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DIE BREMER TAFELN IN CORONA-ZEITEN

Während der Kontaktsperre mussten viele Hilfseinrichtungen schließen. Auch die Tafeln in manchen Bundesländern machten wegen der Corona-Pandemie dicht. In Bremen wiederum waren die fünf
Ausgabestellen der Tafel auch während des Lockdowns geöffnet – dank des Einsatzes junger HelferInnen und kreativer Ideen.

WIE MAN SICH SEIN HOBBY ABGEWÖHNT

#51 WALLER PARK: Erich Schneider führt seit zwei Jahren einen Modellbauladen. Gern würde er mehr Kinder in seinem Geschäft begrüßen, aber seine Kundschaft wird immer älter (Online-Artikel) Das Handy in Erich Schneiders Brusttasche klingelt. Er wirft einen kurzen Blick drauf und schüttelt den Kopf. „Nicht der schon wieder“, murmelt er und sagt etwas geheimnisvoll: „Das meinte ich vorhin mit der Sozialstation.“ Schneider kauft und verkauft Modelleisenbahnen und Modellbauzubehör. Der kleine, vollgestellte Laden an der Ecke Gröpelinger Heerstraße/Altenescher Straße sieht aus, als stehe er schon seit sehr langer Zeit dort. Tatsächlich gibt es „Erich’s Modell-Shop“ aber erst seit zwei Jahren. Schneider, 57 Jahre alt, besaß vorher eine kleine Spedition. Weil sich das aber nicht mit seinem Leben als alleinerziehender Vater vertrug, begann er, hauptberuflich in einem Modellbauladen zu arbeiten, in dem er vor dem Studium schon gejobbt hatte. Als dieser, wie so viele andere auch, den Betrieb einstellte, entschloss sich Schneider, einen eigenen Laden zu eröffnen. Ein alter Herr kommt langsam, sich an den Regalen abstützend, in den Laden. „Ich muss zum Jahresende aus meiner Wohnung …

DAS WESTBAD UM HALB ACHT

#51 WALLER PARK: Das 42 Jahre alte Hallenbad in Walle soll modernisiert werden. Früh morgens, wenn das Wasser noch glänzt wie ein polierter Spiegel, wirkt es schön wie am ersten Tag (Online-Bildstrecke)   Bremens Drittklässler haben einmal pro Woche Schwimmunterricht, und der ist dringend nötig: Etwa die Hälfte der 4.600 Acht- bis Neunjährigen kann zu Beginn des Schuljahres nicht schwimmen. Schlimmer noch: „Viele der Kinder haben noch nie ein Schwimmbad von innen gesehen“, sagt Sabrina Winkler, Schwimmeisterin im Waller Westbad. Wir wissen nicht, ob unser Fotograf Benjamin Eichler schwimmen kann. Sicher ist: Er hat sich das Innere des Westbads ganz genau angesehen und dabei wunderbare Bilder gemacht.   Fotos: Benjamin Eichler Text: Philipp Jarke

DAS PHÄNOMEN LESTRA

#38 HORNER KIRCHE – Ein unabhängiger Supermarkt in Familienbesitz hält sich wacker im Konkurrenzkampf mit Lebensmittelketten und Discountern. Unser Autor schaut nach, wie das geht.   Lestra steht in einem Reisführer als Bremer Einrichtung, deren Besuch lohnt. Beachtlich für einen Supermarkt. Allerdings kein gewöhnlicher seiner Art. Lestra war schon „Supermarkt des Jahres“, „Bester Getränkehändler“, „Beste Weinabteilung Deutschlands“, „Beste Tiefkühlabteilung“, „Lieblingstheke Käse“, „Fischtheke des Jahres“ und „Lieblingsmarkt“. Stets ausgezeichnet durch Fachleute oder Kundenbefragungen. „Andere Geschäfte haben auch viel Auswahl, aber Lestra toppt das noch einmal“, sagt Karsten Nowak, Leiter des Geschäftsbereiches Einzelhandel der Handelskammer Bremen. „Man kann seinen Grundeinkauf dort erledigen und bekommt viele Besonderheiten dazu. Etliche Lebensmittel findet man nur dort.“ Um als Familienunternehmen gegen übermächtige Ketten und Discounter bestehen zu können, hat das Kaufhaus einen langen Weg zurückgelegt. Der heutige Edel-Supermarkt mit dem besonderen Ruf eröffnet 1970 direkt gegenüber der Horner Kirche. Lestra ist Mittelpunkt des Stadtteils, ausgestattet jedoch mit einer Strahlkraft, die weit darüber hinaus reicht. Ein Jahr zuvor hatte die BSAG auf dem ehemaligen Straßenbahndepot eine knapp 3.000 Quadratmeter große Verkaufshalle errichtet. Kaufmann Heinz Strangemann pachtet …

UNTER BLINDEN

#32 GETEVIERTEL – Christoph Kendel ist Lehrer an der Blindenschule im Geteviertel. Täglich unterstützt er Kinder mit Sehbehinderung dabei, ihren Schulalltag zu meistern.   Brille mit schwarzem Rahmen, braunes Hemd, darüber eine knallgelbe Warnweste – Christoph Kendel steht mitten auf dem Schulhof. Er hat Pausenaufsicht. Die gelbe Weste gibt den sehbehinderten Schülern Orientierung, hilft ihnen, ihren Lehrer besser wahrzunehmen und sofort zu wissen, wo er ist. Langsam tritt Kendel vom einen Bein auf das andere. Um ihn herum toben Kinder, spielen mit einem alten, etwas zerknautschten Ball Fußball. Von der Rutsche her hört man Geschrei – wie auf jedem anderen Schulhof. Und doch ist die Georg-Droste-Schule, zu der der Schulhof gehört, etwas Besonderes. Das Klettergerüst, die Torwand, das hellgelbe Gebäude. All das gehört zu dem Förderzentrum für Sehen und visuelle Wahrnehmung im Geteviertel. Christoph Kendel unterrichtet hier seit neun Jahren. Während er zum Eingang des Schulgebäudes geht, hat er trotzdem ein breites Lächeln im Gesicht. Er scheint motiviert. „Hallo Herr Kendel!“, grüßen die Schüler ihn. Kendel streckt die Hand aus, ein Junge schüttelt sie, grinst …

DER WEG WAR DAS ZIEL

#29 SILBERPRÄGE: Wo einst John­ny Cash und Nir­va­na auf­tra­ten, tref­fen sich heute Hun­der­te Kohl­fah­rer. Ein Ab­ste­cher zum Ala­din   Das Ala­din also, einst Gast­stät­te und Kino, heute ein Ort zwi­schen Kon­zert­hal­le und Fest­zelt, das sich einen Namen mit Par­tys wie „Titty Twis­ter“, „End­lich Frei­tag“ oder „Hüt­ten­gau­di“ ge­macht hat. Ich satt­le die Hüh­ner und mache mich auf den Weg, in der Hand ein Ge­bräu, des­sen Auf­schrift heute meine De­sti­na­ti­on sein soll. Es ist 3:13 Uhr in der Nacht, als ich von wei­tem den leuch­ten­den Schrift­zug über dem Ein­gang pran­gern sehe. Heute stand die Ro­ckin’ Kohl­fahrt auf dem Plan. Dem Ge­tüm­mel drau­ßen nach zu ur­tei­len ist es ein ge­lun­ge­ner Abend ge­we­sen. Drin­nen wer­den ge­ra­de die Stüh­le hoch­ge­stellt, grobe Un­rein­hei­ten be­sei­tigt und die The­ken ge­wischt. Vor dem Ge­bäu­de er­schöpf­te Kohl­freun­de, die sich nach und nach auf die Taxen ver­teilt. Doch nicht alle wol­len schon gehen; Thors­ten und Ulli leh­nen läs­sig am Ge­bäu­de und un­ter­hal­ten sich. Ich nä­he­re mich ihnen mit einer Zi­ga­ret­te im An­schlag. „Duu willst Feuer haben!“, sagt Thors­ten. Ich zünde mir meine Zi­ga­ret­te an, wäh­rend Thors­ten …

WER BRAUCHT SCHON RUHE ZUM LERNEN?

#26 WALFISCHHOF – 100 Dezibel drücken auf die Ohren, wenn angehende Schlagzeuglehrer ihr Spiel verfeinern. Wer braucht schon Ruhe zum Lernen? Ein Besuch im Trommelwerk Bremen.   Ein langer schmaler Gang, Tür reiht sich an Tür, am Ende ein Konzertsaal. Pearls, Premiers und jede Menge Sonors stehen im Raum, vier Drummer setzen sich breitbeinig hinter die Schlagzeuge. „So, ohne dass wir nervös werden: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B“, sagt Stefan Ulrich, genannt Steff. Er unterrichtet Jazz für angehende Schlagzeuglehrer, seine Studenten sollen den Wechsel zwischen Drumsticks und Jazzbesen üben. Eine knifflige Koordinationsübung: Wohin mit dem überzähligen Stick? Der Trommelwerk-Schüler Daniel Schneiker sucht noch eine geeignete Ablage. „Man kann den anderen Stick super untern Arsch oder untern Arm klemmen“, rät Steff. Daniel nimmt den Hintern, los geht‘s. Den Besen in der linken Hand, streichelt er über das Fell der Snaredrum, rechts bringt der Stick Becken zum Scheppern, die Bassdrum wummert. Wechsel! Daniel legt den Besen in behutsamer Eile auf die große Trommel, zieht den zweiten Stick hervor und findet den verlorenen Takt …

FREMDKÖRPER MIT PARKVERBOT

#25 ZIEGENMARKT – Zu sauber, zu teuer, zu groß – der Neubau überm „Rewe“ ärgert viele. Hält nur Dreck Gentrifizierung auf? Die Geschichte von „Ziegenmarkt 21“   Das rie­si­ge rote X prangt wie ein Park­ver­bot vor dem Ein­gang des gro­ßen Wohn- und Ge­wer­be­blocks am Zie­gen­markt. Ein Park­ver­bot für Men­schen. Die­ser Fleck soll frei blei­ben, heißt das: Frei von ver­meint­lich bet­teln­den, ner­vi­gen Punks, frei von Jun­kies, Ob­dach­lo­sen und allen an­de­ren, die sich auf dem Platz gerne auf­hal­ten. Die Glas­tür hin­ter dem X und die Plat­te mit den Klin­geln ist sau­ber. Di­rekt da­ne­ben aber hängt alles vol­ler Pla­ka­te, wild an die Back­stein­fas­sa­de ge­kleis­tert. Vom strah­lend wei­ßen Putz der dar­über­lie­gen­den Eta­gen leuch­ten bunte Farb­bom­ben­kleck­se – Zei­chen des Wi­der­stands. Verglichen mit dem benachbarten Ostertor ist das Steintor noch weit weniger geleckt. Der Ziegenmarkt, dieser Platz im spitzen Winkel von Friesenstraße und Vor dem Steintor, ist das soziale Zentrum des Steintorviertels, direkt an dessen Pulsader gelegen. Dreimal die Woche ist das buckelige Kopfsteinpflaster vollgestellt mit Marktbuden. Abends treffen sich hier Alkoholiker und solche, die es werden wollen; in den umliegenden …

DIE LEICHTIGKEIT DES BUDDHA

#25 ZIEGENMARKT – Als Hip­pie such­te er das Neue. Ost­asi­en ließ ihn nicht mehr los. Eine Tee­ze­re­mo­nie mit Ha­rald Lührs in sei­ner „Bud­dha­welt“   Die Bud­dha­sta­tue ist schon von Wei­tem zu ent­de­cken. Un­über­seh­bar sitzt sie auf dem Bür­ger­steig, wei­ßer Stein, be­stimmt einen Meter groß. Ha­rald Lührs hat viele Bud­dha­sta­tu­en in sei­nem Laden, große und klei­ne, aus Stein, Holz und Bron­ze, die meis­ten aus China, aber auch aus Sri Lanka, In­do­ne­si­en und an­de­ren Län­dern. Es sind Hei­lig­tü­mer der un­ter­schied­lichs­ten bud­dhis­ti­schen Rich­tun­gen, im Tem­pel dürf­te man sie nicht ein­mal fo­to­gra­fie­ren. Hier aber kann man sie kau­fen, die kleins­ten für 20 Euro, die gro­ßen für ein paar Tau­sen­der. Die Bud­dhas haben es ihm an­ge­tan. Seine erste Sta­tue kauf­te er mit 17, in den 1960ern. „Hip­pie­zeit“, sagt Ha­rald Lührs, und dass er, wie alle in sei­nem Um­feld da­mals, auf der Suche nach einer neuen Sicht­wei­se auf die Welt und gegen be­ste­hen­de Sys­te­me und Hier­ar­chi­en war. „Wir woll­ten neue Dinge aus­pro­bie­ren.“ Asia­ti­sche Kul­tur fas­zi­nier­te ihn, be­son­ders der Bud­dhis­mus. „Aber dass ich ein­mal Tee­haus­be­sit­zer sein würde, das dach­te ich da­mals noch …

TRITT INS LEERE

#25 ZIEGENMARKT – Ein Zei­chen für den ers­ten Sex, für Mord und Tot­schlag oder ein­fach für nichts? Eine Suche nach der Wahr­heit über die Schu­he an der Leine   „Viel­leicht ist es ja auch ein­fach eine Fies­heit unter ver­fein­de­ten Schü­lern und so“, ver­mu­tet das Mäd­chen. „Also, man klaut einem die Schu­he und wirft sie hoch, dass sie hän­gen blei­ben, und sagt: ‚Hol sie dir!‘“ Neun sind es an der Zahl. Sport­li­che Ver­sio­nen, an den Schnür­sen­keln zu­sam­men­ge­bun­den, immer paar­wei­se. Man muss den Kopf schon ziem­lich in den Na­cken legen, um sie zu sehen. Sie hän­gen un­term Bre­mer Him­mel, ge­nau­er: über dem Draht­seil, an dem auch die Stra­ßen­la­ter­ne hoch über der Kreu­zung be­fes­tigt ist. Und nicht nur hier. „Shoefi­ti“, zu­sam­men­ge­setzt aus den eng­li­schen Wör­tern „shoe“ und „graf­fi­ti“. Wie auch Graf­fi­ti und „Urban Knit­ting“, das Um­hä­keln von Park­pol­lern, Mas­ten und an­de­rem, ist die Schuh­in­stal­la­ti­on eine Form, in den öf­fent­li­chen Raum ge­stal­tend ein­zu­grei­fen – Gue­ril­lakunst also. Unter In­si­dern gilt schon das Wer­fen an sich, im Fach­jar­gon „Shoetos­sing“ ge­nannt, als Per­for­mance. Dass Schu­he an Ka­beln, Bäu­men, Am­peln und La­ter­nen bau­meln, …