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DIE UNSICHTBARE KREUZUNG

#91 HEMELINGER BAHNHOFSTRASSE – Der mit Abstand meiste Verkehr um die Hemelinger Bahnhofstraße ist an der Oberfläche gar nicht zu sehen. Er wird seit Jahren untendurch geleitet

Wenn man etwas hören oder fühlen könnte, dann müsste es an dieser Stelle sein: exakt unter der Bushaltestelle „Hemelinger Bahnhofstraße“ an der Nordwestecke des kleinen Wilkensparks. Hier kreuzt unterirdisch der Hemelinger Straßentunnel. Aber weder vibriert es unter den Füßen, noch hört man leisestes Rauschen. Ganz anders vor der Tunnelöffnung an der Sebaldsbrücker Heerstraße: Die frühere Belastung der Straßen lässt sich hier erahnen. Welch ein immenses Autoaufkommen ergießt sich tagtäglich hinein und wälzt hinaus! Lkw verschiedenen Kalibers rattern, Pkw fahren zügig um die Kurven, oben kreuzt die Straßenbahn. An der Fußgängerampel vor der Tunnelöffnung ist eine Verständigung im Lärm kaum möglich. Im Auto jedoch ist es ein angenehmeres Erlebnis. Der mit knapp 600 Metern längste Straßentunnel Bremens leitet Kraftfahrzeuge unter zwei Eisenbahntrassen und der ganzen Godehardstraße durch. Radfahrer und Fußgänger können abgetrennt neben der Fahrbahn die Bahntrassen unterfahren – begleitet von Lärm, aber sicher.

Es ist schon klar, warum in Hemelingen viele bereits in den Siebzigerjahren ohne Tunnel den Schwerlast- und Durchgangsverkehr satt hatten. Durch die Großansiedlung von Mercedes-Benz 1978 in Sebaldsbrück mit zunächst rund 6.000 Beschäftigten verschärfte sich die Lage. Erwartet wurden täglich 16.000 Fahrzeuge auf dem Weg ins Werk und hinaus, darunter 8.000 Lkw Die neuen Anforderungen waren enorm. Vor allem Brügge weg, Schlengstraße und Bruchweg waren durch Lärm, Abgase und Staus extrem belastet. Auch die Hemelinger Bahnhofstraße blieb nicht verschont. Frau Riedemann-Schmitz vom traditionsreichen Schuhgeschäft erinnert sich: „Beim Daimler-Schichtwechsel abends um zehn war der Brüggeweg voll und die Autos wälzten sich Stoßstange an Stoßstange da durch. Wenn der Brüggeweg dann dicht war, sind alle hier durchgefahren. Manche Bewohner sind auch weggezogen, weil sie es mit der Verkehrsentwicklung nicht mehr aushielten.“

Um 1988 kam die Tunnel-Idee in Gang, wurde aber Mitte der Neunziger wegen hanseatischer Sparsamkeit in schwieriger Haushaltslage wieder ausgebremst. Ein mehrfach zitierter Satz des damaligen Ortsamtsleiters beleuchtet die Stimmung: „Eine Verarschung aller Hemelinger ist das.“ Heftige Debatten über die Sanierung Hemelingens fanden in diesen Zeiten statt . Erst 1999 begann der Tunnelbau. 2003 wurde die unterirdische Straße zum Preis von rund 175 Millionen Euro eingeweiht. Eine Filmdokumentation der damals für den Bau verantwortlichen Gesellschaft für Projektmanagement und Verkehrswegebau verdeutlicht den Aufwand, etwa die Arbeiten unter dem Grundwasserspiegel, die unter Druckluft statt fanden. Heute kaum denkbar: Alles entstand in der vorgesehenen Bauzeit.

Verlustfrei ging das nicht vonstatten. So mussten vor dem Bau Wohnhäuser „abgeräumt“ werden, wie es in einem Beiratsprotokoll von 1997 heißt. „In der Godehardstraße waren es acht oder neun, in unserer Straße zwei“, so Frau Riedemann-Schmitz. „Dazu gehörte auch der Wilkens-Bungalow, der auf dem Villengrundstück für einen der Söhne gebaut worden war.“ Diese Vorgänge waren zwar rechtens, aber mit Schicksalen verbunden. Die Entschädigung dürfte für eine neunzigjährige Frau, die ihr Haus am Lebensende verlassen musste, kein Trost gewesen sein.

In der Hemelinger Bahnhofstraße zeigt Frau Zaun von der Firma Seekamp Metall rüber zum anliegenden Parkplatz: Diese Fläche musste der Betrieb für den Tunnelbau hergeben. Und bis heute teilen Beschäftigte und Firmenleitung dort das Innenleben der angrenzenden Röhrenöffnung, denn „gelegentlich riecht es daraus. Und oft hören wir die lauten Krankenwagensirenen“, beschreibt Frau Zaun die Lage. Die Röhre ist hier ein akustischer Verstärker.

Unbestreitbar ist aber die deutliche Entlastung des Durchgangsverkehrs. Bereits kurz nach Eröffnung 2003 nutzten durchschnittlich 12.422 Fahrzeuge den Tunnel t.glich. Stefan Last, Projektingenieur beim Amt für Straßen und Verkehr, erklärt: „Heute sind es rund 20.000 Fahrzeuge, davon 14 Prozent Lkw.“ Last spricht über Folgekosten: „Für den Unterhalt reicht eine Viertel Million pro Jahr nicht.“ Wofür? Allein die Stromkosten belaufen sich jährlich auf 100.000 Euro. Er ergänzt Wartungs- und Sicherheitsmaßnahmen, dazu einige Beispiele: Für frühzeitiges Erkennen von Problemen im Tunnel kontrolliert die Polizei 17 Kameras rund um die Uhr. Sichttrübung und CO2-Werte werden gemessen, Strahlventilatoren sorgen für Frischluft zufuhr, aufwendige Feuerwehrübungen finden alle sechs Jahre nächtlich bei Vollsperrung statt . Mit hohem Sicherheitsstandard werden die anspruchsvollen EU-Anforderungen an einen Tunnelbetrieb erfüllt.

Bedeutsam für Planung und Folgen des Tunnelbaus waren noch andere wichtige Bewegungen. Im Stadtteil mobilisierten sich damals Kräfte, die sich für die Lebensqualität über der Trasse starkmachten, besonders für eine anwohnerfreundliche und grüne Gestaltung. Unter anderem wurde vor Baubeginn durchgesetzt, dass in der Hemelinger Bahnhofstraße die Wilkens-Villa und der Park mit dem alten Baumbestand nicht, wie es der Plan vorsah, der Untertunnelung geopfert wurden. „Es handelt sich dabei um sehr alte, kapitale Blume, deren Erhalt von hervorragender Bedeutung ist“, schrieb Ortsamtsleiter Rissland 1996 nach einer einstimmigen Beiratsentscheidung an Bausenator Hattig. Eine Verlegung der Tunnelachse unter die Godehardstraße wurde erreicht. Heute ist das Ensemble ein optischer Glücksmoment der Straße.

Text:
Ulrike Plappert
Foto:
Volker Busch

#91 Hemelinger Bahnhofsstrasse

EDITORIAL: Durch den Wilden Osten

Liebe Leser:innen,

diese Ausgabe ist wirklich etwas Besonderes, auch für die Redaktion selbst: Seit wir im Frühjahr mit neuer Chefredaktion an den Start gegangen sind, konnten wir uns endlich erstmals live, in Farbe und offline treffen! In den Monaten zuvor hatte das Team pandemiebedingt nur per Video konferiert, die Ausgaben seit März 2020 entstanden sämtlich ohne persönliche Treffen. Dass man das den Heften selbst vielleicht gar nicht so angemerkt hat, ist dem großen Einsatz aller Beteiligten geschuldet, die trotz erschwerter Bedingungen nie die Motivation verloren haben. Und doch macht es einen bedeutenden Unterschied, ob man sich nur am Bildschirm sieht oder persönlich bei einer Tasse Kaffee diskutiert, Ideen entwickelt und wieder verwirft, gemeinsam lacht, auch mal streitet und die neue Ausgabe plant. Wir jedenfalls haben diese wieder neue, alte Situation sehr genossen – denn genau so gehört es sich ja eigentlich, wenn man gemeinsam eine Zeitschrift macht.

Wir waren also gemeinsam in der Hemelinger Bahnhofstraße unterwegs. Dabei hatten wir das Glück einer wirklich fachkundigen Führung: Ortsamtsleiter Jörn Hermening war bereit, uns bei unserem kleinen Redaktionsausflug zu unterstützen und uns Historisches und Aktuelles, Offensichtliches und Verstecktes zu zeigen und zu erklären. „Im Inneren der Wurst“ (Seite 16) trafen wir Künstler:innen und Handwerker:innen in ihren Ateliers, im Inneren der alten Moschee sprachen wir mit Necati Tepe über den geplanten Neubau (Seite 8) und sogar im Inneren der Straße waren wir unterwegs: nämlich in jenem Tunnel, der seit einigen Jahren unter der Hemelinger Bahnhofstraße verläuft (Seite 22) und den Schwerlastverkehr aufnimmt, der zuvor immer wieder auch durch die schmale Straße donnerte. Einigermaßen beschwingt also nehmen wir Sie jetzt mit ins buntbeschauliche Hemelingen und wünschen eine anregende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Raus aus dem Keller

In Hemelingen entsteht eine neue Moschee gleich neben dem alten Gebetsraum

12 – Ein Haus im Niemandsland

In der Notunterkunft von La Campagne finden Drogenabhängige Hilfe

16 – Im Inneren der Wurst

Bildstrecke

Der meiste Verkehr in Hemelingen fließt diskret unter der Erde

20 – Vom Leben geküsst

Wie sich die Szenekneipe Kuß Rosa über die Jahre verändert hat

24 – „Die Hemelinger kommen vor allen anderen rein“

Die Union Brauerei expandiert von Walle nach Hemelingen

28 – „Ich habe nicht so einen guten Start gehabt“

Unser Verkäufer Daniel Hollstein erzählt aus seinem Leben

EIN FALL FÜR DR. DÖRNATH

#90 KLEIN MEXIKO – In ihrer Praxis behandelt Alexandra Dörnath exotische Tiere – wenn sie durch die Tür passen. Die anderen besucht sie vor Ort

Hunde, Katzen oder Mäuse sucht man vergebens im Wartezimmer dieser Tierarztpraxis. Stattdessen wimmelt es hier nur von TierhalterInnen, die ihre Papageien, Vogelspinnen, Schlangen und Echsen vorbeibringen, damit ihnen geholfen werden kann. Keine Frage: Die „Tierarztpraxis Klein Mexiko“ ist etwas Besonderes, hier in der Bennigsenstraße, am Rande der Westfalensiedlung.

Die Inhaberin der Praxis ist die Tierärztin Dr. K. Alexandra Dörnath. Sie lebt schon in vierter Generation in Klein Mexiko. Ihre Liebe für Tiere hat Alexandra Dörnath schon früh in ihrer Kindheit entdeckt. „Meine Mutter hat es mir vorgelebt. Als ich auf die Welt kam, hatte sie bereits Landschildkröten, Papageien, Sittiche und vieles mehr. Ich bezeichne mich selber auch als Tiermensch oder auch als Tierlehrerin. Ich liebe Tiere, ich lebe mit ihnen, ich spreche mit ihnen und genau so sprechen sie auch mit mir. Wir verstehen uns gegenseitig. Ich behaupte, wir betreiben Telepathie miteinander.“

In ihrer Kindheit entwickelte sich auch der Wunsch, beruflich etwas mit exotischen Tieren zu machen. Am liebsten wollte Alexandra Dörnath Zoodirektorin werden und entschied sich daher, Tiermedizin zu studieren – einer der Wege, um diesen Beruf ergreifen zu können. Sie verließ Klein Mexiko nach dem Abitur und studierte daraufhin Tiermedizin in Berlin und London. „Ich war dann 17 Jahre weg und arbeitete im In- und Ausland mit exotischen Tieren, übrigens auch im richtigen, im großen Mexiko. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich wieder hierherkomme. Aber manchmal gibt es Irrungen und Wirrungen des Lebens, manchmal passieren persönlich Dinge, die man nicht vorhersehen kann, und nun bin ich seit fünfzehn Jahren wieder da und habe nach meiner Wiederkehr eine Tierarztpraxis für exotische Tiere eröffnet.“

Alexandra Dörnath wollte als Kind am liebsten Zoodirektorin werden. Foto: Felix Müller

Alexandra Dörnath empfängt in ihrer Praxis alle Arten von exotischen Tieren – sofern sie durch die Praxistür passen. Zu ihren Patienten gehört zum Beispiel eine Echse. die nach einer Darmoperation nachbehandelt werden muss, und eine Schlange, die aus einem brennenden Haus gerettet wurde. Viele der Tiere, um die sich die Tierärztin kümmert, passen aber schlicht nicht in die Räumlichkeiten der Praxis, weshalb Alexandra Dörnath zu den Tieren nach Hause fahren muss. „Ich mache Hausbesuche bei Elefanten, Leoparden, Krokodilen, Affen und Co., die können ja schlecht zu mir kommen. Ich betreue Zirkusse, Zoos, aber auch Privathalter“, erzählt die Tierärztin stolz.

Einen typischen Arbeitsalltag gibt es dabei nicht. Viele der Patienten sind nachtaktiv, weshalb der Arbeitstag auch mal bis in die späte Nacht gehen kann. Außerdem kann es auch immer zu spontanen Einsätzen der Tierärztin kommen, da auch Behörden, wie Polizei und Feuerwehr, ihre Hilfe anfordern, wenn irgendwo ein exotisches Tier entdeckt wurde. Dörnath zufolge handelt es sich dabei meistens um SpaziergängerInnen, die eine Ringelnatter entdeckt haben und nicht wissen, dass diese hier heimisch ist, und sie für eine gefährliche Giftschlange halten. Sie bedauert, dass viele Menschen den Bezug zur Natur verlieren und gar nicht mehr unterscheiden können, welche Tierarten hier überhaupt heimisch sind und welche nicht. Es kommt allerdings auch manchmal vor, dass die Behörden anrufen, weil ein Tier entdeckt wurde, das wirklich gefährlich ist. Dörnath kann sich noch gut daran erinnern, dass sich die Polizei vor einigen Jahren meldete, weil eine Auszubildende einer Supermarktkette eine Spinne entdeckt hatte. Die Tierärztin fuhr danach sofort in den bereits evakuierten Supermarkt und entdeckte, dass es sich tatsächlich um eine giftige Bananenspinne handelte. Dr. Dörnath fing die Spinne daraufhin ein – und versuchte danach alles, um die vom Transport nach Deutschland schwer verletzte und stark mitgenommene Spinne aufzupäppeln. Zu ihrem Kummer überlebte die Spinne nicht. Zum Glück für Mensch und Tier kommt es allerdings nur alle paar Jahre einmal vor, dass giftige Tiere unbemerkt zusammen mit exotischem Obst nach Deutschland importiert werden.

Angst hat die Tierärztin für exotische Geschöpfe trotz ihrer oft risikoreichen Arbeit allerdings keine. „Objektiv betrachtet ist es natürlich gefährlich. Eine ausgewachsene Schnappschildkröte könnte mir potenziell den kleinen Finger abbeißen und ich habe auch schon Schlangen behandelt, die mit ihrem Gift sechs erwachsene Menschen töten könnten. Habe ich deshalb Angst? Nein! Es ist immer die Frage, was man persönlich als gefährlich einstuft.“ Und da sind die Vorstellungen eben unterschiedlich: „Ich würde im Leben nicht auf ein Motorrad steigen. Das empfinde ich als wahnsinnig gefährlich. Aber wenn man mit Tieren hantiert und ihre Waffen kennt, dann kann ich mich dagegen schützen und das Tier einschätzen“, erklärt Dörnath. „In den über 20 Jahren, in denen ich mit Tieren arbeite, wurde ich bis jetzt auch nur einmal schlimm verletzt, und das war bei der Behandlung einer Hauskatze. Wegen der habe ich fast meinen Mittelfinger verloren“, berichtet sie und lacht.

Trotz ihrer vielen Erfolge und ihrer Liebe für ihre Tätigkeit als Tierärztin träumt Dr. Dörnath immer noch davon, irgendwann einmal Zoodirektorin zu werden. Das ist ihrer Meinung nach das Einzige, was ihre berufliche Karriere noch krönen könnte. Dabei ist sie durchaus zuversichtlich: „Irgendwann kann das vielleicht doch noch passieren. Ich habe ja noch 15 Berufsjahre. Das kann also durchaus noch etwas werden.“

Bis es so weit ist, wird sie weiter mit Begeisterung ihre besondere Praxis in Klein Mexiko führen und noch vielen exotischen Tieren und ihren HalterInnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Anmerkung der Redaktion: In der Printversion dieses Textes sind leider zwei Fehler enthalten: So wurde der Vorname falsch genannt und aus der Zoo- fälschlicherweise eine Zirkusdirektorin. Die Fehler haben wir hier korrigiert. 

Text: Sarah Ruhase
Fotos: Felix Müller



DER MULTIFUNKTIONALE AKTIVIST

#90 KLEIN MEXIKO – Gernot Riedl ist eine der markanten Persönlichkeiten von Klein Mexiko. Inmitten der Großstadt wirkt er als Überzeugungstäter in Sachen Bio-Landwirtschaft

Ein Tumult der Farben und Formen auf 13,5 Quadratmetern: Vorm Fenster wuchern aus den Kästen gelbe Husarenknöpfe, tiefblaue Hängelobelien und Myrte. Dazu gesellen sich knallroter Riesenziertabak und weiß-rosa Edelpelargonien. Neben der meist offenstehenden Eingangstür räkeln sich Hängeampeln und -geranien. Im Topf darunter geben sich Sonnenblumen, Steinkraut und prächtig orangerote Thitonien die Ehre. Bepflanzt sind einige Kübel mit der lachsrosa Dahlie „Berliner Klene“, weißem Ziertabak und einer tiefblauen Clematis. Über den Blumenbogen am Eingang klettern Damaszener Rosen mit betörendem Duft, angehimmelt von gelben und violetten Dahlien, Staudenphlox, leuchtend gelben Nachtkerzen, roten Stockmalven, Staudensauerampfer …

Gernot Riedl lädt alles, was fliegt oder krabbelt, zum Getümmel in sein wild wucherndes Vorgarten-Paradies. Als Ode an das (Klein) Mexiko schaut das Konterfei Frida Kahlos von der Fassade dem bunten Treiben zu – in aufrechter Haltung, mit ernstem Blick, der strengen, blumengeschmückten Frisur und grundiert von der frohen Farbigkeit ihrer Bilder. Dass die mexikanische Malerin als leidenschaftlich linke Revolutionärin für die Einheit von Leben und Werk steht, für Kampfgeist und Selbstbehauptungswillen, lässt Rückschlüsse auf ihren Fan Riedl zu. „Ich gehörte nie der Marxistischen Gruppe oder dem KBW an, war nie ein DKPisser, aber immer Linker, ein zu spät geborener 68er“, sagt der heute 70-Jährige in seiner pfundigen Art. Ein Bär von einem Mann – mit glühenden Fuchsaugen.

Für soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Landwirtschaft

Für ihn waren Berufe immer auch Berufung: Weil seine Mutter das wollte, ließ Riedl sich zwar einst zum Chemiefacharbeiter ausbilden, „ich war ja nur Volksschüler“, engagierte sich aber schon bald als Erzieher für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, sowie schwer erziehbare Jugendliche. In einer Hildesheimer Einrichtung kämpfte er gegen ihr Wegsperren und Haldolisieren, hatte dabei aber „mit ehemaligen Reicharbeitserziehern zu tun“. Da konnte er mit seinen Ideen von Psychiatriereform und Auflösung der Heimerziehung nicht landen. „Die haben mich dann rausgeschmissen“, so Riedl. Er wechselte schließlich nach Bremen ins Jugendzentrum Blockdiek.

Aber Riedl wollte auch etwas tun gegen den Niedergang der Lebensmittelqualität und dass immer mehr Naturprodukten vom Markt verschwinden. Sein Vater war Gärtner im Sudetenland, nach dem Krieg hatte er wie viele Flüchtlinge einen riesigen Garten, „um nicht zu sagen einen Mini-Bauernhof, ich bin sozusagen auf dem Acker geboren, dort bauten wir alles an, was man zur Selbstversorgung braucht. Aber mein Vater hat E 605 gespritzt, auch noch welches besorgt und eingelagert, als das längst verboten war. Und wenn ich einen Wurm fand, hieß es immer: gleich totmachen.“

„Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“

Noch heute trägt Riedl das ausgeleierte Slow-Food-Shirt mit seinem Namen drauf. Hat er doch die Bremer Sektion der Feinschmecker-Organisation mitbegründet – schon lange vorher aber begonnen, sich selbst der ökologischen Landwirtschaft zu widmen. Seine Kern-Leidenschaft: Bio-Gemüse. Riedl bildete abgehängte Jugendliche zu Öko-Gärtnern aus und vermarktete die selbst gezogenen Produkte durch sein Unternehmen Ökokiste, das Kunden mit individuell zusammengestellten Gemüsekisten versorgte.

„Zur Geschäftseröffnung hatten wir einen Artikel in einer Tageszeitung und am nächsten Tag schon 250 Kunden, bald waren es doppelt so viele“, erinnert sich der gewiefte Riedl. „Zwölf Stunden pro Tag habe ich damals gearbeitet, nachmittags in der Gärtnerei getopft und geerntet, was dann zu unserem Komplettangebot fehlte, kaufte ich morgens um 3 Uhr auf dem Großmarkt, dann ging es bis 14 Uhr auf den Domshof-Markt, anschließend mussten die Bestellungen für den nächsten Tag vorbereitet werden.“ Jetzt ist Riedl in Rente, der Verein Rhizom übernahm die Ausbildungsgärtnerei und kaufte für 40.000 Euro auch die Ökokiste.

Kreativität im Chaos

Vor 22 Jahren zog der multifunktionale Aktivist nach Klein Mexiko. „Ich fand das Viertel hier total toll, auch wegen der politischen Geschichte, bis in die 1935er-Jahre kam ja auch kein Nazi rein, sonst gab es was auf die Omme.“ Heute lebt der Ökobauer von knapp 1.000 Euro Rente. „Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“ Dort frönt er nun verstärkt dem Musikmachen. Riedl spielt Konzerttuba, früher in der Band Lauter Blech, jetzt täglich daheim ein bis zwei Stunden. Nicht alle Nachbarn goutieren das mit Freude. Denn nicht Wummtatäterä-Gebläse erklingt, eher zeitgenössische Musik. Riedl schätzt Werke wie Mauricio Kagels anspruchsvolle Satire „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“.

Wer Gernot Riedls prallvolle Wohnkochstube in den kleinen Garten verlässt, gelangt in einen nicht mehr aufgeräumten Dschungel. Brombeeren überwuchern alles, der Sonne und dem Ökobau- Morgenrot entgegen recken sich Kartoffeln, Kräuter, Tomaten, Sonnenblumen, Auberginen, Paprika, durchs botanische Idyll bewegen sich Marienkäfer, Schmetterlinge, Nacktschnecken und, und, und …

Text:
Jens Fischer
Foto:
Judith Kreuzberg

#90 Klein Mexiko

EDITORIAL: Platz ist in der kleinsten Hütte

Klein Mexiko – gehört haben den Namen sicher die meisten von Ihnen schon. Aber wo genau liegt die kleine Siedlung mit dem exotischen Namen eigentlich? Wer nicht gerade jemanden dort kennt oder anderweitig in dem Viertel zu tun hat – etwa, weil das exotische Tier zu Hause erkrankt ist und dringend die Hilfe von Tierärztin Dr. Dörnath benötigt (Seite 18) – wird die Siedlung kaum genau verorten können. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Gemeint ist das Quarrée zwischen Bismarckstraße, Stader Straße, Bei den drei Pfählen und Bennigsenstraße. Mittendrin und doch versteckt liegt hier die ursprüngliche „Westfalensiedlung“. Warum aus dem drögen Westfalen das bunte Klein Mexiko wurde und wie es überhaupt zu diesem städtebaulichen Kleinod kam, lesen Sie auf Seite 7. Die Häuser sind klein, die Nachbarn nah – da kommt der großzügige Spielplatz wie gerufen. Er ist das Herz des Quartiers (Seite 8) und dient nicht nur den kleinmexikanischen Kindern zum fröhlichen Beisammensein, sondern auch ihren Eltern und Nachbarn, die sich in dem extra gegründeten Verein engagieren. Engagement ist überhaupt so ein Stichwort: Das hat in diesem Viertel Tradition. Es ist immerhin die Bremer Heimat des Slow Foods und der von Gernot Riedl gegründeten Ökokiste. Ein Porträt über den multifunktionalen Aktivisten und sein Gemüse lesen Sie auf Seite 22.

Ein Aktivist, der sein Engagement für eine bessere Welt mit dem Leben bezahlte, ist Herrmann Matthäi. Es ist ein kleines Funkeln auf der Straße, hinter dem sich die Geschichte des jungen Mannes entfaltet: Ein Stolperstein erinnert heute an ihn, der sich für die KPD engagierte, von den Nazis verhaftet wurde und in der Haft starb (Seite 12). Viele Geschichten auf engstem Raum: Das hat die Zeitschrift der Straße mit Klein Mexiko gemeinsam. In diesem Sinne: Platz ist in der kleinsten Hütte, kommen Sie herein!

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Aus dem Inhalt:

8 – Das Herz des Quartiers

12 – Die ersten Opfer

14 – Wildnis am laufenden Meter

18 – Ein Fall für Dr. Dörnath

26 – Quadratmeter: 58

28 – Eine Kämpferin

KNIPP TO GO

#88 LEHESTER DEICH – Auf der Pferdepension Hof Stein verläuft die Zeit ein bisschen anders. Und das nicht nur, weil Weihnachten dieses Jahr wohl im Sommer stattfindet

„Ich glaube ja, dass dieser Hof in einer anderen Zeitzone liegt“, sagt Gaby Bärend . „Mit dem Pferd tüddeln, die Box machen, füttern, ein bisschen schnacken – und schwups sind sechs Stunden rum.“ Hier im Nirgendwo am Deich ticken die Uhren eben etwas anders, vermutet Bärend, die zusammen mit ihrer Tochter gerade das Pferd „Waly“ in der Pferdepension versorgt.

Zum Hof Stein, kurz vorm Ende des Lehester Deichs, gehört neben den Pferden noch ein Hofladen. Christa Garbade betreibt die Pferdepension mit ihrem Mann und dem Sohn, der mit seiner Freundin ebenfalls auf dem Hof lebt. Bis zu 30 Pferde können hier unterkommen. Auf dem rund drei Hektar großen Gelände gibt es neben dem großen Winterstall noch einen kleineren für sogenannte Hustenpferde, die kein trockenes Heu vertragen und deshalb speziell angefeuchtete „Heulage“ bekommen. Jedes Pferd hat seine eigene Box mit direktem Zugang zu einer eigenen kleinen Koppel – auch Paddock genannt.

„Wenn die Schilder von den Pferden nicht immer abgeleckt werden würden, könnte man auch lesen, wer hier jeweils wohnt“, sagt Christa Garbade und geht vorbei an der Reithalle und dem „Reiterstübchen“ zum Pferdespielplatz. Die Tiere können hier kleine Hindernisse überqueren, einen Berg erklimmen oder über eine Wippe balancieren. Im Sommer sind die Pferde durchgehend auf der Weide im angrenzenden Hollerland. Aber im Winter ermöglicht der Reitplatz vor Ort Bewegung und soziale Kontakte. „Die leiden nicht unter Social Distancing“, scherzt Gaby Bärend mit Blick auf die spielenden Pferde. Seit der Pandemie sind auch auf dem Hof einige Einschränkungen bemerkbar: Treffen oder Feiern mit mehreren Personen sind tabu, auch der sonst übliche Klönschnack im Reiterstübchen oder in der Sattelkammer. Da der Betrieb aber vergleichsweise klein und das Gelände weitläufig ist, konnte Christa Garbade von Zeitplänen à la „Click & Ride“ absehen.

Bis zu 30 Pferde können auf dem rund drei Hektar großen Gelände unterkommen. Foto: Beate C. Köhler

Auch wenn Christa Garbade hier aufgewachsen ist: Den Hof wollte die gelernte Rechtsanwalts- und Notargehilfin eigentlich nie übernehmen. Sie hat jahrelang in einer Kanzlei gearbeitet. 2011 hat sie den Bürojob dann aufgegeben und ihr Hobby zum Beruf gemacht. „Jetzt ist alles gut so, wie es ist“, sagt sie, „und ich würde nicht mehr tauschen wollen.“

Gebaut wurde der Hof Stein 1794 von Christa Garbades Urgroßeltern. Statt um Pferde hat sich hier früher alles um die Kuh gedreht. Der als Milchwirtschaft gegründete Betrieb wird heute bereits in der vierten Generation geführt und hat sich seitdem stetig weiterentwickelt. Erst kamen Hühner dazu, dann der Hofl aden und schließlich gab Christa Garbades Vater mehr und mehr Kühe zugunsten der Pferde ab. Für Christa Garbades Lebensweg war das entscheidend: „Kühe hätte ich auch nicht genommen “, lacht sie kopfschütt elnd.

Und der Hofgemeinschaft geht es um mehr als nur gemeinsames Arbeiten: „Egal ob im September oder im Juni – sobald es wieder erlaubt ist – bestehen wir auf unser er Weihnachtsfeier mit Glühwein“, sagt Gaby Bärend. Normalerweise werden im Dezember Bierzeltgarnituren und ein Weihnachtsbaum aufgestellt, während die Pferde aus ihren Boxen zuschauen. Eine Idylle, hinter der sehr viel Arbeit steckt: Von Oktober bis Ende April müssen alle 30 Pferde jeden Tag morgens, mittags und abends rundumversorgt werden. Auch im Sommer muss täglich auf der Weide nach dem Rechten gesehen werden. Die Heuballen stellt Christa Garbades Sohn her. Der gelernte Landmaschinentechniker arbeitet engagiert mit und möchte den Hof Stein auch irgendwann übernehmen. Das ist für Christa Garbade eine schöne Gewissheit – und ein bisschen Erleichterung: „Der will auch nicht in den Urlaub! Er muss immer hierbleiben, weil er etwas verpassen könnte. Mit ihm können wir auch absprechen, wenn wir mal weg möchten. Das ist auch das Schöne, dass ich dann auch wirklich Zeit zum Verschnaufen habe.“

Und das ist auch nötig: Eigentlich wollte Christa Garbade den Hofladen vor sechs Jahren schon auflösen, weil das zusammen mit der damaligen Hühnerhaltung und der Pferdepension zu viel geworden war. Als Sandra Malcherek davon hörte, sagte sie spontan: „Ach, ich kann das doch einfach mal versuchen .“ Die gelernte Schifffahrtskauffrau war auch schon als Stylistin in der Modebranche tätig und arbeitet noch weiter freiberuflich in verschiedenen Bereichen. Mittlerweile betreibt sie den liebevoll eingerichteten Hofladen nebst Verkaufsautomaten mit ihrem Mann. „Früher haben Christas Eltern die Eier noch an der Haustür verkauft“, erklärt sie. Später kam ein kleines Häuschen mit Tisch und Kasse. Weil da immer wieder Geld fehlte oder Knöpfe drinlagen, beschloss Christa Garbades Vater, einen Automaten aufzubauen: 2005 ging das erste Modell in Betrieb. „Das ist wirklich superpraktisch“, sagt Sandra Malcherek, „aber manchmal hakt es leider auch. Oder es versteht nicht jede r auf Anhieb, wie es funktioniert.“ Da könne es auch schon mal passieren, dass jemand mitt en in der Nacht plötzlich laut am Automaten rüttelt.

Auch wenn der Hofladen nur am Wochenende geöffnet hat, ist er für Sandra Malcherek gerade eher ein Fulltimejob. Neben Eiern, Kartoffeln und Wurstwaren aus der Region verkauft Sandra Malcherek auch selbst kreierte Produkte wie ihren Sirup. Oder sie lässt die Rezepte von Mutter und Großmutter wieder aufleben. Bei Grünkohl und Knipp „to go“ treffen sich Tradition und Moderne am surrenden Automaten. Die berühmten Bremer Spezialitäten können hier vorgepackt beim Deichspaziergang eingesammelt werden. Immerhin ein bisschen dürfte das auch über die ausgefallene Kohlsaison hinwegtrösten.

Text: Anne Duus
Foto: Beate C. Köhler

#88 Lehester Deich

EDITORIAL: Raus aufs Land

Liebe Leser:innen,

Sie kennen uns noch nicht, denn wir sind neu hier. Wir, das sind Karolina Meyer-Schilf und Jan-Paul Koopmann, und wir sind die neue Chefredaktion der Zeitschrift der Straße. Wir heißen Sie herzlich willkommen in unserem ersten Heft und hoffen, auch Sie freuen sich über die neue Bekanntschaft! Bei unserem Debüt hatten wir es gefühlt gleich mit einem journalistischen Endgegner zu tun: Der Lehester Deich ist eine stille Straße. Lang, weit draußen, fern vom Trubel der Stadt. Und fast konnte man sich fragen: Füllen wir damit ein ganzes Heft?

Aber wie Sie sehen: Es geht, das Heft ist voll. Wir haben Orte kennengelernt wie das Theater am Deich, wo eine Premiere sehnsüchtig auf das Ende der Pandemie wartet (Seite 16). Vor allem sind uns erstaunlich viele Tiere begegnet, ein Schaf des neuen Arche-Parks hat es glatt auf die Titelseite geschafft, aber auch die Pferde von Hof Stein (Seite 24) bekommen ihren großen Auftritt. Nicht bei allen beliebt und trotzdem interessant sind die Nutrias, die den Bremer Deichen (Seite 14) zu schaffen machen. An einer Tankstelle mit Familiengeschichte (Seite 18) tranken wir schließlich Kaffee mit Herrn Marks von gegenüber, der hier seit 90 Jahren lebt und die Straße kennt wie kaum jemand sonst.

Und damit wären wir auch gleich mittendrin in dem, was die Zeitschrift der Straße für uns ausmacht: rausgehen, sich umschauen, die kleinen Dinge aufzuspüren und die großen Geschichten dahinter. Wir freuen uns sehr, künftig mit Ihnen zusammen auf Entdeckungsreise zu gehen.

Und damit wünschen wir Ihnen nun eine anregende Lektüre!

Aus dem Inhalt:

8 – Unter Schafen

Unser Autor entdeckt die Kinder- und Jugendfarm der Hans-Wendt- Stift auf einem fast kontemplativen Spaziergang

12 – Nur Selbstbedienung

Die Schleuse Kuhsiel war früher wichtiges Etappenziel der geplagten TorfkahnfahrerInnen. Heute müssen die KajakfahrerInnen selber ran

14 – Die Hüter von Bremens grüner Stadtmauer

Bereits vor 500 Jahren wurden Deiche gebaut, um die Stadt vor Hochwasser zu schützen. Der Deichverband sorgt dafür, dass das auch weiterhin so bleibt

16 – Das Klubhaus im Nirgendwo

Das kleine Theater am Deich liegt derzeit wie im Winterschlaf. Doch wenn Corona erst vorbei ist, steht „Figaros Hochzeit“ auf dem Plan

18 – „Eine Insel vom Reißbrett“

Jede Tankstelle hat ihre Geschichten, auch wenn sie heute alle gleich aussehen. Die am Lehester Deich ist ein Familienbetrieb seit über 50 Jahren

22 – „Kom, lat den Kleen maal hier!“

Hermann Marks lebt seit 1930 am Lehester Deich und ist doch ein Zugezogener: Seine Eltern haben ihn als Baby hergebracht – und gleich dagelassen

Auf der Pferdepension Hof Stein verläuft die Zeit ein bisschen anders – nicht nur, weil Weihnachten dieses Jahr wohl im Sommer statt findet

28 – Dreimal ist Bremer Recht

Bommel ist Verkäufer der ersten Stunde. Und wenn es nach ihm geht, ist er die nächsten zehn Jahre auch noch dabei – wenn er gesund bleibt

„SIE SIND SCHWEIGEND VERSCHWUNDEN“

#87 NORDSTRASSE – In der Nordstraße führte der jüdische Kaufmann Sally Silbermann ein Bekleidungsgeschäft. Dann musste er vor den NationalsozialistInnen nach Uruguay fliehen

In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war Walle noch ein zentraler Ort jüdischen Lebens in Bremen. Etliche kleine Geschäfte säumten die Nordstraße, jüdische Kaufleute prägten das Viertel. Fast alles konnte man hier kaufen, ohne Walle zu verlassen: Obst und Gemüse, exotische Früchte, Zigarren, Hüte und Mützen, Eisenwaren, Drogerieartikel. Walle war der Lebensmittelpunkt der kleinen Leute, vor allem der Hafen- und WerftarbeiterInnen. Zwischen SchuhmacherInnen, BäckerInnen, SchlachterInnen und der Jute-Spinnerei fand sich auch das Herrenbekleidungsgeschäft von Sally Silbermann an der Nordstraße, Ecke Schönebecker Straße. Sein Laden zählte seinerzeit zu einem der größten und beliebtesten des Stadtteils. Drei große Schaufenster gaben den Blick in sein Geschäft und auf die Straße frei.

Geboren 1889 im niedersächsischen Lemförde, kam Sally Silbermann der Liebe wegen nach Bremen. 1913 heiratete er Gretchen Neuberg, die Tochter des jüdischen Bremer Kaufmanns Milius Neuberg. Der wiederum führte damals ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Faulenstraße in der Innenstadt. Schnell bekam Silbermann Arbeit in der Firma seines Schwiegervaters und übernahm schließlich die Gesch.ftsführung. Schon bald eröffnete er die neue Filiale an der Nordstraße 193/95 – die erst mal noch den Namen seines Schwiegervaters trug. 1921 verstarb Milius Neuberg. Sein Tod führte zur Schließung der Filiale in der Faulenstraße, doch das Geschäft in der Nordstraße lief gut. Die lag vor ihrer Zerstörung 1944 noch an anderer Stelle als heute, nämlich zwischen der Grenzstraße und der Schulze-Delitzsch-Straße.

Ganz Walle kaufte damals gerne bei Sally Silbermann ein: Man habe dort gute und günstige Ware bekommen, hei.t es in den Aufzeichnungen des Kulturhauses Walle-Brodelpott. Vor allem für die anstehende Konfirmation sei man bei Silbermann an der richtigen Adresse gewesen. Seiner Kundschaft gegenüber sei er zuerst kulant gewesen und ließ seine Kleidung auch auf Raten abbezahlen, heißt es weiter.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 begann die strategische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Ihr Auftakt war der reichsweite sogenannte „Judenboykott“ am 1. April 1933. An jenem Samstag postierten sich SA-Männer überall vor jüdischen Geschäften. Auch in Bremen, auch vor dem Laden der Silbermanns. Unter dem Motto „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ propagierten die Nazis die Verfemung jüdischer Kaufleute, verunstalteten ihre Schaufenster mit Schmierereien und hielten die KundInnen vom Betreten der Geschäfte ab. Aber noch ließ sich die Kundschaft der Silbermanns nicht an ihrem Einkauf hindern. Eine Zeitzeugin erinnert sich laut den Aufzeichnungen des Kulturhaus Walle: „Die Kunden ließen sich nicht beirren und bange machen. Im Gegenteil, mit großen Kartons verließen sie das Geschäft.“

Aber der Druck auf die jüdische Bevölkerung wuchs weiter. Nach und nach erklärten die NationalsozialistInnen sie zu Menschen zweiter Klasse, ihre schrittweise Entrechtung entzog den Juden jegliche wirtschaftliche Existenz. Die Nürnberger Gesetze legalisierten 1935 ihre Verfolgung und legten den Grundstein für ihre Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager. Damit stand auch Sally Silbermann mit seinem Bekleidungsgeschäft vor dem Aus. 1937 musste er seinen Laden in der Nordstraße endgültig aufgeben. Auch ihre Wohnung direkt über dem Geschäft musste die Familie verlassen. Sie kam zunächst im Nachbarhaus unter, wohnte dort auf engstem Raum. Aber es war zwecklos. Gerade noch rechtzeitig trafen die Silbermanns eine Entscheidung, die über ihr Schicksal entscheiden sollte: Terror und Krieg, die Reichspogromnacht und die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung musste Familie Silbermann nicht mehr miterleben. Am 14. September 1938 verließ das Ehepaar gemeinsam mit seinem Sohn seine Heimat. Laut des Archivs im Kulturhaus Walle erinnerte sich ein befreundetes Ehepaar der Silbermanns so: „Sie sind unauffällig und schweigend verschwunden.“ Nach Montevideo in Uruguay. Hier verlieren sich ihre Spuren. Seit 1939 war die Firma Sally Silbermann nicht mehr im Adressbuch zu finden und das ehemalige Geschäft in der Nordstraße augenscheinlich leerstehend. Laut Focke- Museum war dort ab 1939 Kurt Hitz als Inhaber verzeichnet, er führte fortan ein „Fachgeschäft für Herren-, Knaben- und Berufskleidung“, bis das Gebäude 1944 durch einen schweren Luftangriff auf Bremen zerstört wurde. Sally Silbermann verstarb nach Angaben des Staatsarchivs am 29. September 1962. Über den Verbleib seiner Frau und seines Sohnes ist nichts bekannt.

Aber vergessen sind sie nicht. Seit 2002 – 64 Jahre nach ihrer Flucht – erinnert die Silbermannstraße in der benachbarten Überseestadt an das Schicksal der jüdischen Kaufmannsfamilie, 150 Meter lang und kerzengerade.

Text: Meike Große Hundrup
Foto: Kulturhaus Walle Brodelpott

Nordstraße Panorama

#87 NORDSTRASSE

EDITORIAL: Ein Abschied

Liebe Leser:innen,

diesem Anfang wohnt ein Abschied inne: Wir als Chefredakteur:innen dieses wunderbaren Magazins verlassen das Projekt, um uns neuen Herausforderungen zu widmen. Wir tun dies schweren Herzens, denn es war uns in den vergangenen Jahren stets eine Freude, die Zeitschrift der Straße zu betreuen. Es gibt wenige Projekte in Bremen, in denen so viele Menschen unermüdlich und mit so viel frohem Mut und so viel frischem Geist zusammenwirken, um etwas Positives zu bewegen. Wir haben die Studierenden und die Ehrenamtlichen in unserem Redaktionsteam gern dabei begleitet, mit ihnen zusammen Monat für Monat aufs Neue unsere sch.ne Stadt neu entdeckt und sie und die Menschen darin – ob mit Wohnung oder ohne – ein wenig mehr lieben gelernt. Umso mehr freut es uns, Ihnen nun zum Abschluss unserer Arbeit diese Ausgabe zu präsentieren, die vieles von dem vereint, was die Zeitschrift der Straße ausmacht: etwa das Portrait eines Menschen, der die Nordstraße früher wie seine Westentasche kannte und als Lausbub aufsog, was sie an Abenteuern zu bieten hatte (S. 8). Oder das Interview mit einem Menschen, der erst Flugbegleiter war und dann zum Bestatter umschulte – und findet, dass beide Berufe viel gemein haben (S. 14).

Wir suchen in der Zeitschrift der Straße gern die großen Themen im kleinsten Raum. Weil die Menschen nebenan eben Geschichten erzählen können, die das Leben schreibt. Das werden auch unsere Nachfolger:innen so handhaben, in deren Hände wir sehr gern diese Zeitschrift übergeben. Sie werden sich in der nächsten Ausgabe vorstellen.

Aus dem Inhalt:

8 – „Hier war immer was los“

Wolfgang Büchler hat seine Kindheit im Heimatstraßenviertel verbracht – Apfelsinen geklaut, den Straßenstrich beobachtet und später auf einem Schiff angeheuert. Ein Spaziergang

10 – „Walle verliert seine Künstler“

Nach über 20 Jahren wurde der Ateliergemeinschaft „Nordstraße 371“ gekündigt. Mit größter Mühe fanden die vier Künstlerinnen neue Ateliers – lange bleiben können sie dort nicht

14 – „Das Thema Tod ist ja kein Party-Booster“

Herwig Gründel ist Bestatter. Ein Gespräch über den Wandel der Bestattungskultur, die heilsame Wirkung von bemalten Urnen und Abschiednehmen in Zeiten von Corona

In der Nordstraße führte der jüdische Kaufmann Sally Silbermann ein großes Bekleidungsgeschäft. Dann musste er vor den Nationalsozialisten nach Uruguay fliehen

24 – „Da haben die Leute gemerkt: Jetzt rollt der Rubel“

Die Künstlerin Frauke Wilhelm über Hafen- und Rotlichtgeschichten rund um die Nordstraße – und warum Lieder ein Stück Menschlichkeit transportieren können

28 – Punk im Amt

Wo früher Zölle verwaltet wurden, üben heute viele Bands. Doch Proberäume sind rar in Bremen. Und in der Pandemie ist es still geworden

30 – „Ich sehe das alles auch mit Humor“

Olaf Vogel verkauft seit Dezember 2020 in der Obernstraße die Zeitschrift der Straße. Lieber hätte er einen Arbeitsplatz

KEIN PLATZ FÜR ZEBRASTREIFEN

#86 DECHANATSTRASSE – Die Geschichte einer Schule, die gerne einen Fußgängerüberweg haben wollte, aber keinen bekommen kann

Die St.-Johannis-Schule in der Dechanatstraße hätte gerne einen Zebrastreifen vor ihrer Türe. Damit ihre Schulkinder sicherer über die Straße kommen. Doch daraus wird erst einmal nichts. Seit die katholische Privatschule auch im Postgebäude unterrichtet, also auf zwei verschiedenen Straßenseiten, macht man sich Sorgen um ihre Schüler:innen. Weil die zwischen den Häusern die Straße überqueren müssen. Also setzte sich die Schulleiterin bei der Stadt für einen Zebrastreifen ein. Doch das Bauressort lehnte ab. Die Begründung: In einer Tempo-30-Zone wie der Dechanatstraße seien gar keine Zebrastreifen vorgesehen. „Fußgängerüberwege“ – so der juristisch korrekte Wortlaut – „sind in Tempo-30-Zonen in der Regel entbehrlich“, findet die Behörde. Das Wort „Zebrastreifen“ hat sich freilich bloß das Fußvolk ausgedacht. Trotzdem ist man an der Schule weiterhin der Überzeugung, ein Fußgängerüberweg vor der Schule sei angebracht, sagt Oberstufenkoordinator Martin Plazinski. Die Parkbuchten machten die Überquerung der Straße unübersichtlich, auch Radfahrer:innen seien gefährlich schnell unterwegs in der Dechanatstraße.

Dass es in vielen Tempo-30-Zonen Zebrastreifen geben sollte, findet auch Stefan Lieb, Geschäftsführer vom Fuß e. V., dem Fachverband für Fußverkehr in Deutschland. Besonders dort, wo die Polizei nicht kontrolliere. Denn da werde wenig auf das Tempolimit geachtet, so Lieb. Die Bremer Stadt- und Regionalplanerin Angelika Schlansky, eine Fußverkehrslobbyistin, fordert: „Es wird höchste Zeit, dass der Fußverkehr infrastrukturell sichtbarer wird. Zebrastreifen begünstigen nicht nur den Fußverkehr, sondern sind darüber hinaus ein Symbol dafür, dass es außer Auto- und Radverkehr auch noch Fußverkehr in der Stadt gibt!“

Aber wie viele Zebrastreifen gibt es in Bremen eigentlich? Lange Zeit fast gar keine. Vielleicht denken Sie jetzt an den in Horn-Lehe, der auf Drängen einer dort ansässigen Seniorenwohnanlage angebracht wurde. Oder an den hinter dem Hauptbahnhof, der vor sechs Jahren endlich die Rückkehr der Zebrastreifen in Bremen einläuten sollte, nach einem Jahrzehnt, in dem es keine neuen gab. Das Problem: Zebrastreifen galten lange als gefährlich. „Es gab eine Phase, wo Verkehrsplaner:innen Zebrastreifen ablehnten oder sogar abbauten – mit dem Argument, sie böten eine trügerische Sicherheit“, erinnert sich der Verkehrspolitiker Ralph Saxe, der für die Grünen in der Bremischen Bürgerschaft sitzt. „Das konnte mit umfangreichen Studien ausgeräumt werden.“

Unter dem Titel „Die Rückkehr der Zebrastreifen“ initiierte er schon 2012 einen entsprechenden Parlamentsantrag – weil „eine verstärkte Wiederverwendung von Zebrastreifen, wie in München und Berlin, auch in Bremen und Bremerhaven wünschenswert und fachlich geboten“ sei, wie es in dem Dringlichkeitsantrag hieß. Auch damals regierte die SPD zusammen mit den Grünen in Bremen. Dennoch sagt Saxe heute: „Es sollte viel mehr Zebrastreifen in Bremen geben, wofür ich mich weiter einsetze.“ Aber warum durfte die St.-Johannis-Schule dann keinen haben? Jens Tittmann, Sprecher der grünen Bau- und Verkehrssenatorin, macht dafür die deutsche Rechtsprechung verantwortlich: „Es ist juristisch fast aussichtslos, in einer Tempo-30-Zone einen Zebrastreifen einzurichten. Wenn irgendein Autofahrer sich über diesen Zebrastreifen ärgert und das vor das Verwaltungsgericht bringt, können wir meistens sofort einpacken.“

Der Fuß e. V. ist trotzdem der Auffassung, dass Zebrastreifen in Tempo-30-Zonen eingerichtet werden können – wenn es dort Kindergärten oder Schulen gebe. Er verweist dabei auf die „Richtlinien für die Anlage und Ausstattung von Fußgängerüberwegen“ vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen. In diesem Regelwerk steht allerdings bloß, dass Zebrastreifen außerhalb des möglichen und empfohlenen Einsatzbereiches in „begründeten Ausnahmefällen“ angeordnet werden können. Dem widerspricht auch Jens Tittmann nicht. Nur: Der Grund für so einen Ausnahmefall müsse eben sehr außergewöhnlich sein. Ein einfacher Schulweg wie in der Dechanatstraße reicht da wohl nicht aus. Zumindest, solange da noch keine Unfälle passieren.

Tittmann verweist auf ein anderes, drängenderes Problem: Autos, die halb auf dem Gehweg parken. Ist illegal, passiert aber trotzdem überall. Früher war das noch nicht so ein ganz großes Problem, aber die Autos werden eben immer mehr, immer größer und immer breiter und versperren dann nicht nur Rollstuhlfahrer:innen und Kinderwagenschieber:innen den Weg. Die Feuerwehr musste deswegen schon öfter zu einem Brand einen Umweg nehmen. Brandschutz, Rettungssicherheit und Barrierefreiheit seien nicht verhandelbar, sagt der Ressortsprecher. Außerdem mache illegales Parken die Straßenüberquerung gefährlich, besonders für Kinder. Und wenn ja doch illegales Parken das Problem sei, wäre es – so Tittmann weiter – „Quatsch“, das mit einem halb legalen Zebrastreifen zu bekämpfen. Und gegen das illegale Parken gehe man vor, sagt er, zum Beispiel durch die Vergabe von Anwohnerparkausweisen.

Wobei sich auch das Verkehrsressort letztendlich mehr Zebrastreifen für Bremen wünscht. „Wir möchten auch lieber in der einen oder anderen Tempo-30-Zone einen Zebrastreifen setzen können.“ Bremen habe deshalb jetzt in einer bundesweiten Arbeitsgruppe einen Vorstoß gemacht, um die juristische Hürde für Fußgängerüberwege erheblich niedriger hängen zu können. „Ob das dann durchgeht, wissen wir natürlich nicht.“

Und so lange muss die St.-Johannis-Schule eben weiterwarten.

Text: Paul Petsche
Teaser Dechanatstraße