangebote vor und beantworten alle Fragen rund um das Leben auf der Straße. Ebenfalls mit dem Ziel, neue Perspektiven auf Wohnungslosigkeit zu eröffnen, produzierte und veröffentlichte das Team der Zeitschrift der Straße den Videospot „Ab heute nicht mehr unsichtbar“.

Falls Sie noch auf der Suche sind nach einem guten Vorsatz für 2020, hätten wir einen Vorschlag: Gehen Sie stets mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Stadt und achten Sie auf Menschen in besonderer wirtschaftlicher und sozialer Not. Damit überwinden Sie deren Unsichtbarkeit. Schauen Sie hin und helfen Sie nach Ihren Möglichkeiten. Oder tun Sie sich und anderen etwas Gutes und engagieren Sie sich ehrenamtlich. Die Freiwilligenagentur Bremen, der Verein für Innere Mission und das Team der Zeitschrift der Straße informieren Sie gern.

Wir wünschen Ihnen ein gesundes und erfülltes neues Jahr.

Text und Bildbearbeitung: Michael Vogel
Beitragsbild: baerchen57/flickr.com

GEHT DURCH BREMEN MIT OFFENEN AUGEN!

Auf der Straße zu leben ist hart. Aber zu Beginn des Winters wird es für viele Obdachlose noch härter – im schlimmsten Fall lebensgefährlich.

 

Im Idealfall werden Menschen gar nicht erst obdachlos. Aber es passiert, und zwar Tausenden, in Deutschland. Als Vertriebskoordinator der Zeitschrift der Straße werde ich häufig von Freunden und Bekannten gefragt: Was kann ich tun in der kalten, nassen Jahreszeit? Wie kann ich helfen, wenn ich Obdachlosen auf der Straße begegne?

Ganz klar, eine Tasse heißen Kaffee oder etwas Geld können nicht schaden. Wenn es sich um einen Verkäufer der Zeitschrift der Straße handelt, kauft ihm ein oder zwei Hefte ab. Ihr könnt die Person auch fragen, ob sie Hilfe benötigt; menschenfreundliche Ansprache ist immer gut.

Aber ich möchte davor warnen, zu meinen, das wäre genug. Man sollte immer gucken, ob man mehr tun kann. Wer einen Obdachlosen im Winter auf der Straße schlafen sieht, kann den Rettungsdienst (112) alarmieren. Lieber einmal zu viel angerufen haben, als einen möglicherweise erfrierenden Menschen auf der Straße allein zu lassen. Auch der Verein für Innere Mission und seine Streetworker sind geeignete Ansprechpartner. Leider gibt es in Bremen, anders als in anderen Großstädten, noch kein „Kältetelefon“.

Wann sollte man auf jeden Fall einschreiten? Hält sich jemand über längere Zeit regungslos an der gleichen Stelle auf, sollte unbedingt Hilfe geholt werden. Das gilt auch für den Fall, wenn die Person erkennbar nicht der Witterung entsprechend angezogen ist oder ohne Schlafsack ungeschützt auf der Straße liegt.

Wenn ihr euch mit gesundem Menschenverstand ausrechnen könnt, dass das nicht gut gehen kann, seid ihr sogar gesetzlich verpflichtet, Hilfe holen. Ist die Situation vermutlich lebensbedrohlich, ist ein Anruf beim Rettungsdienst (nochmal: 112, bitte einprägen) notwendig. Dann ist es auch wichtig, zu warten, bis der Rettungsdienst kommt.

Generell gilt jedoch: Niemand sollte sich selbst in Gefahr bringen, um Hilfe zu leisten. Wenn ihr allein bei Dunkelheit unterwegs seid, auf jemanden in einer Notlage aufmerksam werdet, aber Angst habt, selber einzuschreiten, ruft besser den Rettungsdienst oder auch die Polizei (110 oder 112).

Viele Menschen wenden sich verunsichert oder angewidert von Obdachlosen ab. Woher kommen die Berührungsängste? Natürlich sind da die hygienischen Defizite. Aber oft wird Obdachlosen auch die Schuld an ihrer Situation zugeschrieben, für die sie nun eben büßen müssten. Doch die Gründe für eine Obdachlosigkeit sind nach meinen Erfahrungen so vielfältig, dass einfache Antworten schlicht falsch sind. Fast immer kommen mehrere Faktoren zusammen: psychische Erkrankungen, Abhängigkeiten, Gewalterfahrungen, familiäre Schicksalsschläge oder auch „nur“ der Verlust des Arbeitsplatzes. Häufig sind Obdachlose auch besonders sensible Menschen, die dem Druck der Leistungsgesellschaft nicht gewachsen sind. Ich rate unbedingt zu einem offenen Umgang mit den Betroffenen.

Also große Bitte an euch: Geht mit offenen Augen – und offenen Herzen! – durch unsere Stadt, vor allem in der nasskalten Jahreszeit.

 

Text: Reinhard „Cäsar“ Spöring
Foto: Brownpau/flickr.com

 

#74 LANGEMARCKSTRASSE

EDITORIAL: Vom Heim- und Fernweh

Das Erbe des Nationalsozialismus ist noch immer präsent in Bremen – zum Beispiel in der Straße, der wir uns diesmal gewidmet haben. Denn die Langemarckstraße erinnert mit ihrem Namen an eine Schlacht im Ersten Weltkrieg, die von den Nazis instrumentalisiert und in ihrem Sinne hochstilisiert wurde. Bis heute konnte man sich nicht darauf einigen, die Straße umzubenennen. Dabei passt dieser Name so gar nicht zu diesem Ort: Denn die Langemarckstraße kann viel davon erzählen, wie es ist, wenn verschiedene Kulturen friedlich zusammenleben. Alte und Junge, Alteingesessene und Zugezogene prägen ihn – Menschen, die angekommen sind oder noch nach einem Zuhause suchen.

So wie Xander Abdul, ein junger Mann, der an der Universität Bremen
Jura studiert. Und nebenbei im Restaurant seiner Mutter aushilft. Er sprach mit uns über Familie, Religion und Zusammenhalt in der afrikanischen Community (Seite 8). Ein Teil dieser Community findet sich auch in unserer Bildstrecke wieder. 13 Friseure säumen die Langemarckstraße – auf nicht mal einem Kilometer. Wir haben sie mal gefragt, warum sie ihren Beruf ergriffen haben (Seite 14).

Den Traum vom Reisen verkaufen auch Ernst Kaiser und Rene Schnittger. Der eine bietet seit über sechzig Jahren Wohnwagen feil (Seite 12). Der hat einen Growshop – und hat Pflanzhilfen und Gerätschaften für KundInnen, die es eher ins Traumland zieht (Seite 20).

Auch unser Verkäufer Michael Luuk hatte eine Arbeit, auf die er stolz war. Doch das ist lange her. Wie er sie verlor, warum er nach Bremen kam und wieso es ihn woanders hinzieht, erzählte er uns in seinem selbst ernannten Wohnzimmer, dem Gordons (Seite 26).

Viel Spaß beim Lesen wünschen Jan Zier, Tanja Krämer
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

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Aus dem Inhalt:

08 „Wir wollen unsere Herkunft nicht verstecken“

Xander Abdul arbeitet neben seinem Studium im Familienbetrieb
„Mommies Corner“. Es steht für vieles, was sein Leben ausmacht

12 Herr Kaiser verkauft Träume (online lesen)

Seit 1957 werden in der Langemarckstraße Wohnwagen verkauft. Mittlerweile ist der Chef über 90 und sein Mechaniker eigentlich im Ruhestand

14 Spieglein, Spieglein

Bildstrecke

20 „Meine Kunden sind keine Versuchskaninchen“

Rene Schnittger betreibt einen Growshop. Ein Gespräch über Berufung, Beratung, polizeiliche Razzien und die Frage, was er überhaupt darf

24 Wechselhaft

Das ehemalige Jacobs-Fabrikgebäude hatte viele Funktionen und Besitzer

26 Der Traum vom Buchladen

Michael Luuk sehnt sich nach ein paar freien Tagen. Wir treffen den Verkäufer der Zeitschrift der Straße in seinem selbst ernannten Wohnzimmer

Herr Kaiser verkauft Träume

#74 LANGEMARCKSTRASSE – Seit 1957 werden in der Langemarckstraße Wohnwagen verkauft. Mittlerweile ist der Chef über 90 und sein Mechaniker eigentlich im Ruhestand. Ein Betriebsbesuch

Die Ladenschilder sind schon längst nicht mehr die Neuesten. Auf grellem, orangem Untergrund steht „An- und Verkauf“, „Wohnwagen“ oder auch das dazugehörige Synonym „Caravan“, außerdem der Hinweis: „Radikal reduziert“. Und immer wieder der Name des Inhabers: Kaiser.

„Ich bin schon 93 Jahre alt und laufe noch“, sagt Ernst Kaiser stolz, während er langsam am Stock durch sein Verkaufsbüro geht. An der Wand hängen die Glückwünsche der Bremer Handelskammer zum 50-jährigen Bestehen des Unternehmens. Die Urkunde ist von 2007. Früher habe er auch Autos verkauft, sagt Kaiser, aber mittlerweile biete er nur noch Wohnwagen an.

Vom Prominenten-Shop zum Campingbedarf

Alte Schwarz-Weiß-Fotos von 1957 zeigen allerlei VW Käfer oder Borgwards bei „Automobile Ernst Kaiser“, und 1982 kaufte der heute vergessene Lou van Burg hier einen Wohnwagen: „Auch Prominenz muss mal ruhen“, heißt es dazu. Im Deutschland der 1950er-Jahre hatte „Onkel Lou“ als Sänger seinen ersten Hit, später war er Showmaster beim ZDF und wurde mal für seinen der Ausruf „Wunnebar“ bekannt.

Betritt man den Laden in der Langemarckstraße heute, fühlt man sich zunächst eher an ein Reisebüro erinnert: ein kleiner Vorraum mit Stühlen, dazu Zeitschriften und Reklame für Wohnwagen und Camping vor atemberaubenden Landschaften. Hinter einer Glasscheibe sind die Mitarbeiterräume, im hinteren Teil des Gebäudes befindet sich eine geräumige Verkaufsfläche. Hier kann man von der Druckknopfzange über rote Plastikheringe bis hin zur Nachttischlampe alles kaufen, was fürs Camping nützlich sein könnte.

Familienbetrieb im Wandel

Da der Chef mittlerweile die meiste Zeit im Rollstuhl sitzt und auch nicht mehr allzu gut hört, übernehmen seine MitarbeiterInnen die meiste Arbeit. Zurzeit sind es drei Leute: Eine Frau macht die Buchhaltung, zwei Männer kümmern sich um den Verkauf und die Reparatur der Fahrzeuge. Rolf Warnken ist einer dieser beiden Mechaniker. Er ist selbst schon 69 und seit gut zehn Jahren hier angestellt. Die Arbeit teilt er sich mit seinem Kollegen, sodass jeden Tag immer nur einer in der Werkstatt ist. „Falls es mal etwas gibt, wofür wir zwei brauchen, helfen wir uns gegenseitig aus“, sagt Warnken. 25 Wohnwagen werden hier im Jahr verkauft. Zum Vergleich: Zwischen Oktober 2018 bis September 2019 gab es in ganz Deutschland 26.573 Neuzulassungen für Wohnwagen.

Persönliche Beratung im Campingladen

Ein Kunde betritt den Laden, er sucht eine Kederleiste. Das ist eine Vorrichtung, die man am unteren Rand des Wohnwagens anbringen kann, um mit einer Plane den Durchzug unter dem Wohnwagen zu verhindern. Sie ist wichtig, wenn man ein Vorzelt vor dem Wohnwagen aufbauen will. „Manche Kunden verdecken damit aber auch Beulen und Ähnliches“, sagt Warnken. Er berät, sagt, was sonst noch so da ist und was bestellt werden müsste. Am Ende kauft der Kunde eine Leiste aus dem Sortiment. Der Preis wird spontan abgesprochen: Warnken fragt Kaiser, ob zehn Euro denn angemessen seien und der nickt. „Zehn Euro hat er gesagt, der Chef.“ Warnken nimmt den Schein entgegen und schreibt eine Quittung.

Von der Kfz-Mechaniker-Ausbildung zum Campingprofi

Wenn er nicht gerade was verkauft, ist Warnken meistens in der Werkstatt. In den Raum passen drei Wohnwagen rein, zurzeit steht aber nur einer hier: Es ist der Mietwagen des Ladens. „Die Gasprüfung musste gemacht werden, der Wagen kommt jetzt bald zum TÜV“, sagt Warnken. Seine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker hat er damals bei Mercedes gemacht, später arbeitete er bei den Stadtwerken als Maschinenschlosser an der Turbine. Als er in den Vorruhestand versetzt wurde, bekam er Langeweile: „Ich kann einfach nicht den ganzen Tag zu Hause herumsitzen!“ Also ist er einfach bei Kaiser vorbeigefahren. So kam er schließlich an seinen Job.

Wintertaugliche Wohnwagen und neue Sicherheitsmaßnahmen

„Der Laden läuft eigentlich ganz gut“, sagt Warnken. Das liege vor allem daran, dass sie mittlerweile auch Wohnwagen verkaufen, mit denen das Verreisen im Winter möglich sei. „Früher haben die Menschen nur in den Sommermonaten Wohnwagen gebraucht, da war hier im Winter wirklich wenig los“, sagt Warnken. Er vermutet, dass die Wohnwagen mehr Zustimmung erfahren, seitdem die Leute kritischer übers Fliegen nachdenken. Auf der großen Verkaufsfläche stehen Wohnwagen, die zwischen 5.500 und knapp 23.000 Euro kosten. Geklaut wird hier auch. „Dieses Jahr ist es wirklich extrem“, sagt Warnken. Daher habe er jetzt einen Bewegungsmelder installiert und eine Alarmanlage. Warnken betritt einen Wohnwagen. Auf dem Tisch liegt ein Buch, daneben stehen zwei Teller mit Messer und Gabel. Alles ganz so, als würde hier gleich gegessen werden. „Das ist alles Deko“, sagt Warnken.

Text:
Lukas Scharfenberger
Foto:
Benjamin Eichler

Der Kalender der Straße

Für 2020 gibt es wieder einen Kalender der Zeitschrift der Straße

Unsere FotografInnen zeigen darin neue Perspektiven auf bekannte Orte in Bremen und Bremerhaven, angefangen bei den Schweinen in der Sögestraße, vorbei am Sielwalleck bis hin zum Weihnachtsmarkt vor dem Dom. Alle Fotos sind, wie bei uns üblich, schwarzweiß, auch Format und Layout des Kalenders orientieren sich an der Zeitschrift der Straße. Der Kalender erscheint parallel zur Ausgabe #74 LANGEMARCKSTRASSE. 

Unsere StraßenverkäuferInnen bekommen den Kalender übrigens geschenkt. Denn der Druck wurde bereits durch SpenderInnen finanziert. Ihnen sei herzlich gedankt! Auf der Straße kostet der Kalender fünf Euro, die die VerkäuferInnen ohne Abzüge behalten dürfen. Im doppelten Sinne ein wirklich schönes Weihnachtsgeschenk.

Foto: Beate C. Köhler

Drei Ecken, ein Elfer

#73 GERHARD ROHLFS STRASSE – Als durch die Gerhard-Rohlfs-Straße noch der Fernverkehr rauschte und auch die Sedaneiche noch stand: Erinnerungen eines Straßenfußballers aus den Nachkriegsjahren

Wir spielten noch in der Dämmerung. Hätten wir nicht zum Abendessen zu Hause sein müssen, wir hätten noch gespielt, bis es ganz dunkel wurde, bis man den Wasserturm nicht mehr sehen konnte. Und wir hätten wahrscheinlich in der Dunkelheit noch das Tor getroffen. Das Tor war kein richtiges Fußballtor, die Pfosten waren der Baum in der Mitte des Sedanplatzes und ein Haufen von Jacken und Pullovern. Wir waren in der Volksschule, die dank der amerikanischen Besatzer damals sechs Jahre dauerte. Der Begriff Straßenfußballer war noch nicht gebräuchlich, aber das waren wir, Straßenfußballer. Unser Leben fand in der Nachkriegszeit sowieso auf der Straße statt. Meine besten Freunde waren Arbeiterkinder, die waren die besten Fußballer. Die wurden immer zuerst gewählt, wenn die Mannschaften verteilt wurden. Ich nur ganz zum Schluss. Dabei trainierte ich Dribbeln im Keller, weil ich im Dribbeln so gut wie Stanley Matthews oder als Verteidiger so gut wie „Sense“ Ackerschott von Werder Bremen sein wollte.

Sedanplatz und die Sedaneiche: Erinnerungen an eine andere Zeit

Am Wochenende nahm mich mein Vater mit nach Bremen zum BSV, bei dem er vor dem Krieg mal in einer Amateurmannschaft gespielt hatte. Als die trotz ihres hervorragenden Torhüters Hans Stephan abstiegen, gingen wir zu Werder ins Weserstadion, die mit Dragomir Ilic einen noch besseren Torwart hatten. Aber in der Woche hieß unsere Welt Sedanplatz, auf dem damals noch keine Autos parkten. Echte Spielfeldgrenzen gab es nicht, doch die Regel „Drei Ecken, ein Elfer“ galt immer. Der Baum in der Mitte des Platzes war kein einfacher Baum. Es war eine deutsche Eiche aus Bismarcks Sachsenwald, die die Sedaneiche hieß. Sedan war ein Wort, das großartig klang, das für meinen Opa etwas bedeutete. Obgleich er erst elf Jahre nach der Schlacht geboren wurde, klang der Deutsch-Französische Krieg in seinen Erzählungen immer so, als sei er dabei gewesen. Und sein ewiges Metz, Toul und Verdun habe ich heute immer noch im Kopf. Der Krieg, bei dem er dabei gewesen war, kam erst später. In der ersten Flandernschlacht erhielt der Hauptmann der Reserve aus Vegesack sein Eisernes Kreuz. Eine Sedaneiche gibt es in manchen deutschen Städten heute immer noch. Und man kann sie im Baumarkt kaufen, da bezeichnet Sedaneiche allerdings einen Laminatfußboden.

Vom Wochenmarkt zum Kiosk

Im Gegensatz zu der angeblichen Großartigkeit der Schlacht machte der Platz nichts her. Einmal in der Woche Wochenmarkt, einmal im Jahr Vegesacker Markt. Vorne war die Gerhard-Rohlfs-Straße, die damals noch die Bundestraße 75 war. Der Fernverkehr rauschte ungehindert durch den Ort. Ampeln gab es nicht, nur bei Többens war ein Zebrastreifen. Dass Walter Caspar Többens ein (später als „Mitläufer“ eingestufter) Kriegsverbrecher war, wussten wir damals nicht. Gegenüber dem Geburtshaus von Gerhard Rohlfs war eine Bushaltestelle der BVG. Daneben war Scheffels Würstchenbude, deren Bratwurst gut war, aber nie so gut wie die bei Könecke in Bremen. Neben Scheffel war ein kleiner Kiosk, wo man Zeitungen und „Prickel Pit“ kaufen konnte, da holte ich immer für Opa seine Stumpen und die Jerry-Cotton-Hefte, die er im Alter leidenschaftlich gerne las. Weshalb weiß ich nicht. Als Kind versteht man die Erwachsenen sowieso nicht.

Ein Blick zurück in die Kindheit

Am Ende des Platzes war die Reeperbahn der Seilerei Georg Gleistein. Ein trister grauer Bau, der sich beinahe vierhundert Meter lang bis zum Fährgrund hinunterzog. Dahinter lag Aumund, das war ein anderer Ort. Vegesacker gingen nie nach Aumund, wir Kinder erst recht nicht. Die Straße mit der grauen Mauer der Reepschlägerbahn taucht manchmal noch in meinen Träumen auf, je älter man wird, desto mehr träumt man von der Kindheit. Ich bekam vor Wochen ein Foto vom Sedanplatz zugeschickt, wie er heute aussieht. Ich weiß schon, wie wahr der Romantitel „You Can’t Go Home Again“ von Thomas Wolfe ist, ich hätte das Bild nicht gebraucht.

Text:
Jens Peter Becker
Foto:
Verlag Neegenbargs Heide

#73 GERHARD ROHLFS STRASSE

EDITORIAL: Herr Weinert und eine WG

vielleicht erinnern Sie sich noch, zumindest die ganz gründlichen unter unseren LeserInnen: In der Ausgabe „Hochschulring“ stand, dass man da „erst seit 2014“ heiraten kann. Das ist auch nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig, wie uns Matthias Weinert – übrigens „stolzer Besitzer aller Ausgaben der Zeitschrift der Straße“ – schreibt: „In der Spitze des Fallturms haben meine damalige Frau Evelin und ich bereits am 9.9.1999 standesamtlich geheiratet.“ Der Leiter des Standesamtes hatte sich zwar geweigert, weil er der Meinung war, dass dieser Ort nicht den erforderlichen Voraussetzungen genüge. Aber eine Standesbeamtin erklärte sich dann doch bereit, ebenda eine Eheschließung vorzunehmen. Deshalb waren die beiden wohl die Ersten!

Damit kommen wir nahtlos zur neuen Ausgabe, die aber an einem ganz anderen Ende der Stadt spielt, in Vegesack, wo wie eher selten zu Gast sind. Die Fußgängerzone dort trägt den Namen eines bekannten Sohnes dieses Stadtteils, der eine eher schillernde Figur war (Seite 8). Und dann ist da noch ein anderer, noch nicht ebenso bekannter Sohn, Jens Peter Becker, der uns aus seiner Kindheit erzählt (Seite 24), die er unter anderem in dieser Straße verbrachte. An dieser Stelle gesagt werden muss noch, dass wir die Existenz dieser Ausgabe einer Wohngemeinschaft aus Horn verdanken, die ihr gleich drei große Texte gestiftet hat, neben dem aufklärerischen Interview über Herrn Rohlfs unter anderem die Geschichte eines italienischen Pistazieneisfabrikanten (Seite 12). Auch der Autor, der für uns einen ganzen Tag vor dem Amt für Soziale Dienste war (Seite 26), wohnt mit in dieser WG, in der neun Leute zusammengefunden haben. Ihr Name: Leuchtturm-WG. Das hat etwas mit dem Badezimmer zu tun – ist aber eine ganz andere Geschichte.

Viel Spaß beim Lesen wünschen Jan Zier, Tanja Krämer
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

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Aus dem Inhalt:

08 „Das ist ein Märchen“

Gerhard Rohlfs wird bis heute als Afrika-Forscher gewürdigt. Um sein Leben ranken sich viele Legenden

12 Ziegenjoghurt, Pistazie und Bienenstich

In einer Eisdiele in der Gerhard-Rohlfs-Straße, von außen betrachtet wie jede andere, ist doch einiges anders als anderswo

16 Mehr als Stadtmöblierung

Die Gerhard-Rohlfs-Straße ist ein Zentrum von Kunst im öffentlichen Raum. Eine Bildstrecke

24 Drei Ecken, ein Elfer (online lesen)

Als durch die Gerhard-Rohlfs-Straße noch der Fernverkehr rauschte und
auch die Sedaneiche noch stand: Erinnerungen eines Straßenfußballers aus den Nachkriegsjahren

26 Ein Tag auf dem Sedanplatz

Über die Menschen und Probleme im Bremer Norden. Gespräche vor dem Amt für Soziale Dienste mit denjenigen, die auf die Hilfe des Staates angewiesen sind

Die Letzten ihrer Art

#72 MAHNDORFER HEERSTRASSE – Kaugummiautomaten sind in Vergessenheit geraten. In Mahndorf stehen noch einige. Doch das Geschäft ist nicht mehr das, was es mal war

Klebrige Finger tasten in der Hosentasche nach dem ersten Taschengeld. Dann die Qual der Wahl. Drei kleine Schaufenster bieten Ausblick auf bezahlbare Kostbarkeiten. Gummi-Aliens in Plastiktüten für 50 Cent. Plastikringe für 30 Cent. Und da ist es. Ein Fach, vollgestopft mit buntem, überzuckerten Genuss. 20 Cent. Die Münze, dieser kleine Reichtum, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Ein ungutes Gefühl kommt auf. Funktioniert das auch? Die Finger zittern leicht, als sie den Drehknauf betätigen. Klack. Das Bällebad hinter der Scheibe gerät in Bewegung. Ein Kaugummi purzelt heraus. Der Geschmack vergeht schnell. Doch die Erfahrung bleibt. Ganz ohne Hilfe haben wir von unserem eigenen Geld etwas erstanden. Wir haben unseren ersten Kauf gemeistert, den ersten vorsichtigen Tritt in die Pedale der Marktwirtschaft.

„Zunächst machte Adolf den Krieg. Dann kamen die US-Panzer mit Schokolade und Kaugummi. Und als die Panzer weg waren, waren die Automaten da. Das war in den 50ern.“ So fasst Paul Brühl, Geschäftsführer vom Verband der Automaten-Fachaufsteller (VAFA), die Ursprungsgeschichte zusammen. Seitdem sind die besten Zeiten gekommen und gegangen.

Was bleibt, ist ein rot-weißer Metallkasten an der Mahndorfer Heerstraße. Er hat sich gut gehalten für sein Alter. Nur der Lack ist ein wenig abgeblättert. Doch sein Inhalt purzelt noch mit jugendlicher Energie heraus. Ein Aufkleber verrät seinen Besitzer. Der bestätigt am Telefon, dass er noch alle sechs Monate frisch befüllt. Doch eigentlich würde er den Kasten gern verkaufen. Vom Automatengeschäft könne er schon lange nicht mehr leben.

Es fehlen die Sticker und Kritzeleien, die dem Mahndorfer Kasten Ruhm im Internet einbringen könnten. Denn auf Plattformen wie Instagram feiern die Automaten eine Renaissance. Sie erscheinen in Bildern mit den Beschriftungen #Retro, #Kindheit und #Nostalgie. „Dachte, die wären schon lange ausgestorben“, schreibt ein User. Viele sind überrascht, dass es die Geräte noch gibt. Einsam ist der Automat in Mahndorf nicht. Einige Geschwister säumen die Heerstraße und ihre Seitenstraßen. Eine kleine privilegierte Gruppe besiedelt sogar den schattigen und sicheren Eingangsbereich des Edekas an der Mahndorfer Heerstraße. Doch nicht jeder Automat hat es so gut getroffen. Auf der anderen Straßenseite rostet ein Kasten vor sich hin. Statt farbenfrohem Made-in-China-Spielzeug glotzt ein schwarzer Hohlraum heraus. Eine beeindruckende Spinne hat das Gehäuse zu ihrem Zuhause gemacht. Der Automat hatte nur Platz für zwei verschiedene Produkte. Vielleicht wurde er deswegen aufgegeben – nicht konkurrenzfähig.

Mahndorf ist natürlich nicht das letzte Reservat der überlebenden Kaugummiautomaten. Tatsächlich schätzt der VAFA die verbleibenden Exemplare auf etwa 400.000 bis 600.000 in ganz Deutschland. Doch das Geschäft ist nicht leicht. Kinder verbrächten weniger Zeit draußen als früher, sagt ein Betreiber. Manche machen Smartphones und Videospiele verantwortlich. Brühl glaubt, es liege auch an der Ganztagsbetreuung in Kitas und Ganztagsschulen, dass die Kinder nicht mehr so viel raus kommen. Auch der Vandalismus sei ein Problem.

Kinder versuchten, Automaten mit Stöcken und Steinchen auszutricksen und blockierten sie damit. Auf Youtube findet man Anleitungen zum Manipulieren der Münzschlitze. Er kennt einen Betreiber, dem an einem Wochenende 20 Automaten abgerissen wurden. Man fand sie im Wald. Mit Kaugummis, aber ohne Geld.

Lohnen kann sich der Diebstahl nicht besonders, denn einzelne Automaten bringen nicht viel ein. Um vom Geschäft leben zu können, brauche man mindestens 1.000 bis 2.000 Automaten, so Brühl. Diese müssen alle regelmäßig ausgetauscht und gereinigt werden. Je nach Lage sei das eine regelrechte Odyssee. „Die Aufsteller werden in ihrem Job schon ordentlich gefordert.“

Aber die Automatenbranche gibt sich nicht geschlagen. Kuriositäten und kreative Ideen bringen Hoffnung. Man hört von Kunst-Automaten und Palmen-Automaten. Sogar einen Witze-Automaten soll es geben, aus dem man kleine Zettelchen mit erheiternden Sprüchen ziehen kann. Wirtschaftlich gesehen sind das vielleicht keine Erfolgskonzepte, aber sie zeigen die Liebe und Faszination, mit der Menschen dieser betagten Erfindung begegnen. Paul Brühl ist zuversichtlich: „Die Automaten müssen neu sein, neu aussehen, sie brauchen ein neues Image“, sagt er. Auch er hat schon Vorstellungen vom Kaugummiautomaten der Zukunft. Einen Touchscreen könnte der haben und eine Geschichte solle er erzählen. Vielleicht mit Solarstrom betrieben.

Bis diese Revolution kommt, wird aber bestimmt noch die ein oder andere Münze in unserem Mahndorfer Automaten landen.

Text:
Paul Petsche
Foto:
Ann-Kathrin Just