Alle Artikel mit dem Schlagwort: Bremen

#96 KONSUL-SMIDT-STRASSE

EDITORIAL: SZENISCHE EINSTIEGE Liebe Leser:innen, „Es war eine dunkle und stürmische Nacht“, so beginnt der Roman „Paul Clifford“ von Edward Bulwer-Lytton: jenem zweifelhaften englischen Literaten, nach dem gar ein Festival benannt ist. Gekürt werden dort regelmäßig die schlechtesten ersten Sätze von Romanen. Auch Snoopy hat seinen ersten und einzigen Roman mit eben diesem Satz begonnen. Das konnten unsere Autorinnen und Autoren nicht wissen, als sie ihre Texte für diese Ausgabe schrieben, die zum Teil exakt in diesem Setting beginnen: dunkel, windig, Nieselregen. JournalistInnen lieben szenische Einstiege, und das ist auch oft genau richtig so: Denn wir wollen Sie, unsere Leserinnen und Leser, ja mitnehmen zu den Orten, die wir für Sie gesucht und gefunden haben. Wenn es allerdings – wie in der Überseestadt – allzu oft stürmisch ist (und abends natürlich dunkel), dann sagt das schon viel über einen Ort aus. Abweisend wirkt es dort, wenn der Wind durch die Häuserschluchten fegt. Das Quartier ist immer noch im Werden, das haben auch wir frierend erfahren und aufgeschrieben. Wir haben ein Paar besucht, das vom heimeligen …

#95 BULTHAUPTSTRASSE

EDITORIAL: SCHÖNHEIT BESTEHT Liebe Leser:innen, so richtig en vogue ist es ja eigentlich nicht mehr, derartig hemmungslos im Jugendstil zu schwelgen. Man kommt so leicht in den Ruch des Bourgeoisen. Dabei ist der Jugendstil eigentlich eine konsumkritische Reformbewegung gewesen, die sich mit ihren verspielten Dekoren gerade gegen die prekär hergestellte Massenware wandte. Nun war Schönheit noch nie eine billige Angelegenheit, das ist der Haken daran. Aber lassen Sie uns unseren Spaß – und haben Sie selbst welchen, während Sie diese Ausgabe durchblättern. Kommen Sie mit in ein liebevoll saniertes Altbremer Haus und erfahren Sie mehr darüber, was eigentlich Denkmalschutz bedeutet: Nämlich nicht nur Lust, sondern durchaus auch Last (S. 8). Eine der schönsten Pointen der Bremer Baugeschichte ist im Übrigen diese: Die Firma J. H. Fuhrken hat nicht nur der Bulthauptstraße einst ihren Stempel aufgedrückt. Die Firma gibt es immer noch: heute spezialisiert auf Altbausanierung. Wir haben die Geschäftsführerin besucht und dabei viel über das Bauhandwerk vergangener Tage gelernt, das es tatsächlich in sich hatte (S. 22). Wer genug hat von Erkern und Giebeln, dem …

DIE HALBE STRASSE

#95 BULTHAUPTSTRASSE – Die Firma Fuhrken hat einst die halbe Bulthauptstraße gebaut. Heute saniert sie Altbauten – und öffnet für uns ihr Firmenarchiv Wer mit offenen Augen durch Bremen geht, sieht sie manchmal, die blau-gelben Fuhrken-Lkws: „Bauunternehmung“ steht darauf und: Altbausanierung. Die Firma J. H. Fuhrken ist ein Traditionsbetrieb, seit dem Jahr 1900 besteht die Firma schon, und die kleine, ein bisschen lustige Pointe: Viele der Gebäude, die die Firma jetzt saniert, hat sie früher einmal selbst gebaut. Zeit also für einen Ortsbesuch: Wir sind verabredet mit Urda Blohm-Sudholz, der Großnichte des Firmengründers. Sie öffnet für uns ihr Archiv. Das Geschäftsgelände der Firma Fuhrken befindet sich seit über 50 Jahren an der Stresemannstraße: ein relativ unscheinbares, weißes Industriegebäude in zweiter Reihe und dahinter eine große Halle, in der Baumaterialien gelagert werden. Im Hausflur hängt eine Luftaufnahme, auch schon ein paar Jahrzehnte alt, die das Gelände von oben zeigt: Auf den ersten Blick hat sich dort bis heute nicht viel verändert. In der Nachbarschaft dafür umso mehr: Rund um das Grundstück befanden sich damals hauptsächlich Grünflächen …

FACHHANDEL DER STERNE

#94 BISMARCKSTRASSE – Ein bisschen verwunschen wirkt er ja schon: der Edelsteinladen Kassiopeia. Dabei ging es hier anfangs nur um das Geschäft mit Kaffee aus aussortierten Bohnen Der Name „Kassiopeia“ lässt zunächst an Sternbilder und Mythologie denken. Auch der kleine Laden an der Bismarckstraße hat auf den ersten Blick etwas Magisches an sich, mit seinen dezenten, aber kunstvollen Verzierungen und seiner schweren Holztür. Dabei ging es bei der Gründung 1952 zunächst vor allem um Kaffee, erst später kamen Schmuck und Edelsteine dazu. Begonnen hat die Geschichte in der zwei Kilometer entfernten Weberstraße. Dort gründeten Josef und Ursula John ihre Firma. Auch der Name hatte für Josef John nicht viel mit Magie oder Mystik zu tun. Er war U-Boot-Fahrer im Krieg und hat oft in den nächtlichen Sternenhimmel geblickt. Dabei hat er besonderes Gefallen an dem Sternbild der Kassiopeia gefunden und sich schließlich entschieden, seine Firma nach ihm zu benennen. Auch in der Einrichtung des kleinen Geschäftes lassen sich die maritimen Einflüsse wiederfinden. Der vom Licht der Vitrinen ausgeleuchtete Verkaufsraum ist gefüllt mit solchen Andenken: die …

#94 BISMARCKSTRASSE

EDITORIAL: STRASSE IN ARBEIT Liebe Leser:innen, dieses Heft ist eine Premiere, oder um noch kurz in der Sprache des Theaters zu bleiben: eine Wiederaufnahme. Denn zum ersten Mal nach langer Corona-Pause und dem Wechsel unserer Chefredaktion ist diese Ausgabe mal wieder an der Uni Bremen entstanden. Recherchiert und geschrieben haben es Studierende am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung. Wie viel Sie beim Lesen davon merken? Keine Ahnung. Aber wir haben uns so intensiv wie lange nicht mit unseren Produktionsbedingungen auseinandergesetzt, mussten vieles wieder neu erlernen – vermeintliche und echte Selbstverständlichkeit neu aufrollen. Und das kann bekanntlich nie schaden. Tatsächlich eher ein Zufall ist, dass sich auch fast alle unserer Geschichten von der Bismarckstraße ums Arbeiten drehen: im Wortsinn Hand- und Lohnarbeit, aber stets in besonderer Form. Torsten Bauer betreibt etwa eine der letzten Neonglasbläsereien Deutschlands und gehört zu den vielleicht letzten VertreterInnen eines aussterbenden Traditionshandwerks. Ihn haben wir in seiner Werkstatt besucht (Seite 16). Mit dem Blick in die Zukunft waren wir hingegen im „Creative Hub“, wo fast 150 Start-ups gemeinsam ihre ersten Schritte …

#91 Hemelinger Bahnhofsstrasse

EDITORIAL: Durch den Wilden Osten Liebe Leser:innen, diese Ausgabe ist wirklich etwas Besonderes, auch für die Redaktion selbst: Seit wir im Frühjahr mit neuer Chefredaktion an den Start gegangen sind, konnten wir uns endlich erstmals live, in Farbe und offline treffen! In den Monaten zuvor hatte das Team pandemiebedingt nur per Video konferiert, die Ausgaben seit März 2020 entstanden sämtlich ohne persönliche Treffen. Dass man das den Heften selbst vielleicht gar nicht so angemerkt hat, ist dem großen Einsatz aller Beteiligten geschuldet, die trotz erschwerter Bedingungen nie die Motivation verloren haben. Und doch macht es einen bedeutenden Unterschied, ob man sich nur am Bildschirm sieht oder persönlich bei einer Tasse Kaffee diskutiert, Ideen entwickelt und wieder verwirft, gemeinsam lacht, auch mal streitet und die neue Ausgabe plant. Wir jedenfalls haben diese wieder neue, alte Situation sehr genossen – denn genau so gehört es sich ja eigentlich, wenn man gemeinsam eine Zeitschrift macht. Wir waren also gemeinsam in der Hemelinger Bahnhofstraße unterwegs. Dabei hatten wir das Glück einer wirklich fachkundigen Führung: Ortsamtsleiter Jörn Hermening war bereit, …

DER MULTIFUNKTIONALE AKTIVIST

#90 KLEIN MEXIKO – Gernot Riedl ist eine der markanten Persönlichkeiten von Klein Mexiko. Inmitten der Großstadt wirkt er als Überzeugungstäter in Sachen Bio-Landwirtschaft Ein Tumult der Farben und Formen auf 13,5 Quadratmetern: Vorm Fenster wuchern aus den Kästen gelbe Husarenknöpfe, tiefblaue Hängelobelien und Myrte. Dazu gesellen sich knallroter Riesenziertabak und weiß-rosa Edelpelargonien. Neben der meist offenstehenden Eingangstür räkeln sich Hängeampeln und -geranien. Im Topf darunter geben sich Sonnenblumen, Steinkraut und prächtig orangerote Thitonien die Ehre. Bepflanzt sind einige Kübel mit der lachsrosa Dahlie „Berliner Klene“, weißem Ziertabak und einer tiefblauen Clematis. Über den Blumenbogen am Eingang klettern Damaszener Rosen mit betörendem Duft, angehimmelt von gelben und violetten Dahlien, Staudenphlox, leuchtend gelben Nachtkerzen, roten Stockmalven, Staudensauerampfer … Gernot Riedl lädt alles, was fliegt oder krabbelt, zum Getümmel in sein wild wucherndes Vorgarten-Paradies. Als Ode an das (Klein) Mexiko schaut das Konterfei Frida Kahlos von der Fassade dem bunten Treiben zu – in aufrechter Haltung, mit ernstem Blick, der strengen, blumengeschmückten Frisur und grundiert von der frohen Farbigkeit ihrer Bilder. Dass die mexikanische Malerin als leidenschaftlich …