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DER HERR DER BIENEN

#79 LUDWIG-ROSELIUS-ALLEE – Marten Carstensen betreut als Imker vier Bienenvölker vor dem Atlantic-Hotel an der Ludwig-Roselius-Allee. Seine Passion für die Arbeit mit und in der Natur bestimmt sein Leben

„Imker“ steht gestickt auf der Schirmmütze, die einen Schatten auf Marten Carstensens Gesicht wirft. Darunter zeigt sich ein strahlendes Lächeln. Carstensen hält sich nicht lang mit Small Talk auf, sondern lenkt das Thema unverzüglich auf seine Leidenschaft: das Imkern. Er erklärt fachmännisch, wie die Bienenkästen, sogenannte Beuten, aufgebaut sind, dass Bienen in einem Radius von drei Kilometern nach Nahrung suchen, und erläutert den Unterschied zwischen Honig- und Wildbiene. Zufrieden verschränkt er die Arme vor der Brust und schaut ein bisschen stolz auf die vier Kästen, um die ein reges Summen und Brummen herrscht.

Carstensen bringt Honigproduktion in Bremens Innenstadt“

Carstensen steht vor dem Atlantic Hotel an der Ludwig-Roselius-Allee, direkt dahinter erstreckt sich die ehemalige Galopprennbahn. Und direkt davor ein kleiner Hotelvorgarten, in dem die vier Bienenkästen zu finden sind. Darin leben zurzeit rund 32.000 Honigbienen – Bienen, um die sich Carstensen kümmert. Vor etwa zwei Jahren nahm die Hotelleitung Kontakt zum Bremer Imkerverein von 1875 e.V. auf. Ihr Wunsch: Sie wollten vor dem Hotelgebäude ein paar Bienenvölker beheimaten – und suchten nun einen kompetenten Hobbyimker, der sich um sie kümmert. Marten Carstensen, stellvertretender Vorsitzender im Bremer Imkerverein von 1875 e.V., sah sich den Standort an und sagte prompt zu. Wegen der vielen Grünflächen sei das Hotel gut geeignet. „Viele andere Mitglieder des Vereins haben ihre ein oder zwei Völker und das reicht ihnen dann auch“, sagt Carstensen, „Aber ich hatte noch Lust und Kapazitäten für zusätzliche Völker. Außerdem konnte ich mir sicher sein, dass das Hotel den Honig abkaufen würde. Es ist also eine Win-win-Situation.“

Wie die Bienen des Atlantic Hotels die Gäst:innen begeistern

Schon ein Jahr später konnte der erste Honig geerntet werden. „Die Gäste finden es einfach super, beim Frühstück mit Blick auf die Rennbahn den Honig zu genießen, der von unseren eigenen Bienen hergestellt wird!“, sagt Stefan Kohlhase, der Hoteldirektor. Es ist ein Konzept, das viele Hotels der Atlantic-Kette verfolgen. Der Website des Bremer Hotels zufolge gibt es etwa auch Bienenvölker in Atlantic-Hotels in Bremerhaven, Travemünde und Kiel. Auch das Atlantic-Hotel am Flughafen beschäftigt einen Imker für die auf dem Grundstück untergebrachten Bienenkästen.

Marten Carstensen stattet den Bienen im Sommer wöchentlich einen Besuch ab. Er überprüft, ob die Beuten beschädigt sind, ob noch genug Nahrung für die Bienen vorhanden ist und ob Anzeichen für Krankheiten vorliegen. In den kalten Monaten schaut er bloß alle drei Wochen vorbei, um die Kästen auf äußerliche Beschädigung zu überprüfen. Geerntet wird der Honig im Juni und Juli. 130 Kilogramm Honig produzierten die kleinen Nutztiere im letzten Jahr, 2020 verspricht sich Marten Carstensen einen noch größeren Ertrag.

Hotel mit Bienen und Galopprennbahn

Die Motivation der Hotelkette sei laut der Website, Bienen zu Zeiten des Insektensterbens zu schützen, gerade aufgrund ihrer Funktion als Pflanzenbestäuber – und so auch ImkerInnen und ihr Engagement für den Naturschutz zu unterstützen. Doch im direkten Gespräch macht Stefan Kohlhase keinen Hehl daraus, dass es ihm auch darum geht, dem Hotel ein Alleinstellungsmerkmal zu geben, um das Hotelerlebnis für die Gäste zu optimieren: „Die Galopprennbahn und die Bienen gehören einfach zur DNA des Hotels. Die Gäste erinnern sich so ganz anders an ihren besonderen Aufenthalt und kommen gerne wieder!“


Anonyme Hühnerschar: Essen bekommt bei Marten Carstensen keine Namen

Nachhaltige Gartenpflege

Wenn Carstensen und Kohlhase zusammensitzen, trifft Outdoor-Funktionskleidung auf schicken Businessanzug. Sie duzen sich, machen Späße. Letztendlich haben sie ein gemeinsames Ziel: Es soll den Bienen gut gehen. Im Gespräch berichtet der Hotelmanager über die anstehenden Veränderungen des Vorgartens: Während ein großer Teil der Gartengewächse radikal gekürzt werden soll, möchte das Hotel einen Teil der Wiesen nicht abmähen und Hecken stehen lassen. „Super“, sagt Marten Carstensen. Das biete nicht nur eine ideale Nahrungsquelle für seine Honigbienen, sondern auch ein gutes Habitat für die vom Insektensterben bedrohte Wildbiene.

Vom Hühnerstall zum Hofladen

Bei einem zweiten Treffen steht Marten Carstensen wieder auf einer Wiese, in seinem Garten. Auch hier finden sich mehrere Bienenkästen und daneben ein großer umzäunter Bereich, in dem Hühner schnatternd herumpicken. 24 Tiere sind es insgesamt, Marten Carstensen schlachtet sie eigenhändig, er sei da nicht so empfindlich, sagt er. Einen Namen hätten sie nicht, stellt er klar und lacht: „Essen kriegt keinen Namen, da bin ich nicht der Typ für!“ Das Fleisch, die Eier sowie den Honig verkauft er an KollegInnen, NachbarInnen und in einem Hofladen. Er ist gut vernetzt mit anderen NaturliebhaberInnen aus dem Bremer Umland. Milch kauft er nicht im Tetra Pak beim Supermarkt, sondern holt sie bei einem Bauern aus der Nachbarschaft, frisch von der Kuh sozusagen.

Text:
Helene Bode
Fotos:
Norbert Schmacke

#79 LUDWIG-ROSELIUS-ALLEE

EDITORIAL: Aus alt mach neu

Liebe Leser:innen,

diesmal entführen wir Sie weit in den Bremer Osten. In eine Straße, die für Bremer Verhältnisse vergleichsweise jung ist – und in der sich dennoch in den vergangenen Jahren vieles geändert hat. Seit ihrem Bau in den 1960er Jahren stand die Ludwig-Roselius-Allee im Schatten der benachbarten Galopprennbahn. Dort wurde gewettet, gefiebert, gelitten. Und die Straße war nur ein schnöder Zubringer zum Glück oder Pech des Tages.

Doch die Galopprennbahn ist nicht mehr. Wie es auf der Brache weitergeht, ist noch immer offen. Wir haben Anwohner:innen, Politiker:innen und Visionär:innen gefragt, was sie sich wünschen würden (Seite 10). Gleichzeitig versucht die Straße, sich neu zu erfinden. Und erhält dabei ungeahnte Unterstützung: Etwa von der hinduistischen Gemeinde, die just hier einen Tempel erbaut, weil es einer Kuh vor Ort so gut gefiel (Seite 20). Einen Neuanfang versucht auch ein sozial-ökologisches Modellquartier, in dem vieles anders ablaufen soll als man es sonst kennt (Seite 22).

Natürlich darf auch ein Gespräch mit unserem Verkäufer Mark Lindemann nicht fehlen. Er hatte ein bewegtes Leben, mit so manchen Tiefen. Und sagt dennoch von sich, er sei zufrieden mit dem, was er habe. Diese Stärke wünschen wir auch Ihnen, unseren Leser:innen und Förder:innen in diesen nach wie vor schwierigen Zeiten. Wir danken Ihnen ganz herzlich, dass Sie trotz zahlreicher Sorgen im eigenen Umfeld, trotz Abstandsregeln und den nötigen Vorsichtsmaßnahmen im Umgang mit Fremden unsere Verkäufer:innen weiterhin im Blick haben. Das macht eine solidarische Gesellschaft aus.

Viel Spaß beim Lesen wünschen
Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Ein ambivalenter Charakter

Der Namensgeber der Ludwig-Roselius-Allee war ein schwerreicher völkischer Nationalist, der auch sozialkritisch dachte und Paula Modersohn-Becker förderte

10 Der Traum von kleinen Häuschen

Ein Runder Tisch berät, was aus der seit zwei Jahren brach liegenden Galopprennbahn werden soll. Eine Bebauung der 30 Hektar großen Wiese ist zwar tabu – aber nicht in jeder Form. Wir haben Ideen gesammelt

20 „Die Kuh hat sich hier wohlgefühlt“

Im Ellener Hof entsteht der neue hinduistische Tempel Bremens. Gespräch mit Pathmakaran Pathmanathan, dem Gemeindesprecher und Gründer der hinduistischen Gemeinde in Bremen

22 Tauschen, Teilen, Sparen

Im Bremer Osten entsteht seit 2018 ein sozial-ökologisches Modellquartier. Ein Besuch auf der Baustelle

24 „Ich beneide die nicht um ihr Geld“

Mark Lindemann hat früher mal Yachten für Superreiche ausgebaut. Seine Eltern kommen aus dem Rotlichtmilieu, seinen Sohn kennt er nur durch Zufall. Heute verkauft er die Zeitschrift der Straße – für seinen Enkel

28 Der Herr der Bienen (online lesen)

Marten Carstensen betreut als Imker vier Bienenvölker an der Ludwig-Roselius-Allee. Seine Passion für die Arbeit mit und in der Natur bestimmt sein Leben

Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) gemeinsam mit Katharina Kähler, Leiterin der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission, Tourguide Reinhard "Cäsar" Spöring und Senatssprecher Christian Dohle.

BÜRGERMEISTER BOVENSCHULTE (SPD) NIMMT AN SOZIALER STADTFÜHRUNG TEIL

„Für die Zeit nach Corona wünsche ich mir, dass der Bürgermeister mal selbst eine unserer alternativen Stadtführungen mitmacht“, das sagte unser Perspektivwechsel-Tourguide Stefan Gehring erst kürzlich im Interview für unsere aktuelle Corona-Ausgabe. Und ausgerechnet an seinem Geburtstag bekam er diesen Wunsch nun erfüllt.

Nach dem Rundgang, der Bremen aus der Perspektive wohnungsloser Menschen zeigt und seit 2017 angeboten wird, sagte Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD): „Ich habe viel dazu gelernt und einen anderen Blick auf unsere Stadt entwickelt.“

Außerdem mit dabei waren Katharina Kähler, Leiterin der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission, unser zweiter Tourguide Reinhard „Cäsar“ Spöring sowie Senatssprecher Christian Dohle.

DIE BREMER TAFELN IN CORONA-ZEITEN

#78 CORONA – Die fünf Ausgabestellen der Tafel in Bremen waren auch während der Kontaktsperre in der Corona-Pandemie geöffnet – dank des Einsatzes junger HelferInnen und kreativer Ideen.

Während der Kontaktsperre mussten viele Hilfseinrichtungen schließen. Auch die Tafeln in manchen Bundesländern machten dicht. In Bremen sah das anders aus: „Zwar ging es in dem Ausgabestellen etwas langsamer zu, aber der Betrieb konnte aufrechterhalten werden“, sagt Uwe Schneider, der Vorsitzende der Tafel Bremen. „Zum Glück haben wir viele neue, jüngere HelferInnen“. So konnten die älteren HelferInnen zu ihrer eigenen Sicherheit zu Hause bleiben. Zurzeit engagieren sich laut Schneider so viele junge Menschen bei der Tafel in Bremen, dass keine weiteren HelferInnen aufgenommen werden.

Um die BesucherInnen und die HelferInnen vor einer Infektion zu schützen, verfolgen die Ausgabestellen in Bremen nun unterschiedliche Strategien. In Huchting bereiten die HelferInnen Körbe vor, die die BesucherInnen dann auswählen können. In den Ausgabestellen in Bremen Burg und in Hemelingen wählen die BesucherInnen die einzelnen Lebensmittel selbst aus. Es dürfen aber nur wenige zeitgleich im Raum sein. Zu den Seniorentafeln für mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen in Obervieland und der Vahr kommen viele Personen, die der Risikogruppe angehören. „Diese zwei Tafeln sind in den 14-Tage-Rhythmus gegangen: 60 BesucherInnen kommen in der einen Woche, 60 in der anderen. So gibt es weniger Auflauf“, sagt Uwe Schneider. Für Personen der Risikogruppe gibt es auch die Möglichkeit, jemand anderen vorbeizuschicken, um die Lebensmittel abzuholen. In Burg gibt es für ältere Menschen zudem das Angebot, dass die Lebensmittel geliefert werden. Schneider betont, dass die Tafeln aktuell auch neue KundInnen aufnähmen.

Aktuell gibt die Bremer Tafel Lebensmittel an über 7.000 Personen weiter, täglich kommen über 350 Bedarfsgemeinschaften zu den Ausgabestellen. „Die aktuellen Maßnahmen sind Übergangslösungen. Wir hoffen, dass wir weiterhin genug junge HelferInnen und Lebensmittel haben werden“. Bis jetzt sehe es aber nicht so aus als würden die Lebensmittel knapp werden. „Die Spendenfreudigkeit ist gut. Das sieht auf dem Land anders aus.“

Die Tafel in Bremen und die Tafel in Bremerhaven zählen zu den 106 Tafeln in Niedersachsen. 52 dieser Tafeln waren während der Kontaktsperre geschlossen. „90 Prozent der Helfer sind über 60 Jahre alt. Um sie zu schützen, wurden sie nachhause geschickt“, sagt Manfred Jabs, der Erste Vorsitzende des Tafelverbands Niedersachsen und Bremen. Die meisten der geschlossenen Tafeln haben sich jetzt mit Bürgerinitiativen zusammengeschlossen. „Ein paar Tafeln, wie beispielsweise die Tafel in Braunschweig, konnten wieder öffnen, weil junge Leute wie Studierende oder Konfirmandengruppen als HelferInnen dazugekommen sind“, sagt Manfred Jabs. Bei den Tafeln in Niedersachsen gab es auch Probleme, weil die Lebensmittelspenden knapp waren. „Das ist von Region zu Region unterschiedlich.“ Die Lage habe sich aber wieder normalisiert. „Manchmal hat auch eine Tafel reichlich und kann etwas abgeben. Die Tafeln helfen sich dann gegenseitig.“

Zahlreiche junge HelferInnen hielten während der Kontaktsperre den Betrieb in Bremens Tafeln aufrecht, sodass ältere HelferInnen zu ihrer Sicherheit zu Hause bleiben konnten.

In Bremerhaven und Umgebung gibt es sechs Ausgabestellen, die 4.500 Menschen im Monat versorgen. Von diesen mussten drei zeitweilig schließen – eine in Bremerhaven, eine in Dorum und eine in Bederkesa. „Die Tafeln haben hier das Glück Ware von der Firma Frosta zu bekommen. Frosta produziert im Moment viel, aber es fällt auch etwas ab,“ sagt Jabs. Auch der Schiffsausrüster Odin spendet Lebensmittel an die Tafel in Bremerhaven. Da auch die Kreuzfahrtsaison durch den Corona-Virus eingeschränkt wird, hat das Unternehmen nun einen großen Überfluss an Lebensmitteln.

Um das Infektionsrisiko möglichst klein zu halten, treffen die Tafeln in Bremen und Niedersachsen unterschiedliche Maßnahmen. „Es wird auf den nötigen Abstand geachtet und einige Tafeln packen die Lebensmittel vorab in Tüten ab“, sagt Manfred Jabs. „Andere Ausgabestellen lassen nur zwei bis drei Personen gleichzeitig rein“. Die HelferInnen seien zudem geschützt durch Handschuhe und Desinfektionsmittel. „Hier erhalten die Tafeln auch Spenden und die Hygiene wird vollständig eingehalten“, sagt Manfred Jabs.

Text: Julia Pohl
Fotos: Beate C. Köhler

#78 CORONA

EDITORIAL: Zurück ins Leben

Natürlich ist die Krise noch nicht vorbei. Für uns nicht und für unsere Verkäufer:innen schon gar nicht. Die vergangenen Wochen waren hart für sie. Sie verloren sozialen Halt und einen guten Teil ihrer eh schon kärglichen Einnahmen. Es gab kaum noch Käufer:innen auf der Straße, und auch kaum noch Zeitschriften der Straße. Denn auch wir mussten unser Büro schließen, zum Schutz der Verkäufer:innen und der ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen. Einzig die Streetworker:innen blieben, um den Kontakt zu halten und Hefte auszugeben.

Nun kehrt das Leben schrittweise zurück, wir können dank vieler toller Spender:innen – herzlichen Dank! – unsere Verkäufer:innen für ihren Verdienstausfall ein wenig entschädigen. Und es gibt eine neue Ausgabe! Dass sie sich ausschließlich um das Thema Corona dreht, ist nur scheinbar naheliegend. Denn ansonsten widmet sich ja jede unserer Ausgaben einer Straße, einem Platz, einem Ort in Bremen. Und jetzt?

Es gibt diesen Ort. In Bremen. Denn im hiesigen Dom wird die Heilige Corona ja schon seit über eintausend Jahren verehrt. Und sie ist, so steht es im Heiligen-Lexikon, durchaus auch für Abwehr von Seuchen zuständig (Seite 7). Wir haben uns mal angesehen, wie das in der praktischen Arbeit funktioniert. Und den Streetworker Jonas Pot d’Or bei der Arbeit begleitet (Seite 8) oder recherchiert, wo Bedürftige in Zeiten der Kontaktsperre nun ihr Essen herbekommen haben (Seite 20) und ein Bett für die Nacht finden konnten (Seite 26). Natürlich haben wir aber auch einige der Betroffenen befragt, wie es ihnen in dieser Zeit der Pandemie erging (Seiten 12, 24 und 28).

Leider haben wir aber auch zwei Todesfälle unter unseren Verkäufer:innen zu beklagen (Seite 30). Einer von ihnen war vor Kurzem noch unser Titelheld. Wir gedenken ihrer.

Viele interessante Erkenntnisse beim Lesen wünschen
Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Der Straßenverkauf hat NOCH NICHT wieder begonnen. Die Vorbereitungen dafür laufen, doch ein paar Tage wird es noch dauern. Sooory!

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Aus dem Inhalt:

06 Corona (online lesen)

Heiligenstatue im Bremer Dom und Mittelpunkt eines mittelalterlichen Corona-Kultes. Heute allgegenwärtiges Virus, das unser aller Leben verändert hat

08 Hausbesuch draußen

In Zeiten der Kontaktsperre sollten die Menschen möglichst viel zu Hause bleiben. Wie soll das gehen, wenn man kein Zuhause hat? Unterwegs mit Streetworker:innen

12 „Als wäre die ganze Welt paralysiert“

Aya Nathalie Yao möchte sehr gerne wieder als Krankenschwester arbeiten. Ausgerechnet die Corona-Pandemie verhindert dies nun

14 Inmitten der Leere

Bildstrecke

20 Keiner soll hungrig sein

Zahlreiche Hilfsorganisationen kümmern sich um die Verpflegung von obdachlosen Menschen. In Corona-Zeiten müssen sie einiges anders machen

22 Keine Zuschüsse für Obdachlose

Dürfen Menschen, die auf der Straße leben, jetzt noch zusammen platte machen? Wo sollen sie hin, wenn sie einen Platzverweis bekommen? Wir haben nachgefragt

24 Der Sorgenvolle

Ein Besuch bei unserem Verkäufer Giorgi Ispas, der sich weniger vor dem Virus als vor der drohenden Not fürchtet

26 Kein Ersatz für ein Zuhause

Die Notunterkünft ein Bremen sind auch in Zeiten der Corona-Krise „nicht übermäßig voll“ – und fühlen sich auf eine Quarantäne gut vorbereitet

28 „Das ist eine harte Nummer momentan“

Stefan Gehring hat es von der Straße zurück in ein geordnetes Leben geschafft. Doch die Corona-Krise ändert sein Leben grundlegend

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HEILIGE CORONA

#78 CORONA – Heiligenstatue im Bremer Dom und Mittelpunkt eines mittelalterlichen Corona-Kultes. Heute allgegenwärtiges Virus, das unser aller Leben verändert hat

In Bremen war Corona schon berühmt, lange, sehr lange bevor sie zum Synonym für Quarantäne und Hamsterkäufe mutierte. Sie wurde sogar verehrt. Und zwar gerade hier.

Corona lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus, in Ägypten oder Syrien, so genau wissen wir das heute nicht mehr. Sie soll, damals 16, bei der Hinrichtung eines gewissen Victor von Siena selbst zum Tode verurteilt worden sein. Corona starb auf schaurige Weise, erzählt die kirchliche Legende, die ja oft eine gewisse Liebe zur Grausamkeit aufweist: Man habe zwei Palmwedel zusammen gebunden und die junge Frau an deren Spitzen gefesselt. Als die Palmen zurückschnellten, wurde Corona zerrissen. In Erinnerung bleibt sie uns als christliche Märtyrerin, als Heilige, natürlich als Jungfrau und mit einem milden, melancholischen Lächeln unter langem Haar.

Geschichte und Relikte

Nach Bremen kam sie dank Erzbischof Adaldag, der im Jahre 965 ihre Reliquien zusammen mit denen von Cosmas und Damian und einigen weiteren Heiligen aus Italien mitbrachte. 1379 wurde ihr im Dom sogar ein Altar eingerichtet, die Reliquie befand sich in der südlichen Mauer des Ostchors. Von Bürgermeister und Domherr Johann Hemeling ist die Beschreibung einer Prozession zu den Dom-Heiligtümern erhalten, die 1395 stattfand – darin ist auch von dem „noch unversehrten Leichnam der Heiligen Jungfrau Corona“ die Rede. Ob es wirklich ihr „ganzer Leichnam“ war, wie es in der Überlieferung heißt? Das könne auch eine Übertreibung sein, sagt Henrike Weyh, Kustodin im Dom-Museum. Sicher ist nur, dass diese Reliquien seit der Reformation verschollen sind. Geblieben ist eine Statue in der Westempore des Doms und eine im Chorgestühl. Früher jedoch gab es noch mehr Abbildungen der Heiligen Corona; eine ist später nach München, eine andere mittlerweile ins Focke-Museum (Foto oben, von links: Hl. Paulus, Maria mit dem Kind, Hl. Petrus, Hl. Corona) umgezogen.

Patronin der Schatzgräber, Fleischer und Reichtümer

Das mittelalterliche Bremen gilt als Zentrum der Corona-Verehrung. Die Stadt wurde, dank ihrer Reliquien, einst zu einem gut frequentierten Wallfahrtsziel. Coronas (und auch des heiligen Victors) Festtag ist übrigens der 14. Mai. Sie wird bei Zweifeln an der Standhaftigkeit im Glauben angerufen und ist Patronin der Schatzgräber und Fleischer. Man kann sie zudem in Geldangelegenheiten anbeten. In Zauberbüchern aus dem 17. und 18. Jahrhundert finden sich denn auch Corona-Gebete, die den Gläubigen Reichtümer versprachen. In Österreich ist sogar ein Örtchen am Wechsel nach ihr benannt. Und dort jedenfalls ist die Heilige auch für die Abwehr von Seuchen bei Mensch und Viehzeug zuständig.

Test:
Tanja Krämer & Jan Zier
Foto:
Jürgen Howaldt / Wikipedia (CC BY-SA 3.0 DE)

#77 LEIBNIZPLATZ (digitale Soli-Ausgabe)

EDITORIAL: In Zeiten des Coronavirus

Das ist die erste Ausgabe, die nie gedruckt werden wird: Die Zeitschrift der Straße in Bremen hat wegen des Coronavirus ihren Vertrieb eingestellt. Dieses Heft, das am Leibnizplatz in der Neustadt spielt, erscheint deshalb ausschließlich online. Für alle Engagierten ist das eine schmerzliche Erfahrung. Aber der Schutz unseres ehrenamtlichen Vertriebsteams und unserer VerkäuferInnen vor Ansteckung ist eine große Herausforderung, die wir sehr ernst nehmen.

Je mehr Menschen sich selbst isolieren, von zu Hause arbeiten, unter Quarantäne stehen und den Kontakt zu Fremden meiden, desto schwieriger wird auch der Straßenverkauf von Zeitschriften. In diesen Wochen und Monaten verzeichnen deshalb alle Straßenmagazine schwere Einbrüche im Absatz. Auch wir werden um unsere Existenz kämpfen müssen. Dabei sind unsere StraßenverkäuferInnen, von denen viele gesundheitlich beeinträchtigt sind, durch das Coronavirus besonders gefährdet. Viele von ihnen sind EU-MigrantInnen und erhalten hierzulande keine Sozialleistungen. Unser Herausgeber, der Verein für Innere Mission, tut weiterhin alles nun Mögliche, um Sozialarbeit zu leisten. Doch es wird schwer, mit unseren VerkäuferInnen über die nächsten Monate überhaupt in Kontakt zu bleiben.

Um ihnen beizustehen, haben wir nun eine Spendenkampagne ins Leben gerufen, die Sie unter https://zeitschrift-der-strasse.de/corona/ auch im Netz finden. Wir benötigen jeden Euro. Wenn Sie uns helfen wollen, können Sie Ihre Spende an folgende Adresse überweisen:

Verein für Innere Mission in Bremen
IBAN: DE 22 2905 0101 0001 0777 00
BIC: SBREDE22XXX
Verwendungszweck: Zeitschrift der Straße

Oder nutzen Sie für Ihre Spende unser Spendenformular. Es wird uns von betterplace.org zur Verfügung gestellt. Alle Daten werden verschlüsselt übertragen. Zu Beginn des kommenden Jahres erhalten Sie eine Spendenquittung.

Die Hilfe muss weitergehen!

Klicken Sie auf das Cover, um die Solidaritätsausgabe #77 LEIBNIZPLATZ als PDF herunterladen. Bitte zeigen Sie Ihre Solidarität mit Ihrer Spende.

Viel Spaß beim Lesen wünschen Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Vertrieb fährt bald wieder hoch

In den letzten Wochen, während unser Vertriebsbüro geschlossen und der Straßenverkauf im Wesentlichen eingestellt war, haben wir auf unsere Spendenkampagne eine tolle Welle der Solidarität erfahren. Es gingen 14.500 Euro an Spenden ein!

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Wie versprochen, zahlen wir diesem Betrag direkt an unsere StraßenverkäuferInnen aus, um ihnen einen Teil ihrer Verdienstausfälle aus dem Straßenverkauf zu ersetzen. Vorrang haben Menschen ohne Anspruch auf staatliche Leistungen. Die Auszahlungen erfolgen in kleinen Beträgen und werden sich bis Juli hinziehen. Dann bewerten wir die Lage neu und entscheiden, ob wir die Auszahlungen fortsetzen. Das folgende Video dokumentiert den Ablauf.

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Allerdings haben unsere anderen Hilfsprojekte durch die „Corona-Auszeit“ gelitten. Die Weiterfinanzierung der Uni der Straße ist unklar. Das Fundraising für ein Lastenfahrrad zur Auslieferung von Zeitschriften konnte nicht beginnen. Und die digitale Solidaritätsausgabe #77 LEIBNIZPLATZ haben wir aus unseren Reserven finanziert.

Deshalb halten wir unseren SPENDENAUFRUF aufrecht. Wenn Sie uns weiter können und helfen wollen, spenden Sie bitte an folgende Bankverbindung:

Verein für Innere Mission in Bremen
IBAN: DE 22 2905 0101 0001 0777 00
BIC: SBREDE22XXX
Verwendungszweck: Zeitschrift der Straße

Oder nutzen Sie für Ihre Spende unser Spendenformular. Es wird uns von betterplace.org zur Verfügung gestellt. Alle Daten werden verschlüsselt übertragen. Zu Beginn des kommenden Jahres erhalten Sie eine Spendenquittung.

Vielen Dank!

#76 GRÖPELINGER HEERSTRASSE

EDITORIAL: Hingehen und ankommen

Gröpelingen: ein Stadtteil im Westen Bremens, den so mancher Bremer wohl noch nie wirklich besucht hat. Wenige Stadtteile bei uns haben einen so schlechten Ruf, wenige wecken so viele Berührungsängste. Dabei hat Gröpelingen viel zu bieten. Man muss nur hinschauen. Und natürlich haben wir das gemacht: Unsere AutorInnen sind ausgeschwärmt entlang der Hauptschlagader Gröpelingens, der Gröpelinger Heerstraße. Knapp drei Kilometer mitten durch den Stadtteil, entlang an türkischen Gemüseläden, Cafés, Altbremer Reihenhäusern und jeder Menge Geschichten.

Wir sprachen mit KontaktpolizistInnen über Clankriminalität, Drogenhandel und Gewalt – und darüber, ob der Stadtteil tatsächlich so schlimm ist, wie sein Ruf. (Seite 12). Wir trafen Menschen, die Kindern und Jugendlichen im Atelier Roter Hahn Kunst nahebringen und ihre Kreativität fördern (Seite 24). Und sprachen mit einer Frau, die einst unter psychischen Problemen litt, nun aber als Genesungsbegleiterin Menschen mit ebensolchen Problemen professionell unterstützt (Seite 9) Und wir haben kurz vor seinem Abriss noch einmal das knapp hundertjährige Tram-Depot der Bremer Straßenbahn AG besucht und in Bildern dokumentiert (Seite 16).

Außerdem begrüßen wir in dieser Ausgabe die neue Bereichsleiterin für die Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission, Katharina Kähler. Mit ihr sprachen wir über politische Antworten auf die Wohnungslosigkeit und neue Wege in Wohnraum (Seite 28). Solche Antworten könnten dann hoffentlich auch unserem Verkäuer Stefan Nagy helfen, den wir Ihnen ebenfalls vorstellen (Seite 26).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Jan Zier, Tanja Krämer
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

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Aus dem Inhalt:

08 Zeigen, dass es möglich ist

Wenn man psychisch erkrankt, fällt es nicht immer leicht, an die eigene Genesung zu glauben. GenesungsbegleiterInnen sollen hierbei helfen

12 Gewaltig anders

Die Gröpelinger Heerstraße gilt manchen als „Ort der Angst“ und Hochburg der Gewaltkriminalität. Mediales Zerrbild oder harte Realität?

16 Ein Aufbruch, ganz am Ende

Bildstrecke

24 Die Kraft der Monster

Im Atelierhaus Roter Hahn bekommen auch Kinder und Jugendliche einen Raum für ihre Kunst. Doch es fehlt das Geld

26 „Ich mache das nur für meine Familie“

Stefan Nagy verkauft die Zeitschrift der Straße. Mit uns redet er über Heimat, Freundschaft und den Wunsch nach Arbeit

28 „Wer sind wir, zu urteilen?“ (online lesen)

Katharina Kähler ist die neue Leiterin der Wohnungslosenhilfe des Vereins der Inneren Mission in Bremen. Ein Gespräch.

Beitragsbild: Kirill Ignatyev/flickr.com

„WER SIND WIR, ZU URTEILEN?“

#76 GRÖPELINGER HEERSTRASSE – Katharina Kähler ist die neue Leiterin der Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission in Bremen. Ein Gespräch über die Probleme von Menschen ohne Obdach, neue politische Konzepte und erfüllende Erlebnisse

Es ist unheimlich viel Gutes gewachsen in diesem Bereich, ein beeindruckendes Netzwerk in Bremen, in der Trägerlandschaft, im Kontakt mit denjenigen, die wir erreichen wollen. Davon möchte ich vieles erhalten. Gleichzeitig müssen wir uns mit neuen Herausforderungen beschäftigen, dem Bundesteilhabegesetz etwa oder dem Thema „Housing First“.

Erst einmal muss man das Schlagwort „Housing First“ inhaltlich füllen. Der Ansatz ist, unbürokratisch Wohnraum für Menschen zur Verfügung zu stellen. Wohnen ist ein Menschenrecht, deshalb finde ich den Ansatz grundsätzlich gut. Die Frage ist, wie wir das umsetzen wollen, auch auf sozialpolitischer Ebene. In Bremen ist die soziale Wohnbau-Politik ja sehr im Rückstand. Es ist kein ausreichender Wohnraum vorhanden. Was wir uns auch klarmachen müssen: Der Schritt in den Wohnraum wird durch „Housing First“ zwar hoffentlich erleichtert, aber es wird weiter die Situation geben, dass Menschen unterschiedliche Arten von Unterstützung brauchen, um diesen Wohnraum auch halten zu können. Und dazu braucht es ein System, das solche  Unterstützungsangebote vorhält.

Genau davor möchte ich sehr warnen. Wir müssen etwas Gutes konstruieren, das sowohl den Wohnraumbedarf abdeckt, aber eben auch das Hilfesystem, das es braucht, um diejenigen dabei zu begleiten, die dann hoffentlich schneller an Wohnraum kommen. Es wird auch immer eine Gruppe von Menschen geben, die sagt: „Ich fühle mich dort eingeengt“ oder „Das sind mir zu viele Zwänge“. Eine Geschosswohnung, eine Mietergemeinschaft mit vielen unterschiedlichen Menschen in räumlich möglicherweise etwas beengteren Verhältnissen: Das ist nicht für jeden die geeignete Lebensform. Auch hier muss man schauen: Was wollen diese Menschen? Was brauchen sie?

Natürlich sollte das auch nicht der Standard des Wohnens sein, an dem wir uns orientieren. Aber ich finde, es muss durchaus auch Insellösungen geben für Menschen, die etwas andere Vorstellungen haben. Deren Bedürfnisse und Bedarfe müssen wir eben auch mitberücksichtigen.

Das ist eine Modeerscheinung, die medial sehr gehypet wird, ein schwieriges Thema. Denn es geht hier um kleine, schnell aufbaubare Wohnhäuschen, die in der Regel nicht einmal Sanitäranlagen haben. Das ist für mich kein wirklich menschenwürdiges Wohnen. Ich würde daher eher „Housing First“ verfolgen und „Tiny Houses“ als kleine, kreative Ergänzung an der einen oder anderen Stelle sehen.

Solange jemand auf der Straße wohnen möchte, finde ich, ist – in einem gewissen Umfang – auch diese Entscheidung zu respektieren und zu akzeptieren. Wer sind wir, darüber zu urteilen? Aber es ist natürlich wichtig, die Menschenwürde zu erhalten, etwa indem man die Zugänge in die Versorgung offen hält.

Wohnungslosigkeit ist eine komplexe Problemlage, die sich aus sozialen und baulichen Problemen, aus Verdichtungsproblemen und auch aus gesellschaftlichem Wandel speist. Das kann man nicht mit einem Ansatz lösen. Es braucht ein Puzzle mit ganz vielen Teilen, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Wir haben in Bremen auf jeden Fall ein großes Augenmerk auf diese Thematik und ein sehr ausdifferenziertes Hilfsangebot. Ich glaube aber trotzdem, dass man nie genug tun kann und dass wir alle gefordert sind, die Politik zum Handeln aufzufordern. Da verschieben sich die Schwerpunkte über die Jahre. Aktuell ist das Thema sozialer Wohnungsbau und der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zentral.

Ich denke, dass wir gut damit fahren, unsere soziale Verantwortung in der Stadt auch über sozialen Wohnungsbau abzubilden und mit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft wie der Gewoba die Hand drauf zu halten. Ich habe wenig Hoffnung in die Investoren.

Wir haben gerade im Bereich der illegalen Suchtmittel eine so große Diskrepanz zwischen der Realität, den gesetzlichen Regelungen und dem Umgang mit dem Spannungsfeld dazwischen, dass wir bislang kaum zu konstruktiven Lösungen kommen konnten. Bremen beschäftigt sich aber inzwischen mit dem Thema „Druckraum“, also einem geschützten Raum, in dem auch illegale Drogen konsumiert werden können. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Aber ich glaube, dass es insgesamt noch mehr Verzahnung zwischen den Systemen braucht.

Ja, es gab wohl zahlreiche Platzverweise und Beschwerden über Ordnungswidrigkeiten. Dieses Verdrängung ist in meinen Augen ein schwieriges Thema, denn das ist öffentlicher Raum. Ich verstehe auf der einen Seite, dass es an manchen Stellen Berührungsängste gibt. Ich finde aber, dass wir die Aufgabe haben, diesen öffentlichen Raum für alle Menschen zur Verfügung zu stellen. Daher hat der Verein für Innere Mission lange für den heutigen Szenetreff an der Ostseite des Hauptbahnhofs gekämpft.

Tatsächlich sähe ich den Szenetreff lieber mittendrin im Bahnhofsumfeld, und den Zaun finde ich auch nicht schön. Wir hätten den Ort ohne Zaun aber aus Sicherheitsgründen nicht schaffen dürfen. Leider müssen wir ihn außerhalb der Öffnungszeiten auch abschließen. Es gab massive Vandalismus-Schäden, als wir es offener angehen wollten, auch bei der Toilette. Dennoch wird der Treff inzwischen gut angenommen. Insgesamt hatte ich aber bei der Diskussion um diesen Szenetreff doch das Gefühl, dass uns als Verein für Innere Mission – die wir ja als Interessensvertreter der Wohnungslosen und Menschen in prekären Lebenslagen auftreten – zugehört wurde. Es gibt eine große Bereitschaft zum Dialog, das nehme ich auch bei den Kontaktpolizisten wahr. Es geht den Behörden eben auch darum, den Haltestellenbereich freier zu halten von Menschen, die sich dort tagsüber aufhalten, aber nicht den Bus- und Bahnverkehr nutzen. Es ist aber auch wichtig, genau diese Gruppe von Menschen mit einzubeziehen, weil das  Bahnhofsumfeld öffentlicher Raum für alle ist.

Das ist eine Gruppe, die es ohnehin sehr schwer hat, sich hier durchzukämpfen. Sie arbeiten oft in sehr prekären Arbeitsverhältnissen, die deutlich unter dem Toleranzbereich der Legalität liegen, man spricht auch vom „Arbeiterstrich“. Rechtlich gesehen haben sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen, solange sie keine sozialversicherungspflichtige Anstellung haben. Damit habe sie auch keinen Anspruch auf die Angebote der Wohnungslosenhilfe. Im Moment erhalten sie jedoch im Rahmen der Kälteregelung für den Winter einen Schlafplatz. Es gibt spezielle Beratungsangebote für diese Menschen in Bremen, aber dennoch leben sie oft in sehr prekären Verhältnissen.

Grundsätzlich dürfen sie ja im Rahmen der Freizügigkeit der EU bei uns arbeiten. Aber die Arbeit, die sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oft nur finden, ist nicht selten illegal. Und da entsteht dann natürlich Angst, sich zu offenbaren. Deshalb ist es wichtig, nicht-staatliche Hilfsangebote zu haben: Beratung ist dort auch anonym möglich.

Nein. Es gibt zwar große Hürden auf dem Weg zurück in geregelte Wohn- und Lebensverhältnisse. Aber wir sehen oft, dass ganz viele kleine Schritte für die Menschen auch schon ein Erfolg sind, die ihre Lebenssituation akut verbessern. Ich nehme so viel Positives wahr, ich erlebe so viele engagierte Menschen, dass ich überhaupt nicht sagen kann, dass es frustrierend ist. Ich habe sehr viel Respekt vor Menschen, die in so eine schwierige Lebenssituation geraten sind und sich da raus kämpfen wollen. Ich habe genauso viel Respekt vor all denjenigen, die mitarbeiten, dass das gelingt. Ich empfinde das als sehr erfüllend!

Katharina Kähler, 40, leitet seit Dezember 2019 den Bereich der „Wohnungslosenhilfe“ bei der Inneren Mission. Zudem verantwortet sie seit mehreren Jahren die Kinder- und Jugendhilfe dort. Angefangen hat sie vor knapp 20 Jahren als Studentin in der Notunterkunft für Frauen. Später arbeitete sie in der Zentralen Fachstelle Wohnen sowie als Beraterin von Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution.

Text und Foto: Jan Zier