#31 WESTERDEICH – Über einen Umweg kam er zur Bildhauerei, durch einen guten Freund zur Zeitschrift der Straße
Ich bin in Tenever aufgewachsen, zusammen mit meiner Schwester. Als ich elf Jahre alt war, ist unsere Mutter abgehauen und hat den Kontakt zur Familie abgebrochen. Zwei Jahre später ist dann unser Vater gestorben.
Meine Schwester und ich wohnten erst für ein halbes Jahr bei unseren Großeltern, danach ein Jahr bei einer Pflegefamilie. Aber das war nur für den Übergang, bis wir einen Platz im Heim bekamen: in Alten Eichen in Huchting. Dort habe ich mit acht anderen Jugendlichen in einer Wohngruppe gelebt.
Nach der Schule habe ich als Lagerist gearbeitet, über eine Zeitarbeitsfirma. Ich hatte immer nur kurze Verträge, die brauchten halt nur neue Leute, wenn dort besonders viel los war. Nach einem Jahr habe ich damit aufgehört. Was ich dann gemacht habe? Ich habe Dinge verkauft, von denen ich lieber die Finger gelassen hätte. War keine gute Idee. Nach einiger Zeit haben sie mich erwischt. Das war’s dann.
Im Gefängnis hab ich in der Bildhauerwerkstatt gearbeitet. Das war genau das Richtige für mich. Zwei professionelle Bildhauer kamen regelmäßig in die Anstalt und haben uns angelernt. Mit der Zeit konnte ich dann richtige Skulpturen anfertigen, aus Stein und Holz. Zum Beispiel habe ich einen Wal aus Stein gehauen, ein anderes Projekt war eine Bank. Die Sachen wurden verkauft und in der Stadt aufgestellt. Mein letzter Auftrag war, kleine Tonfiguren für Beamte anzufertigen, die in Pension gingen – als Abschiedsgeschenk.
Künstlerische Arbeit liegt mir, das habe ich von meinem Vater. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, hat er viel mit mir gemalt. Als ich etwas älter war, haben wir gemeinsam Glas graviert oder mit dem Lötkolben auf Holz gemalt. Derzeit zeichne ich viele Graffitis (auf Papier, nicht auf Wänden!) und Mangas: Drachen, Wikinger, Frauen, keltische Symbole.
Mein Traum ist, eine Ausbildung zum Bildhauer zu machen. Vielleicht wird das eines Tages noch mal was. Derzeit muss ich mich mit Zeichnen begnügen, mein Zimmer ist zu klein für eine Werkstatt, außerdem sind die Werkzeuge teuer, die Hämmer, Meißel, Feilen, auch das Material.
Zur Zeitschrift der Straße bin ich durch Bommel gekommen. Er ist ein guter Freund von mir, wir kennen uns schon ewig. Bommel verkauft die Zeitschrift schon länger und hat mich mal mitgenommen. Seit einem Jahr stehen wir beide am Hauptbahnhof, entweder beim Edeka oder bei den Parkautomaten. Wir wechseln uns da ab. Am Parkautomaten gibt es mehr Trinkgeld, dafür kaufen die Leute am Supermarkt mehr Zeitschriften. Da sind viele Stammkunden dabei, von der swb und sogar ein Polizist.
Apropos Polizei: Neulich hat am Bahnhof ein verwirrter Mann einen Betonklotz in eine Autoscheibe geschmissen. Ich habe ihn beobachtet und die Polizei gerufen. Ein paar Straßen weiter haben sie ihn geschnappt. Muss ja nicht sein, so was.
HINZ&KUNZT / Hamburg: Aufmucken lohnt sich! Nach unseren Berichten und den Protesten unserer Leser ist Flaschensammeln am Hamburger Flughafen nicht mehr verboten. Noch besser: Ab sofort arbeiten drei Hinz&Künztler dort als professionelle Leergutbeauftragte.
Mein Bild von Flaschensammlern hat sich um 180 Grad gewendet“, sagt Mercedes Lazar-Heubel. Die 33-Jährige betreut am Flughafen Hamburg das Projekt „Spende dein Pfand“, bei dem seit September Fluggäste vor dem Abflug ihre ausgetrunkenen Pfandflaschen spenden statt wegwerfen können. Heute ist die Projektleiterin voller Verständnis für die Menschen, die sich meistens unauffällig durch die Terminals bewegen und in den Mülleimern nach Pfandflaschen suchen: „Eigentlich spricht gar nichts dagegen“, sagt sie. „Ich habe gemerkt, dass diese Menschen einfach darauf angewiesen sind.“
Noch vor einem halben Jahr sah sie das ganz anders: „Ich habe mich wirklich gestört gefühlt, wenn ich das gesehen habe“, räumt Lazar-Heubel ein. Sie habe wie so viele das Elend nicht sehen wollen und hätte die schwierige Situation der Flaschensammler nicht verstanden. Damals war am Flughafen das Sammeln auch noch verboten. Das sollte einen „ungestörten Betrieb“ gewährleisten und den Fluggästen einen „angenehmen Aufenthalt“ ermöglichen, hieß es. Wer wiederholt gegen das Verbot verstieß, musste mit einer Anzeige rechnen. 97-mal zeigte die Flughafenverwaltung im Jahr 2014 Flaschensammler an.
Online-Petition mit überwältigender Beteiligung
Ein Unding, fanden wir bei Hinz&Kunzt. Unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer startete eine Onlinepetition gegen dieses Vorgehen. 57.000 Menschen unterzeichneten innerhalb von nur drei Tagen. Das hätten selbst wir nicht erwartet – und die Verantwortlichen am Flughafen erst recht nicht. „Erst durch die Petition ist uns bewusst geworden, dass wir ein Problem haben“, sagt Lazar-Heubel. Aber dann war klar, dass etwas geschehen musste.
Die Petition war der Anfang einer Erfolgsgeschichte. Das Flaschensammelverbot hob der Flughafen danach rasch auf. Zunächst für eine Testphase, dann dauerhaft. „Es gibt von ein paar Ausnahmen abgesehen eigentlich keine Probleme“, sagte uns Johannes Scharnberg vom Flughafenmanagement im April. Inzwischen hat seine Mitarbeiterin Lazar-Heubel im Ankunftsbereich Pfandregale aufhängen lassen, damit die Sammler nicht mehr im Dreck wühlen müssen. Zwischen Hinz&Kunzt und dem Airport haben viele Gespräche stattgefunden. Zunächst waren wir skeptisch, doch schnell wurde uns klar, dass alle Beteiligten an einer sinnvollen Lösung des Konflikts interessiert waren. Mercedes Lazar-Heubel hatte längst den Kontakt zu anderen Flughäfen gesucht, die bereits Konzepte im Umgang mit Flaschensammlern ausprobiert haben.
Im Mai flogen wir nach Stuttgart, um uns das Projekt „Spende dein Pfand“ anzusehen. Vor den Eingängen zu den Sicherheitskontrollen stehen dort große Sammelbehälter aus Plexiglas, in die die Passagiere ihre Flaschen werfen können. Mit in den Abflugbereich dürfen sie die ja ohnehin nicht nehmen. 302.000 Flaschen und Dosen landeten 2014 in diesen Behältern. Pfand im Wert von 61.500 Euro. Bilanz steigend: „Bislang liegen wir 2015 deutlich über den Vorjahreszahlen“, sagt der Stuttgarter Flughafensprecher Johannes Schumm zufrieden.
Das diene zum einen dem Umweltschutz, erklärt Alexis Hanke von der Uni Hohenheim. Schließlich können die Flaschen so recycelt werden und landen nicht auf der Müllkippe. Hanke hat sich das Konzept zusammen mit seinen Studenten ausgedacht. Doch was tun mit dem gesammelten Pfandgeld? Erst hat sein Seminar überlegt, es an wohltätige Organisationen zu spenden. Doch dann kam den Studenten eine bessere Idee: Langzeitarbeitslose sollten für die Leerung der Pfandbehälter und die Sortierung der Flaschen eingestellt werden. Ihr Gehalt könnte durch das gesammelte Pfand finanziert werden.
Vorbild Stuttgart
Ausgedacht, umgesetzt: Seit Herbst 2013 läuft das Projekt in Stuttgart erfolgreich in Zusammenarbeit mit der örtlichen Straßenzeitung Trott-war. Auch in Köln wird seit Mai so Pfand gespendet. Vier Menschen sind in Stuttgart fest als professionelle Flaschensammler angestellt. „Wir schaffen die Chance für jemanden, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen“, sagt Hanke sichtlich stolz. „Das ist eine tolle Symbiose.“
Im Flugzeug zurück war uns schnell klar, dass wir uns das auch für Hamburg wünschen. Langzeitarbeitslose, die unbedingt wieder einen festen Job haben wollen, kennen wir schließlich eine Menge. Und auch beim Hamburger Flughafen kam die Idee gut an. „Spende dein Pfand“ heißt es seit September auch hier. „Wir freuen uns riesig, dass wir zusammen mit Hinz&Kunzt ein sinnvolles Projekt umsetzen können“, sagt Lazar-Heubel. Auch Stephan Karrenbauer ist begeistert: „Für uns ist es die schönste Geschichte des Jahres: dass ein so schwieriger Konflikt beendet wird – und drei Menschen einen Arbeitsplatz bekommen. Das motiviert auch unser ganzes Team.“ Die Stimmung ist gekippt – ins Positive.
Hinz&Künztler als Leergutbeauftragte eingestellt
Am meisten freut das die Drei, die nun endlich wieder einen festen Job haben. Da ist Jaroslaw, der bis vor kurzem noch in einer Hütte direkt neben S-Bahn-Gleisen gewohnt hat. Geld verdiente er mit dem Verkauf von Hinz&Kunzt und Flaschensammeln. „Ich bin ein Profi“, sagt er grinsend und zeigt den Greifarm, mit dem er sammelt. Für ihn ist die Anstellung der Beginn des geregelten Lebens, das er sich lange gewünscht hat. Und die Eintrittskarte in eine eigene Wohnung. „Ich hasse das Leben auf der Straße“, sagt er. Seine Fröhlichkeit schlägt um in Melancholie, wenn er darüber spricht. Umso größer ist die Vorfreude auf die eigenen vier Wände: „Ein Zimmer, Küche, Bad. Was brauche ich mehr?“
Dann ist da „Opa“ Georgi Nikolov, den wir im Sommer 2013 unter der Kennedy-Brücke getroffen haben. Der heute 50-Jährige zeltete dort mit seiner Frau, seiner Tochter, dem Schwiegersohn und seinen zwei Enkeln. Die bulgarische Roma-Familie kam auf der Suche nach Arbeit nach Hamburg. Seit zwei Jahren lebt sie nun in zwei kleinen Kirchenkaten, die Hinz&Kunzt organisiert hat. Die Kinder gehen in die Schule. Nach mehreren Minijobs werden Georgi und seine Frau nun endlich eine Krankenversicherung haben.
Der Dritte im Bunde ist Uwe. Er hat Angst davor, einen Job in der freien Wirtschaft nicht zu schaffen. „Ich brauche diesen Schutz, den mir Hinz&Kunzt bietet“, sagt er. Dass er mal am Airport arbeiten würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er, der panische Flugangst hat. „Ich denke die ganze Zeit: Geil, ich steig da nicht ein! Ich bleib hier“, sagt er schelmisch. „Ich muss ja arbeiten.“
Wir sind alle zufrieden: Uwe, Georgi, Jaroslaw, Stephan und Mercedes. „Ich habe mal wieder gemerkt, dass Reden das A und O ist“, sagt Lazar-Heubel. „Wenn man vernünftig über etwas spricht, gibt es immer Lösungen.“
Nachtrag und Kommentar
Flaschensammlern helfen ist eine gute Sache. Wir dürfen aber nicht vergessen, was das eigentliche Problem ist: Die immer größer werdende Armut.
Wir haben in den vergangenen Monaten viel für Flaschensammler bewegt. Nachdem wir beklagten, dass sie nicht in die neuen Big-Belly-Mülleimer in der Innenstadt hineingreifen können, hat der Senat 100.000 Euro für Pfandregale bereitgestellt, die nach und nach installiert werden. Nach unseren Berichten über Strafanzeigen gegen Flaschensammler am Flughafen und der anschließenden Onlinepetition wurden die Anzeigen zurückgenommen. Pfandsammeln ist dort in der Folge jetzt erlaubt, auch am Flughafen gibt es Pfandringe.
Unterm Strich haben wir das Leben für die Flaschensammler in Hamburg etwas leichter machen können. Darüber freuen wir uns, und auch von unseren Lesern bekommen wir dafür viel Zuspruch. Und trotzdem dürfen wir damit nicht zufrieden sein.
Dass es immer mehr Flaschensammler gibt, daran haben wir uns gewöhnt. Viele von ihnen haben wir in den vergangenen Monaten kennen gelernt. Da war der Rentner, der am Flughafen schon als Arbeiter die Rolltreppen mit gebaut hat und jetzt jeden Tag aus Wedel mit der S-Bahn kommt, um am Airport im Müll zu wühlen. Da war der Softwareentwickler, der seit zehn Jahren keine Gehaltserhöhung mehr bekommen hat und deshalb nach Feierabend regelmäßig einmal die Mülleimer in der Mönckebergstraße abklappert. Da war der Koch, der in der Nebensaison keine Anstellung fand und täglich sechs Stunden die Innenstadt nach Pfandgut durchkämmte. Die Obdachlosen oder psychisch Kranken, die kaum eine andere Möglichkeit haben, Geld zu verdienen.
Das eigentliche Problem ist, dass all diese fleißigen Menschen gezwungen sind, für ihr Auskommen im Müll zu wühlen. Dass regelmäßig Studien mit dem Ergebnis veröffentlicht werden, die Kluft zwischen Arm und Reich in diesem Land werde immer größer. Dass wir uns daran gewöhnt haben, dass es so ist. Dass wir daran nichts ändern konnten, obwohl wir es seit Jahren anprangern.
Klar ist es ein Skandal, dass den Pfandsammlern das Leben mit Strafanzeigen und Hausverboten auch noch schwerer gemacht wird. Und wir müssen weiter dafür streiten, dass sie nicht kriminalisiert und vertrieben werden – zum Beispiel an den Bahnhöfen der Deutschen Bahn. Unser Ziel muss aber eine Gesellschaft sein, in der niemand darauf angewiesen ist, im Müll zu wühlen.
Die verantwortlichen Politiker dürfen wir nicht damit davon kommen lassen, ein paar Pfandregale aufzuhängen und so die Symptome ihrer eigenen Politik abzumildern. Nachhaltige Maßnahmen gegen Armut müssen her. Packen wir’s an!
Text: Benjamin Laufer. Fotos: Mauricio Bustamante. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / Hinz&Kunzt, Hamburg.
Werder – das ist für viele BremerInnen ein Heiligtum. Es gibt wohl niemanden in dieser Stadt, der nichts mit dem Weserstadion und seiner Mannschaft verbindet. Ein guter Ort also für unsere Autorinnen und Autoren, nach Themen zu graben. Und eine Herausforderung: Galt es doch, Menschen und Geschichten zu finden, die eben noch nicht stadtbekannt sind, keine Promis und Stars – und dennoch eine große Rolle spielen.
Tatsächlich wurden wir auch diesmal fündig und präsentieren Ihnen fünf Geschichten, in denen es meist nur am Rande um Fussball geht – aber immer um Begeisterung und Leidenschaft. Björn Struß beschreibt eine moderne Geschichte von David gegen Goliath: die des Tennisclubs Rot-Gelb direkt neben dem Stadion, der aus Sicherheitsgründen weichen soll – und dies nicht will. Unsere Autorin June Koch traf den Mann, der sich um das leibliche Wohl der Werder-Spieler kümmert. Sie sprach mit ihm bei flambiertem Steak über Fußball, Genuss und Kochen als Mannschaftssport.
Katja Hoffmann war unterdessen bei einem Training der besonderen Art: dem der Bremer Blindenfußballmannschaft, bei der es besonders laut zugeht. Bunt wird es in unserer Fotostrecke: Hartmut Müller thematisiert mit einem Fotoprojekt den Kampf für Toleranz und Miteinander – und gegen die Homophobie. Wir finden: Das Weserstadion ist ein guter Ort für solche Geschichten.
Und was sagen Sie? Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, Sie Kritik haben oder gern eine Straße vorschlagen möchten, über die wir in einem der nächsten Hefte berichten sollen, melden Sie sich unter redaktion(ät)zeitschrift-der-strasse.de. Wir freuen uns.
Viel Vergnügen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 LETZTER AUFSCHLAG
Sie sollen weg, wollen aber nicht weichen: die Tennisspieler von Rot-Gelb
12 POST VOM DFB
Ein Bremer Ultra wehrt sich gegen sein Stadionverbot
14 TOLERANZ IM FUSSBALL
Fotostrecke
18 HÖR AUF DEN BALL
Bei diesem Training wird es laut: zu Gast bei der Bremer Blindenfussballmannschaft
22 EINFACH IST PERFEKT
Kochen mit Stern für die Stars von Werder Bremen
24 DIE FLUT
Dein Freund und Helfer? Am Spieltag unterwegs mit zwei Kontaktpolizisten
Als wir in der Redaktion diskutierten, ob wir uns in der aktuellen Ausgabe mit der Grohner Düne beschäftigen wollen, diesem Koloss mit über 1.500 Mietern, standen viele Fragen im Raum: Werden die Menschen aus diesem Wohnkomplex mit uns sprechen wollen? Werden sie uns die Türen öffnen, ihre Geschichten erzählen? Und nicht weniger wichtig: Werden die Bremer Lust haben, diese Geschichten auch zu lesen?
Schließlich hat die Grohner Düne nicht den besten Ruf. In den Zeitungen liest man viel von Kriminalität und Drogen, von Polizeieinsätzen und Gewalt. Jenseits dieser Schlagzeilen aber sind die Grohner Düne und ihre Bewohner weitgehend unbekannt. Auch aus unserer Redaktion waren viele vor der Recherche noch nie dort gewsen. Umso wichtiger war es uns, genauer hinzusehen. Mehrfach waren unsere Reporter vor Ort, sprachen mit Passanten, Ladenbesitzern, Mietern. Es hat sich gelohnt.
Philipp Jarke etwa traf einen Mann, der als einer der ersten Mieter in die Düne einzog. Stolz war er damals. Die Bewohner veranstalteten Feste, feierten zusammen Silvester. Lesen Sie ab Seite 8, wie es weiterging.
Einen ganz anderen Blick hinter die Fassaden der Düne gewann unser Reporter André Beinke. Er versuchte sich am Couchsurfing. Wer ihn bei sich übernachten ließ und was dann passierte, lesen Sie in zwei Geschichten ab Seite 20. Außerdem: die Geschichte von fünf Cousins und ihrem liebsten Zufluchtsort. Und ein Gedicht.
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, Sie Kritik haben oder gern eine Straße vorschlagen wollen, der wir uns widmen sollen, melden Sie sich unter redaktion(ät)zeitschrift-der-strasse.de. Wir freuen uns.
Viel Vergnügen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 DER ERSTE MIETER
Wie der Traum vom Leben im vertikalen Dorf zerplatzte
12 DAS ZWEITE ZUHAUSE
Fünf Cousins, ein Jugendclub und der Fußball
14 BLICKWINKEL
Fotostrecke
21 EIN SONG FÜR MAMA
Er ist kein Migrant, fühlt sich aber auch nicht deutsch. Ein Abend mit Semo
25 KEIN KUSS
Er trinkt Bier. Und Korn. Er tanzt. Und schweigt. Eine Nacht bei Walter
Es gibt Straßen in Bremen, die wirken, als hätten sie sich seit einem Jahrhundert nicht verändert. Und es gibt die Plantage in Findorff.
Vor 265 Jahren als Sommersitz eines Superreichen entstanden, wurde die Plantage Ausflugslokal der gehobenen Gesellschaft, Heimat der Eisenbahner in kleinen Reihenhäusern, nüchternes Gewerbegebiet und zuletzt Zentrum der Bremer Medien- und Designszene. Die einzige Konstante in dieser Straße ist der Wandel.
Von Veränderung handeln auch die Geschichten, die unsere Autoren aufgeschrieben haben: Carolin Hoffmann beschreibt am Beispiel eines Mannes, was die moderne Arbeitswelt aus dem Beruf des Pastors machen kann: Vorbei die Zeiten, in denen Pastoren ruhender Pol der Gemeinde waren, stets ansprechbar für jeden und mit Muße zur inneren Einkehr. Stattdessen Zeitdruck, Terminhatz, Zerrissenheit (S. 8).
Joschka Schmitt traf einen Künstler und Studenten, der eher zufällig zum Galeristen wurde (S. 12), während Felix Müller im Rundfunkmuseum auf eine Welt stieß, die stillzustehen scheint. Doch wippen die Finger der Funker am Morsegerät, füllt sich eine Weltkarte an der Wand mit Reißzwecken: Jede markiert einen Kontakt in andere Länder (S. 20).
Wiebke Plasse versuchte, Kummer und Sorgen mit Morgenyoga zu vertreiben (S. 27), und André Beinke machte die Tankstelle in der Plantage zum Ausgangspunkt einer Reise ins Paradies. Ob und wie er dort angekommen ist, lesen Sie ab Seite 22.
Viel Vergnügen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 MEHR IST NICHT GENUG
Ein Pastor, drei Gemeinden. Und der Kampf gegen den Stress
12 PLÖTZLICH GALERIST
Von einem, der ein Ende suchte und einen Anfang fand
14 VERBINDUNG
Bildstrecke
20 POSTKARTE VOM PLANTAGENHOF
Auf Trophäenjagd: die Funker aus dem Rundfunkmuseum
22 AUF INS PARADIES
Unser Autor will weg aus der Plantage. Per Anhalter. Ob ihm das gelingt?
27 YOGA AM MORGEN
Vertreibt es Kummer und Sorgen? Unsere Autorin probiert es aus
Letzte Woche gab es ein zweites Frühstück der Straße, wieder organisiert von den Studentinnen Lisa Hummel, Katharina Brasch und Marissa Käßhöfer von der Hochschule Bremerhaven. Sie sind bis zum Sommer die Marketing-Truppe der Zeitschrift der Straße. In dieser Funktion hatten sie bereits im Januar ein erstes Frühstück für Bedürftige und Obdachlose auf die Beine gestellt, finanziert mit Spenden auf der Online-Plattform betterplace.org (wir berichteten).
Weil beim ersten Mal mehr Spenden eingegangen waren, als für das Frühstück benötigt wurden, versprachen sie, mit dem Restgeld ein weiteres Essen zu bestreiten. 200 Euro waren noch übrig, weitere 180 Euro kamen über einen erneuten Spendenaufruf im Internet zusammen – innerhalb nur eines Tages. „Es war toll zu sehen, wie schnell das Geld beisammen war“, sagt Marissa Käßhöfer.
Den Termin für das Frühstück gaben die Studentinnen über Karten und Plakate in der Bahnhofsmission, dem Café Papagei und der Teestube der Hoppenbank bekannt. Der Andrang am 17. Mai war dann groß: Ab 11 Uhr war die Tafel zwischen Hauptbahnhof und Übersee-Museum gedeckt, bereits eine Stunde später waren die 300 Brötchenhälften, der Kaffee und die Säfte aus. Hier darum noch einmal ein herzliches Dankeschön an alle unsere Spender! Das Frühstück der Straße ist eine der zahlreichen Aktionen unserer engagierten Freiwilligen, bedürftige Menschen auch jenseits der Zeitschrift der Straße zu unterstützen. Weitere Veranstaltungen sind in Planung. Wir freuen uns deshalb über jede Spende – ob es Geld sei, Zeit oder Sachleistungen. Was bei uns aktuell passiert, erfahren Sie übrigens auch auf unserer Facebook-Seite. Schauen Sie doch einmal vorbei!
Zurzeit läuft so einiges schief bei mir: Ich wurde angegriffen, meine Wohnung macht mich fertig und es gibt immer häufiger Streit um Verkaufsstandorte. Am Edeka am Dobben kam neulich ein Mann, den ich nur flüchtig kannte, auf mich zugestürmt und prügelte auf mich ein. Einige Kunden haben mir geholfen, den Kerl abzudrängen und zu vertreiben. Mir ist zum Glück nicht viel passiert, aber was macht so ein Vorfall denn für einen Eindruck auf die Kunden und Mitarbeiter des Supermarkts? Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich weiter dort stehen und verkaufen darf.
Komm ich dann aber nach Hause, geht meine Stimmung in den Keller. Ich muss aus dieser Wohnung raus. Das habe ich schon häufig gesagt, aber jetzt ist wirklich Schluss. Es geht dabei gar nicht um die Wohnung an sich – die ist ganz Ordnung. Aber es ist der schlechte „Geist“, der mich fertig macht. Ich bin in der Wohnung schließlich rückfällig geworden. Und das zieht mich immer wieder runter.
Ich werde die Wohnung jetzt kündigen und zur Not auch wieder im Papageienhaus oder einer ähnlichen Einrichtung einziehen. Und dann von dort aus einen Neustart machen.
Und dann habe ich immer wieder mit Standortproblemen zu kämpfen. Verkaufsstellen, die ich mir über Wochen und Monate aufgebaut habe, werden mir von Kollegen streitig gemacht. Komme ich mal etwas später als gewöhnlich, steht schon jemand anderes da. Ich möchte ja gar nicht die besonders guten Standorte für mich allein haben – darum verkaufe ich ja an jedem Wochentag an einem anderen Ort. Aber ich erwarte von meinen Kollegen, dass wir uns untereinander absprechen, wer an welchem Tag wo verkauft, und dass das dann auch eingehalten wird. Sonst macht der Verkauf einfach keinen Spaß mehr.
Trotz allem bin ich immer noch am Ball, stehe verlässlich an meinen Standorten (wenn man mich lässt), und habe immer noch viele nette Begegnungen mit Lauf- und Stammkundschaft. Was mir sehr hilft, den Frust, der sich mitunter einstellt, zu vergessen.
Neulich konnte ich jemandem eine ganz besondere Freude machen. Ich stand mit meinen Zeitungen vor der Stadtbibliothek, als ein junger Kerl, offenbar aus einem anderen Land, auf mich zukam und wissen wollte, was ich da in der Hand hätte. Das sind Straßenzeitungen, sagte ich. Kosten die was?, fragte er mich. 2 Euro, meinte ich. Da sah er mich traurig an, denn er hatte kein Geld. Er drehte sich schon um und wollte gehen, da tipp ich ihm auf die Schulter und drücke ihm einen neuen Kalender in die Hand, den ich zufällig bei mir hatte. Aber ich habe doch kein Geld, sagte der andere. Ist für dich, ein Geschenk!, sagte ich. Da riss der Kerl die Arme hoch, lachte und tanzte fast schon vor Freude. Und damit hat er dann auch mir wiederum eine Riesenfreude gemacht!
Es gibt also auch schöne Momente, und jetzt sind auch wieder die richtigen Temperaturen, um wieder andere Sachen anzugehen: Schon bald werde ich im Schnoor als Heini Holtenbeen unterwegs sein. Der genaue Termin wird noch bekannt gegeben.
Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße
An der Silberpräge, das ist ein Name mit Tradition. Und Tradition ist etwas, auf das die Hemelinger stolz sind. Alteingesessene Betriebe, inhabergeführte Läden, Fabriken, in denen man gern zur Arbeit ging – das hat den Stadtteil geprägt. Heute wirken manche Orte entlang der Silberpräge und der Hemelinger Bahnhofstraße trist. Geschäfte stehen leer, so manches Gebäude könnte einen neuen Anstrich vertragen. Doch wie so oft finden sich auch hinter grauen Mauern wunderbare Geschichten.
Die eines türkischen Kulturvereins etwa, der es schafft, die scheinbaren Gegensätze von Tradition und Moderne zu vereinen, und dem es so gelingt, für Jugendliche interessant zu bleiben – egal, ob sie Volksmusik machen wollen oder Hip-Hop (Seite 8). Oder die von Arnold Mudder, dem Besitzer der Modellbahnbörse. Gott und die Welt hat er gesehen, mit Hinz und Kunz einen Schnack gehalten, und vermutlich würde er selbst mit Petrus an der Himmelspforte noch erfolgreich um den Preis einer Modellbahn feilschen (Seite 22).
Tradition, wenn nicht gar Legende, sind auch die Partys in der „Blauen Villa“. Seit über dreißig Jahren wohnt dort eine WG mit wechselnder Besetzung. Partys haben sie alle gemacht. Wie sie sich vorbereiten, was sie mit Schrankpinklern machen und warum Feiern gut sind für die Hygiene im Haus, erzählen die Bewohner im Interview (Seite 20).
Diese und weitere Geschichten finden Sie in unserem Heft und auf www.zeitschrift-der-strasse.de.
Viel Spaß beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt
08 KOMM IN MEINE WELT
In einem Jugendzentrum trifft Hip-Hop auf anatolische Volksmusik
12 ALLES HAT EIN ENDE
Die Würstchen sind weg, die Wehmut bleibt
14 GRENZENLOS
Fotostrecke
20 WER KOMMT, DER KOMMT
Interview mit der legendären Party-WG aus der „Blauen Villa“
Die Verkäufer:innen der Zeitschrift der Straße erhalten ein neues rotes Outfit. Sie können mit Ihrer Spende helfen
Sehen ist der Ausgangspunkt vieler Beiträge in der Zeitschrift der Straße, denn es sind Beobachtungen auf der Straße, die die Autor:innen zu ihren Texten inspirieren. Für unsere Verkäufer:innen dagegen ist Gesehenwerden wichtig. Es ist die Voraussetzung für Kund:innenkontakte, Erfolgserlebnisse und ihren Verdienst.
Damit die Verkäufer:innen künftig noch besser zu erkennen sind, erhalten sie demnächst ein neues Outfit. Mit einer roten Schirmmütze wird jeder ausgestattet, der die Zeitschrift der Straße verkauft. Eine rote Weste und eine schwarze Umhängetasche gibt es für diejenigen, die schon länger dabei sind, regelmäßig verkaufen und gezeigt haben, dass sie es ernst meinen.
Liebe:r Leser:in, trotz der vielen beteiligten Studierenden und freiwillig Engagierten kosten Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift der Straße viel Geld. Wir erhalten keine öffentlichen Mittel und haben keine großen Sponsoren im Rücken. Um Menschen in Not zu helfen, sich selbst zu helfen, brauchen wir Ihre Unterstützung.
#27 SILBERPRÄGE: Wo einst Johnny Cash und Nirvana auftraten, treffen sich heute Hunderte Kohlfahrer. Ein Abstecher zum Aladin
Das Aladin also, einst Gaststätte und Kino, heute ein Ort zwischen Konzerthalle und Festzelt, das sich einen Namen mit Partys wie „Titty Twister“, „Endlich Freitag“ oder „Hüttengaudi“ gemacht hat. Ich sattle die Hühner und mache mich auf den Weg, in der Hand ein Gebräu, dessen Aufschrift heute meine Destination sein soll.
Es ist 3:13 Uhr in der Nacht, als ich von weitem den leuchtenden Schriftzug über dem Eingang prangern sehe. Heute stand die Rockin’ Kohlfahrt auf dem Plan. Dem Getümmel draußen nach zu urteilen ist es ein gelungener Abend gewesen. Drinnen werden gerade die Stühle hochgestellt, grobe Unreinheiten beseitigt und die Theken gewischt. Vor dem Gebäude erschöpfte Kohlfreunde, die sich nach und nach auf die Taxen verteilt.
Doch nicht alle wollen schon gehen; Thorsten und Ulli lehnen lässig am Gebäude und unterhalten sich. Ich nähere mich ihnen mit einer Zigarette im Anschlag. „Duu willst Feuer haben!“, sagt Thorsten. Ich zünde mir meine Zigarette an, während Thorsten mich fragt, ob ich Interesse an einer Flasche Koks hätte. „Das machd ihr aber under euch aus“, meint Ulli, der sich in diesen Handel lieber nicht einmischen möchte. „Jaaa, ich weiß, du willsd, warte nur kurz, ich ruf ma ebm jemand an.“ Noch bevor ich Ulli von seinem Vorhaben abhalten kann, kommt Jochen von hinten angestürmt und umarmt seine beiden Partykollegen: „Will denn jetzt keina hiä Kondome kaufn?!“ Offenbar ein Ort des regen Handels, an den ich hier geraten bin.
Jochen hat heute Geburtstag, erzählt er mir. Auf die Frage, ob er denn heute auch fleißig Kohl gegessen habe, entgegnet er mir: „Ich ess kein Schweinefleisch“, stratzt von dannen und versucht per Anhalter einen Bus zum Stehen zu bringen. Vergebens. Verärgert macht er sich auf den Weg zur nächsten Laterne, um ihr ordentlich die Meinung zu geigen. Er tritt mehrere Male gegen den Pfahl und gibt dabei jodelähnliche Töne von sich. Nach einigen Sekunden besinnt er sich, umarmt den Pfahl und steigt in ein Taxi.
Thorsten und Ulli unterhalten sich derweil über Nelson Valdez, einen Stürmer von Eintracht Frankfurt, der mal bei Werder Bremen spielte, wie Ulli sich erinnert. Von innen singt mich eine übergroße Johnny-Cash-Wandmalerei an, mein Bier ist auch bald leer, genau wie Hemelingen.