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DER MULTIFUNKTIONALE AKTIVIST

#90 KLEIN MEXIKO – Gernot Riedl ist eine der markanten Persönlichkeiten von Klein Mexiko. Inmitten der Großstadt wirkt er als Überzeugungstäter in Sachen Bio-Landwirtschaft

Ein Tumult der Farben und Formen auf 13,5 Quadratmetern: Vorm Fenster wuchern aus den Kästen gelbe Husarenknöpfe, tiefblaue Hängelobelien und Myrte. Dazu gesellen sich knallroter Riesenziertabak und weiß-rosa Edelpelargonien. Neben der meist offenstehenden Eingangstür räkeln sich Hängeampeln und -geranien. Im Topf darunter geben sich Sonnenblumen, Steinkraut und prächtig orangerote Thitonien die Ehre. Bepflanzt sind einige Kübel mit der lachsrosa Dahlie „Berliner Klene“, weißem Ziertabak und einer tiefblauen Clematis. Über den Blumenbogen am Eingang klettern Damaszener Rosen mit betörendem Duft, angehimmelt von gelben und violetten Dahlien, Staudenphlox, leuchtend gelben Nachtkerzen, roten Stockmalven, Staudensauerampfer …

Gernot Riedl lädt alles, was fliegt oder krabbelt, zum Getümmel in sein wild wucherndes Vorgarten-Paradies. Als Ode an das (Klein) Mexiko schaut das Konterfei Frida Kahlos von der Fassade dem bunten Treiben zu – in aufrechter Haltung, mit ernstem Blick, der strengen, blumengeschmückten Frisur und grundiert von der frohen Farbigkeit ihrer Bilder. Dass die mexikanische Malerin als leidenschaftlich linke Revolutionärin für die Einheit von Leben und Werk steht, für Kampfgeist und Selbstbehauptungswillen, lässt Rückschlüsse auf ihren Fan Riedl zu. „Ich gehörte nie der Marxistischen Gruppe oder dem KBW an, war nie ein DKPisser, aber immer Linker, ein zu spät geborener 68er“, sagt der heute 70-Jährige in seiner pfundigen Art. Ein Bär von einem Mann – mit glühenden Fuchsaugen.

Für soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Landwirtschaft

Für ihn waren Berufe immer auch Berufung: Weil seine Mutter das wollte, ließ Riedl sich zwar einst zum Chemiefacharbeiter ausbilden, „ich war ja nur Volksschüler“, engagierte sich aber schon bald als Erzieher für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, sowie schwer erziehbare Jugendliche. In einer Hildesheimer Einrichtung kämpfte er gegen ihr Wegsperren und Haldolisieren, hatte dabei aber „mit ehemaligen Reicharbeitserziehern zu tun“. Da konnte er mit seinen Ideen von Psychiatriereform und Auflösung der Heimerziehung nicht landen. „Die haben mich dann rausgeschmissen“, so Riedl. Er wechselte schließlich nach Bremen ins Jugendzentrum Blockdiek.

Aber Riedl wollte auch etwas tun gegen den Niedergang der Lebensmittelqualität und dass immer mehr Naturprodukten vom Markt verschwinden. Sein Vater war Gärtner im Sudetenland, nach dem Krieg hatte er wie viele Flüchtlinge einen riesigen Garten, „um nicht zu sagen einen Mini-Bauernhof, ich bin sozusagen auf dem Acker geboren, dort bauten wir alles an, was man zur Selbstversorgung braucht. Aber mein Vater hat E 605 gespritzt, auch noch welches besorgt und eingelagert, als das längst verboten war. Und wenn ich einen Wurm fand, hieß es immer: gleich totmachen.“

„Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“

Noch heute trägt Riedl das ausgeleierte Slow-Food-Shirt mit seinem Namen drauf. Hat er doch die Bremer Sektion der Feinschmecker-Organisation mitbegründet – schon lange vorher aber begonnen, sich selbst der ökologischen Landwirtschaft zu widmen. Seine Kern-Leidenschaft: Bio-Gemüse. Riedl bildete abgehängte Jugendliche zu Öko-Gärtnern aus und vermarktete die selbst gezogenen Produkte durch sein Unternehmen Ökokiste, das Kunden mit individuell zusammengestellten Gemüsekisten versorgte.

„Zur Geschäftseröffnung hatten wir einen Artikel in einer Tageszeitung und am nächsten Tag schon 250 Kunden, bald waren es doppelt so viele“, erinnert sich der gewiefte Riedl. „Zwölf Stunden pro Tag habe ich damals gearbeitet, nachmittags in der Gärtnerei getopft und geerntet, was dann zu unserem Komplettangebot fehlte, kaufte ich morgens um 3 Uhr auf dem Großmarkt, dann ging es bis 14 Uhr auf den Domshof-Markt, anschließend mussten die Bestellungen für den nächsten Tag vorbereitet werden.“ Jetzt ist Riedl in Rente, der Verein Rhizom übernahm die Ausbildungsgärtnerei und kaufte für 40.000 Euro auch die Ökokiste.

Kreativität im Chaos

Vor 22 Jahren zog der multifunktionale Aktivist nach Klein Mexiko. „Ich fand das Viertel hier total toll, auch wegen der politischen Geschichte, bis in die 1935er-Jahre kam ja auch kein Nazi rein, sonst gab es was auf die Omme.“ Heute lebt der Ökobauer von knapp 1.000 Euro Rente. „Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“ Dort frönt er nun verstärkt dem Musikmachen. Riedl spielt Konzerttuba, früher in der Band Lauter Blech, jetzt täglich daheim ein bis zwei Stunden. Nicht alle Nachbarn goutieren das mit Freude. Denn nicht Wummtatäterä-Gebläse erklingt, eher zeitgenössische Musik. Riedl schätzt Werke wie Mauricio Kagels anspruchsvolle Satire „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“.

Wer Gernot Riedls prallvolle Wohnkochstube in den kleinen Garten verlässt, gelangt in einen nicht mehr aufgeräumten Dschungel. Brombeeren überwuchern alles, der Sonne und dem Ökobau- Morgenrot entgegen recken sich Kartoffeln, Kräuter, Tomaten, Sonnenblumen, Auberginen, Paprika, durchs botanische Idyll bewegen sich Marienkäfer, Schmetterlinge, Nacktschnecken und, und, und …

Text:
Jens Fischer
Foto:
Judith Kreuzberg

#90 KLEIN MEXIKO

EDITORIAL: PLATZ IST IN DER KLEINSTEN HÜTTE

Klein Mexiko – gehört haben den Namen sicher die meisten von Ihnen schon. Aber wo genau liegt die kleine Siedlung mit dem exotischen Namen eigentlich? Wer nicht gerade jemanden dort kennt oder anderweitig in dem Viertel zu tun hat – etwa, weil das exotische Tier zu Hause erkrankt ist und dringend die Hilfe von Tierärztin Dr. Dörnath benötigt (Seite 18) – wird die Siedlung kaum genau verorten können. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Gemeint ist das Quarrée zwischen Bismarckstraße, Stader Straße, Bei den drei Pfählen und Bennigsenstraße. Mittendrin und doch versteckt liegt hier die ursprüngliche „Westfalensiedlung“. Warum aus dem drögen Westfalen das bunte Klein Mexiko wurde und wie es überhaupt zu diesem städtebaulichen Kleinod kam, lesen Sie auf Seite 7. Die Häuser sind klein, die Nachbarn nah – da kommt der großzügige Spielplatz wie gerufen. Er ist das Herz des Quartiers (Seite 8) und dient nicht nur den kleinmexikanischen Kindern zum fröhlichen Beisammensein, sondern auch ihren Eltern und Nachbarn, die sich in dem extra gegründeten Verein engagieren. Engagement ist überhaupt so ein Stichwort: Das hat in diesem Viertel Tradition. Es ist immerhin die Bremer Heimat des Slow Foods und der von Gernot Riedl gegründeten Ökokiste. Ein Porträt über den multifunktionalen Aktivisten und sein Gemüse lesen Sie auf Seite 22.

Ein Aktivist, der sein Engagement für eine bessere Welt mit dem Leben bezahlte, ist Herrmann Matthäi. Es ist ein kleines Funkeln auf der Straße, hinter dem sich die Geschichte des jungen Mannes entfaltet: Ein Stolperstein erinnert heute an ihn, der sich für die KPD engagierte, von den Nazis verhaftet wurde und in der Haft starb (Seite 12). Viele Geschichten auf engstem Raum: Das hat die Zeitschrift der Straße mit Klein Mexiko gemeinsam. In diesem Sinne: Platz ist in der kleinsten Hütte, kommen Sie herein!

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Das Herz des Quartiers

12 Die ersten Opfer

14 Wildnis am laufenden Meter

18 Ein Fall für Dr. Dörnath

22 Der multifunktionale Aktivist (online lesen)

26 Quadratmeter: 58

28 Eine Kämpferin

31 Impressum und Vorschau

KNIPP TO GO

#88 LEHESTER DEICH – Auf der Pferdepension Hof Stein verläuft die Zeit ein bisschen anders. Und das nicht nur, weil Weihnachten dieses Jahr wohl im Sommer stattfindet

„Ich glaube ja, dass dieser Hof in einer anderen Zeitzone liegt“, sagt Gaby Bärend . „Mit dem Pferd tüddeln, die Box machen, füttern, ein bisschen schnacken – und schwups sind sechs Stunden rum.“ Hier im Nirgendwo am Deich ticken die Uhren eben etwas anders, vermutet Bärend, die zusammen mit ihrer Tochter gerade das Pferd „Waly“ in der Pferdepension versorgt.

Zum Hof Stein, kurz vorm Ende des Lehester Deichs, gehört neben den Pferden noch ein Hofladen. Christa Garbade betreibt die Pferdepension mit ihrem Mann und dem Sohn, der mit seiner Freundin ebenfalls auf dem Hof lebt. Bis zu 30 Pferde können hier unterkommen. Auf dem rund drei Hektar großen Gelände gibt es neben dem großen Winterstall noch einen kleineren für sogenannte Hustenpferde, die kein trockenes Heu vertragen und deshalb speziell angefeuchtete „Heulage“ bekommen. Jedes Pferd hat seine eigene Box mit direktem Zugang zu einer eigenen kleinen Koppel – auch Paddock genannt.

„Wenn die Schilder von den Pferden nicht immer abgeleckt werden würden, könnte man auch lesen, wer hier jeweils wohnt“, sagt Christa Garbade und geht vorbei an der Reithalle und dem „Reiterstübchen“ zum Pferdespielplatz. Die Tiere können hier kleine Hindernisse überqueren, einen Berg erklimmen oder über eine Wippe balancieren. Im Sommer sind die Pferde durchgehend auf der Weide im angrenzenden Hollerland. Aber im Winter ermöglicht der Reitplatz vor Ort Bewegung und soziale Kontakte. „Die leiden nicht unter Social Distancing“, scherzt Gaby Bärend mit Blick auf die spielenden Pferde. Seit der Pandemie sind auch auf dem Hof einige Einschränkungen bemerkbar: Treffen oder Feiern mit mehreren Personen sind tabu, auch der sonst übliche Klönschnack im Reiterstübchen oder in der Sattelkammer. Da der Betrieb aber vergleichsweise klein und das Gelände weitläufig ist, konnte Christa Garbade von Zeitplänen à la „Click & Ride“ absehen.

Bis zu 30 Pferde können auf dem rund drei Hektar großen Gelände unterkommen. Foto: Beate C. Köhler

Auch wenn Christa Garbade hier aufgewachsen ist: Den Hof wollte die gelernte Rechtsanwalts- und Notargehilfin eigentlich nie übernehmen. Sie hat jahrelang in einer Kanzlei gearbeitet. 2011 hat sie den Bürojob dann aufgegeben und ihr Hobby zum Beruf gemacht. „Jetzt ist alles gut so, wie es ist“, sagt sie, „und ich würde nicht mehr tauschen wollen.“

Gebaut wurde der Hof Stein 1794 von Christa Garbades Urgroßeltern. Statt um Pferde hat sich hier früher alles um die Kuh gedreht. Der als Milchwirtschaft gegründete Betrieb wird heute bereits in der vierten Generation geführt und hat sich seitdem stetig weiterentwickelt. Erst kamen Hühner dazu, dann der Hofl aden und schließlich gab Christa Garbades Vater mehr und mehr Kühe zugunsten der Pferde ab. Für Christa Garbades Lebensweg war das entscheidend: „Kühe hätte ich auch nicht genommen “, lacht sie kopfschütt elnd.

Und der Hofgemeinschaft geht es um mehr als nur gemeinsames Arbeiten: „Egal ob im September oder im Juni – sobald es wieder erlaubt ist – bestehen wir auf unser er Weihnachtsfeier mit Glühwein“, sagt Gaby Bärend. Normalerweise werden im Dezember Bierzeltgarnituren und ein Weihnachtsbaum aufgestellt, während die Pferde aus ihren Boxen zuschauen. Eine Idylle, hinter der sehr viel Arbeit steckt: Von Oktober bis Ende April müssen alle 30 Pferde jeden Tag morgens, mittags und abends rundumversorgt werden. Auch im Sommer muss täglich auf der Weide nach dem Rechten gesehen werden. Die Heuballen stellt Christa Garbades Sohn her. Der gelernte Landmaschinentechniker arbeitet engagiert mit und möchte den Hof Stein auch irgendwann übernehmen. Das ist für Christa Garbade eine schöne Gewissheit – und ein bisschen Erleichterung: „Der will auch nicht in den Urlaub! Er muss immer hierbleiben, weil er etwas verpassen könnte. Mit ihm können wir auch absprechen, wenn wir mal weg möchten. Das ist auch das Schöne, dass ich dann auch wirklich Zeit zum Verschnaufen habe.“

Und das ist auch nötig: Eigentlich wollte Christa Garbade den Hofladen vor sechs Jahren schon auflösen, weil das zusammen mit der damaligen Hühnerhaltung und der Pferdepension zu viel geworden war. Als Sandra Malcherek davon hörte, sagte sie spontan: „Ach, ich kann das doch einfach mal versuchen .“ Die gelernte Schifffahrtskauffrau war auch schon als Stylistin in der Modebranche tätig und arbeitet noch weiter freiberuflich in verschiedenen Bereichen. Mittlerweile betreibt sie den liebevoll eingerichteten Hofladen nebst Verkaufsautomaten mit ihrem Mann. „Früher haben Christas Eltern die Eier noch an der Haustür verkauft“, erklärt sie. Später kam ein kleines Häuschen mit Tisch und Kasse. Weil da immer wieder Geld fehlte oder Knöpfe drinlagen, beschloss Christa Garbades Vater, einen Automaten aufzubauen: 2005 ging das erste Modell in Betrieb. „Das ist wirklich superpraktisch“, sagt Sandra Malcherek, „aber manchmal hakt es leider auch. Oder es versteht nicht jede r auf Anhieb, wie es funktioniert.“ Da könne es auch schon mal passieren, dass jemand mitt en in der Nacht plötzlich laut am Automaten rüttelt.

Auch wenn der Hofladen nur am Wochenende geöffnet hat, ist er für Sandra Malcherek gerade eher ein Fulltimejob. Neben Eiern, Kartoffeln und Wurstwaren aus der Region verkauft Sandra Malcherek auch selbst kreierte Produkte wie ihren Sirup. Oder sie lässt die Rezepte von Mutter und Großmutter wieder aufleben. Bei Grünkohl und Knipp „to go“ treffen sich Tradition und Moderne am surrenden Automaten. Die berühmten Bremer Spezialitäten können hier vorgepackt beim Deichspaziergang eingesammelt werden. Immerhin ein bisschen dürfte das auch über die ausgefallene Kohlsaison hinwegtrösten.

Text: Anne Duus
Foto: Beate C. Köhler

#88 LEHESTER DEICH

EDITORIAL: RAUS AUFS LAND

Liebe Leserinnen und Leser,

Sie kennen uns noch nicht, denn wir sind neu hier. Wir, das sind Karolina Meyer-Schilf und Jan-Paul Koopmann, und wir sind die neue Chefredaktion der Zeitschrift der Straße. Wir heißen Sie herzlich willkommen in unserem ersten Heft und hoffen, auch Sie freuen sich über die neue Bekanntschaft! Bei unserem Debüt hatten wir es gefühlt gleich mit einem journalistischen Endgegner zu tun: Der Lehester Deich ist eine stille Straße. Lang, weit draußen, fern vom Trubel der Stadt. Und fast konnte man sich fragen: Füllen wir damit ein ganzes Heft?

Aber wie Sie sehen: Es geht, das Heft ist voll. Wir haben Orte kennengelernt wie das Theater am Deich, wo eine Premiere sehnsüchtig auf das Ende der Pandemie wartet (Seite 16). Vor allem sind uns erstaunlich viele Tiere begegnet, ein Schaf des neuen Arche-Parks hat es glatt auf die Titelseite geschafft, aber auch die Pferde von Hof Stein (Seite 24) bekommen ihren großen Auftritt. Nicht bei allen beliebt und trotzdem interessant sind die Nutrias, die den Bremer Deichen (Seite 14) zu schaffen machen. An einer Tankstelle mit Familiengeschichte (Seite 18) tranken wir schließlich Kaffee mit Herrn Marks von gegenüber, der hier seit 90 Jahren lebt und die Straße kennt wie kaum jemand sonst.

Und damit wären wir auch gleich mittendrin in dem, was die Zeitschrift der Straße für uns ausmacht: rausgehen, sich umschauen, die kleinen Dinge aufzuspüren und die großen Geschichten dahinter. Wir freuen uns sehr, künftig mit Ihnen zusammen auf Entdeckungsreise zu gehen.

Und damit wünschen wir Ihnen nun eine anregende Lektüre!

Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann
und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Unter Schafen

Unser Autor entdeckt die Kinder- und Jugendfarm der Hans-Wendt- Stift auf einem fast kontemplativen Spaziergang

12 Nur Selbstbedienung

Die Schleuse Kuhsiel war früher wichtiges Etappenziel der geplagten TorfkahnfahrerInnen. Heute müssen die KajakfahrerInnen selber ran

14 Die Hüter von Bremens grüner Stadtmauer

Bereits vor 500 Jahren wurden Deiche gebaut, um die Stadt vor Hochwasser zu schützen. Der Deichverband sorgt dafür, dass das auch weiterhin so bleibt

16 Das Klubhaus im Nirgendwo

Das kleine Theater am Deich liegt derzeit wie im Winterschlaf. Doch wenn Corona erst vorbei ist, steht „Figaros Hochzeit “ auf dem Plan

18 „Eine Insel vom Reißbrett“

Jede Tankstelle hat ihre Geschichten, auch wenn sie heute alle gleich aussehen. Die am Lehester Deich ist ein Familienbetrieb seit über 50 Jahren

22 „Kom, lat den Kleen maal hier!“

Hermann Marks lebt seit 1930 am Lehester Deich und ist doch ein Zugezogener: Seine Eltern haben ihn als Baby hergebracht – und gleich dagelassen

24 Knipp to go (online lesen)

Auf der Pferdepension Hof Stein verläuft die Zeit ein bisschen anders – nicht nur, weil Weihnachten dieses Jahr wohl im Sommer statt findet

28 Dreimal ist Bremer Recht

Bommel ist Verkäufer der ersten Stunde. Und wenn es nach ihm geht, ist er die nächsten zehn Jahre auch noch dabei – wenn er gesund bleibt

31 Impressum und Vorschau

„SIE SIND SCHWEIGEND VERSCHWUNDEN“

#87 NORDSTRASSE – In der Nordstraße führte der jüdische Kaufmann Sally Silbermann ein Bekleidungsgeschäft. Dann musste er vor den NationalsozialistInnen nach Uruguay fliehen

In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war Walle noch ein zentraler Ort jüdischen Lebens in Bremen. Etliche kleine Geschäfte säumten die Nordstraße, jüdische Kaufleute prägten das Viertel. Fast alles konnte man hier kaufen, ohne Walle zu verlassen: Obst und Gemüse, exotische Früchte, Zigarren, Hüte und Mützen, Eisenwaren, Drogerieartikel. Walle war der Lebensmittelpunkt der kleinen Leute, vor allem der Hafen- und WerftarbeiterInnen. Zwischen SchuhmacherInnen, BäckerInnen, SchlachterInnen und der Jute-Spinnerei fand sich auch das Herrenbekleidungsgeschäft von Sally Silbermann an der Nordstraße, Ecke Schönebecker Straße. Sein Laden zählte seinerzeit zu einem der größten und beliebtesten des Stadtteils. Drei große Schaufenster gaben den Blick in sein Geschäft und auf die Straße frei.

Geboren 1889 im niedersächsischen Lemförde, kam Sally Silbermann der Liebe wegen nach Bremen. 1913 heiratete er Gretchen Neuberg, die Tochter des jüdischen Bremer Kaufmanns Milius Neuberg. Der wiederum führte damals ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Faulenstraße in der Innenstadt. Schnell bekam Silbermann Arbeit in der Firma seines Schwiegervaters und übernahm schließlich die Gesch.ftsführung. Schon bald eröffnete er die neue Filiale an der Nordstraße 193/95 – die erst mal noch den Namen seines Schwiegervaters trug. 1921 verstarb Milius Neuberg. Sein Tod führte zur Schließung der Filiale in der Faulenstraße, doch das Geschäft in der Nordstraße lief gut. Die lag vor ihrer Zerstörung 1944 noch an anderer Stelle als heute, nämlich zwischen der Grenzstraße und der Schulze-Delitzsch-Straße.

Ganz Walle kaufte damals gerne bei Sally Silbermann ein: Man habe dort gute und günstige Ware bekommen, hei.t es in den Aufzeichnungen des Kulturhauses Walle-Brodelpott. Vor allem für die anstehende Konfirmation sei man bei Silbermann an der richtigen Adresse gewesen. Seiner Kundschaft gegenüber sei er zuerst kulant gewesen und ließ seine Kleidung auch auf Raten abbezahlen, heißt es weiter.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 begann die strategische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Ihr Auftakt war der reichsweite sogenannte „Judenboykott“ am 1. April 1933. An jenem Samstag postierten sich SA-Männer überall vor jüdischen Geschäften. Auch in Bremen, auch vor dem Laden der Silbermanns. Unter dem Motto „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ propagierten die Nazis die Verfemung jüdischer Kaufleute, verunstalteten ihre Schaufenster mit Schmierereien und hielten die KundInnen vom Betreten der Geschäfte ab. Aber noch ließ sich die Kundschaft der Silbermanns nicht an ihrem Einkauf hindern. Eine Zeitzeugin erinnert sich laut den Aufzeichnungen des Kulturhaus Walle: „Die Kunden ließen sich nicht beirren und bange machen. Im Gegenteil, mit großen Kartons verließen sie das Geschäft.“

Aber der Druck auf die jüdische Bevölkerung wuchs weiter. Nach und nach erklärten die NationalsozialistInnen sie zu Menschen zweiter Klasse, ihre schrittweise Entrechtung entzog den Juden jegliche wirtschaftliche Existenz. Die Nürnberger Gesetze legalisierten 1935 ihre Verfolgung und legten den Grundstein für ihre Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager. Damit stand auch Sally Silbermann mit seinem Bekleidungsgeschäft vor dem Aus. 1937 musste er seinen Laden in der Nordstraße endgültig aufgeben. Auch ihre Wohnung direkt über dem Geschäft musste die Familie verlassen. Sie kam zunächst im Nachbarhaus unter, wohnte dort auf engstem Raum. Aber es war zwecklos. Gerade noch rechtzeitig trafen die Silbermanns eine Entscheidung, die über ihr Schicksal entscheiden sollte: Terror und Krieg, die Reichspogromnacht und die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung musste Familie Silbermann nicht mehr miterleben. Am 14. September 1938 verließ das Ehepaar gemeinsam mit seinem Sohn seine Heimat. Laut des Archivs im Kulturhaus Walle erinnerte sich ein befreundetes Ehepaar der Silbermanns so: „Sie sind unauffällig und schweigend verschwunden.“ Nach Montevideo in Uruguay. Hier verlieren sich ihre Spuren. Seit 1939 war die Firma Sally Silbermann nicht mehr im Adressbuch zu finden und das ehemalige Geschäft in der Nordstraße augenscheinlich leerstehend. Laut Focke- Museum war dort ab 1939 Kurt Hitz als Inhaber verzeichnet, er führte fortan ein „Fachgeschäft für Herren-, Knaben- und Berufskleidung“, bis das Gebäude 1944 durch einen schweren Luftangriff auf Bremen zerstört wurde. Sally Silbermann verstarb nach Angaben des Staatsarchivs am 29. September 1962. Über den Verbleib seiner Frau und seines Sohnes ist nichts bekannt.

Aber vergessen sind sie nicht. Seit 2002 – 64 Jahre nach ihrer Flucht – erinnert die Silbermannstraße in der benachbarten Überseestadt an das Schicksal der jüdischen Kaufmannsfamilie, 150 Meter lang und kerzengerade.

Text: Meike Große Hundrup
Foto: Kulturhaus Walle Brodelpott

Nordstraße Panorama

#87 NORDSTRASSE

EDITORIAL: Ein Abschied

Liebe Leserinnen und Leser,

diesem Anfang wohnt ein Abschied inne: Wir als ChefredakteurInnen dieses wunderbaren Magazins verlassen das Projekt, um uns neuen Herausforderungen zu widmen. Wir tun dies schweren Herzens, denn es war uns in den vergangenen Jahren stets eine Freude, die Zeitschrift der Straße zu betreuen. Es gibt wenige Projekte in Bremen, in denen so viele Menschen unermüdlich und mit so viel frohem Mut und so viel frischem Geist zusammenwirken, um etwas Positives zu bewegen. Wir haben die Studierenden und die Ehrenamtlichen in unserem Redaktionsteam gern dabei begleitet, mit ihnen zusammen Monat für Monat aufs Neue unsere sch.ne Stadt neu entdeckt und sie und die Menschen darin – ob mit Wohnung oder ohne – ein wenig mehr lieben gelernt. Umso mehr freut es uns, Ihnen nun zum Abschluss unserer Arbeit diese Ausgabe zu präsentieren, die vieles von dem vereint, was die Zeitschrift der Straße ausmacht: etwa das Portrait eines Menschen, der die Nordstraße früher wie seine Westentasche kannte und als Lausbub aufsog, was sie an Abenteuern zu bieten hatte (S. 8). Oder das Interview mit einem Menschen, der erst Flugbegleiter war und dann zum Bestatter umschulte – und findet, dass beide Berufe viel gemein haben (S. 14).

Wir suchen in der Zeitschrift der Straße gern die großen Themen im kleinsten Raum. Weil die Menschen nebenan eben Geschichten erzählen können, die das Leben schreibt. Das werden auch unsere NachfolgerInnen so handhaben, in deren Hände wir sehr gern diese Zeitschrift übergeben. Sie werden sich in der nächsten Ausgabe vorstellen.

Daher wünschen wir Ihnen herzlich und zum letzten Mal:
Viel Spaß beim Lesen.

Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 „Hier war immer was los“

Wolfgang Büchler hat seine Kindheit im Heimatstraßenviertel verbracht – Apfelsinen geklaut, den Straßenstrich beobachtet und später auf einem Schiff angeheuert. Ein Spaziergang

10 „Walle verliert seine Künstler“

Nach über 20 Jahren wurde der Ateliergemeinschaft „Nordstraße 371“ gekündigt. Mit größter Mühe fanden die vier Künstlerinnen neue Ateliers – lange bleiben können sie dort nicht

14 „Das Thema Tod ist ja kein Party-Booster“

Herwig Gründel ist Bestatter. Ein Gespräch über den Wandel der Bestattungskultur, die heilsame Wirkung von bemalten Urnen und Abschiednehmen in Zeiten von Corona

20 „Sie sind schweigend verschwunden“ (online lesen)

In der Nordstraße führte der jüdische Kaufmann Sally Silbermann ein großes Bekleidungsgeschäft. Dann musste er vor den Nationalsozialisten nach Uruguay fliehen

24 „Da haben die Leute gemerkt: Jetzt rollt der Rubel“

Die Künstlerin Frauke Wilhelm über Hafen- und Rotlichtgeschichten rund um die Nordstraße – und warum Lieder ein Stück Menschlichkeit transportieren können

28 Punk im Amt

Wo früher Zölle verwaltet wurden, üben heute viele Bands. Doch Proberäume sind rar in Bremen. Und in der Pandemie ist es still geworden

30 „Ich sehe das alles auch mit Humor“

Olaf Vogel verkauft seit Dezember 2020 in der Obernstraße die Zeitschrift der Straße. Lieber hätte er einen Arbeitsplatz

31 Impressum und Vorschau

KEIN PLATZ FÜR ZEBRASTREIFEN

#86 DECHANATSTRASSE – Die Geschichte einer Schule, die gerne einen Fußgängerüberweg haben wollte, aber keinen bekommen kann

Die St.-Johannis-Schule in der Dechanatstraße hätte gerne einen Zebrastreifen vor ihrer Türe. Damit ihre Schulkinder sicherer über die Straße kommen. Doch daraus wird erst einmal nichts. Seit die katholische Privatschule auch im Postgebäude unterrichtet, also auf zwei verschiedenen Straßenseiten, macht man sich Sorgen um ihre Schüler:innen. Weil die zwischen den Häusern die Straße überqueren müssen. Also setzte sich die Schulleiterin bei der Stadt für einen Zebrastreifen ein. Doch das Bauressort lehnte ab. Die Begründung: In einer Tempo-30-Zone wie der Dechanatstraße seien gar keine Zebrastreifen vorgesehen. „Fußgängerüberwege“ – so der juristisch korrekte Wortlaut – „sind in Tempo-30-Zonen in der Regel entbehrlich“, findet die Behörde. Das Wort „Zebrastreifen“ hat sich freilich bloß das Fußvolk ausgedacht. Trotzdem ist man an der Schule weiterhin der Überzeugung, ein Fußgängerüberweg vor der Schule sei angebracht, sagt Oberstufenkoordinator Martin Plazinski. Die Parkbuchten machten die Überquerung der Straße unübersichtlich, auch Radfahrer:innen seien gefährlich schnell unterwegs in der Dechanatstraße.

Dass es in vielen Tempo-30-Zonen Zebrastreifen geben sollte, findet auch Stefan Lieb, Geschäftsführer vom Fuß e. V., dem Fachverband für Fußverkehr in Deutschland. Besonders dort, wo die Polizei nicht kontrolliere. Denn da werde wenig auf das Tempolimit geachtet, so Lieb. Die Bremer Stadt- und Regionalplanerin Angelika Schlansky, eine Fußverkehrslobbyistin, fordert: „Es wird höchste Zeit, dass der Fußverkehr infrastrukturell sichtbarer wird. Zebrastreifen begünstigen nicht nur den Fußverkehr, sondern sind darüber hinaus ein Symbol dafür, dass es außer Auto- und Radverkehr auch noch Fußverkehr in der Stadt gibt!“

Aber wie viele Zebrastreifen gibt es in Bremen eigentlich? Lange Zeit fast gar keine. Vielleicht denken Sie jetzt an den in Horn-Lehe, der auf Drängen einer dort ansässigen Seniorenwohnanlage angebracht wurde. Oder an den hinter dem Hauptbahnhof, der vor sechs Jahren endlich die Rückkehr der Zebrastreifen in Bremen einläuten sollte, nach einem Jahrzehnt, in dem es keine neuen gab. Das Problem: Zebrastreifen galten lange als gefährlich. „Es gab eine Phase, wo Verkehrsplaner:innen Zebrastreifen ablehnten oder sogar abbauten – mit dem Argument, sie böten eine trügerische Sicherheit“, erinnert sich der Verkehrspolitiker Ralph Saxe, der für die Grünen in der Bremischen Bürgerschaft sitzt. „Das konnte mit umfangreichen Studien ausgeräumt werden.“

Unter dem Titel „Die Rückkehr der Zebrastreifen“ initiierte er schon 2012 einen entsprechenden Parlamentsantrag – weil „eine verstärkte Wiederverwendung von Zebrastreifen, wie in München und Berlin, auch in Bremen und Bremerhaven wünschenswert und fachlich geboten“ sei, wie es in dem Dringlichkeitsantrag hieß. Auch damals regierte die SPD zusammen mit den Grünen in Bremen. Dennoch sagt Saxe heute: „Es sollte viel mehr Zebrastreifen in Bremen geben, wofür ich mich weiter einsetze.“ Aber warum durfte die St.-Johannis-Schule dann keinen haben? Jens Tittmann, Sprecher der grünen Bau- und Verkehrssenatorin, macht dafür die deutsche Rechtsprechung verantwortlich: „Es ist juristisch fast aussichtslos, in einer Tempo-30-Zone einen Zebrastreifen einzurichten. Wenn irgendein Autofahrer sich über diesen Zebrastreifen ärgert und das vor das Verwaltungsgericht bringt, können wir meistens sofort einpacken.“

Der Fuß e. V. ist trotzdem der Auffassung, dass Zebrastreifen in Tempo-30-Zonen eingerichtet werden können – wenn es dort Kindergärten oder Schulen gebe. Er verweist dabei auf die „Richtlinien für die Anlage und Ausstattung von Fußgängerüberwegen“ vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen. In diesem Regelwerk steht allerdings bloß, dass Zebrastreifen außerhalb des möglichen und empfohlenen Einsatzbereiches in „begründeten Ausnahmefällen“ angeordnet werden können. Dem widerspricht auch Jens Tittmann nicht. Nur: Der Grund für so einen Ausnahmefall müsse eben sehr außergewöhnlich sein. Ein einfacher Schulweg wie in der Dechanatstraße reicht da wohl nicht aus. Zumindest, solange da noch keine Unfälle passieren.

Tittmann verweist auf ein anderes, drängenderes Problem: Autos, die halb auf dem Gehweg parken. Ist illegal, passiert aber trotzdem überall. Früher war das noch nicht so ein ganz großes Problem, aber die Autos werden eben immer mehr, immer größer und immer breiter und versperren dann nicht nur Rollstuhlfahrer:innen und Kinderwagenschieber:innen den Weg. Die Feuerwehr musste deswegen schon öfter zu einem Brand einen Umweg nehmen. Brandschutz, Rettungssicherheit und Barrierefreiheit seien nicht verhandelbar, sagt der Ressortsprecher. Außerdem mache illegales Parken die Straßenüberquerung gefährlich, besonders für Kinder. Und wenn ja doch illegales Parken das Problem sei, wäre es – so Tittmann weiter – „Quatsch“, das mit einem halb legalen Zebrastreifen zu bekämpfen. Und gegen das illegale Parken gehe man vor, sagt er, zum Beispiel durch die Vergabe von Anwohnerparkausweisen.

Wobei sich auch das Verkehrsressort letztendlich mehr Zebrastreifen für Bremen wünscht. „Wir möchten auch lieber in der einen oder anderen Tempo-30-Zone einen Zebrastreifen setzen können.“ Bremen habe deshalb jetzt in einer bundesweiten Arbeitsgruppe einen Vorstoß gemacht, um die juristische Hürde für Fußgängerüberwege erheblich niedriger hängen zu können. „Ob das dann durchgeht, wissen wir natürlich nicht.“

Und so lange muss die St.-Johannis-Schule eben weiterwarten.

Text: Paul Petsche
Teaser Dechanatstraße
Teaser Dechanatstraße

#86 DECHANATSTRASSE

EDITORIAL: Geschichten vom Fehlen

Liebe Leser:innen,

natürlich war da erst einmal nichts, als wir in die Dechanatstraße kamen. Zwar standen uns sehr viele Türen offen, gerade in der Hochschule für Künste – aber dahinter war ja in Zeiten der Pandemie nichts als Leere! Zumindest optisch hat das aber auch seinen Reiz, finden wir (Seite 14). Völlig überfüllt, aber trotzdem menschenleer ist das Klaus-Kuhnke-Archiv, das auch hier im Haus seinen Platz gefunden und zahllose Geschichten aus der Popmusik zu erzählen hat (Seite 8). Musiker:innen wollten wir aber natürlich trotzdem zeigen, also haben wir sie mit ihren Instrumenten einfach nach draußen geholt, damals, als noch Winter war und wir dieses Heft für Sie produziert haben. Diese Porträts von Norbert Schmacke ziehen sich – ausnahmsweise! – durchs ganze Heft. Eines kennen Sie ja jetzt schon vom Titel.

Um etwas, das fehlt, geht es auch in unserer Geschichte aus der St.-Johannis-Schule. Die hätte nämlich gern einen Fußgängerüberweg (vulgo: Zebrastreifen) gehabt, kriegt aber keinen. Warum? Das erfahren Sie auf Seite 12. Außerdem haben wir, ganz coronasafe, drei Jugendliche getroffen, deren Leben seit Monaten fast nur noch digital stattfindet. Wie sich das für sie anfühlt, erfahren Sie auf Seite 20. Und dann sind da noch lauter junge Menschen, die früher mal in einer Wohngruppe, einer Pflegefamilie oder der stationären Jugendhilfe gelebt haben und inzwischen nicht mehr betreut werden – das SOS-Kinderdorf kümmert sich um sie (Seite 24).

Zu guter Letzt wollen wir Ihnen noch Katharina Steuer vorstellen, eine Verkäuferin der ersten Stunde. Ihre Mutter hat sie überredet, uns etwas über sich zu erzählen – worüber wir sehr froh sind (Seite 28).

Viel Spaß beim Lesen wünschen
Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Etwas, das bleibt

Seit Jahrzehnten sammelt das Klaus-Kuhnke-Archiv, was von populärer Musik übrig bleibt. Es platzt heute aus allen Nähten – und ist doch stark bedroht

12 Kein Platz für Zebrastreifen (online lesen)

Die Geschichte einer Schule, die gerne einen Fußgängerüberweg haben wollte, aber keinen bekommen kann

14 Ode an die Stille

Bildstrecke

20 „Wir sind auch noch da“

Seit Monaten keine Sportkurse, kaum Freund:innen treffen und Schule digital – wie drei Jugendliche die Corona-Zeit erleben

24 „Die haben ein Ohr für uns“

„Careleaver.Bremen“ hilft jungen Menschen, die vorher in Jugendhilfeprojekten lebten, flügge zu werden

28 „Manchmal ist man einfach unsichtbar“

Katharina Steuer steht meist in Vegesack an der Fähre und ist Verkäuferin der ersten Stunde

31 Impressum & Vorschau

Michael Kothe sitzt in seinem Wohnzimmer

„SIE NANNTEN MICH MILCH-KOTHE“

#85 UPPER BORG – Diedrich Kothe kannte Upper Borg schon, als die Straße nur ein Schlackenweg war und für den Bundespräsidenten schnell ausgebessert wurde

„Ich bin jetzt 87 und wohne seit 70 Jahren hier in diesem Haus, aber aufgewachsen bin ich in Oberneuland. ‚Auf der alten Weide‘ lebte ich mit meinen Eltern, meinen drei Geschwistern und meinen Großeltern in einem strohgedeckten Bauernhof unter einem Dach mit Kühen und Pferden. Mein Großvater holte immer die Milch von den Bauern, um sie zur Molkerei zu bringen. Mein Vater übernahm dieses Geschäft , anfangs noch mit dem Pferdefuhrwerk. Als er nach dem Krieg dringend einen neuen Lastwagen benötigte, ging er zu Wilhelm Kaisen, der ja in unserer Straße wohnte. Man kannte sich unter Landwirten – obwohl Kaisen mittlerweile Bürgermeister war. Er besorgte uns dann einen Bezugsschein für einen Dreitonner.

Nach der Volksschule machte ich eine Kfz-Lehre in Hastedt und arbeitete dort ein Jahr als Geselle – für 1,04 Mark Stundenlohn. Eines Tages fragte mich mein Vater, ob ich nicht bei ihm einsteigen wolle. ‚Allein schaffe ich das nicht mehr‘, sagte er. Auch wenn mein Chef mich nicht gehen lassen wollte: Mein Vater ging vor. Er schaffte sich einen zweiten Lastwagen an und stellte mich ein. Meinen Führerschein habe ich mit 17 gemacht, ich durfte aber nur Firmenfahrzeuge fahren. Auch bei Kaisen hab ich die Milch abgefahren. Sein Sohn Franz – der war unverheiratet – kümmerte sich um die Landwirtschaft , wenn der Vater im Senat saß.

1951 zogen wir um nach Upper Borg. Ein Trödler hatte uns erzählt, dass in Borgfeld eine Siedlerstelle mit Nebenerwerbslandwirtschaft zur Pacht ausgeschrieben war. Diese Häuser waren alle im gleichen Stil gebaut: unten massiv aus Stein und oben aus Holz. Vorn ein Kuhstall, zwei Schweinekoben und hinten der Wohntrakt mit Küche, Waschküche, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Dieses hier ist auch noch so ein Haus, aber natürlich komplett saniert. Vom Urzustand ist nicht mehr viel zu erkennen.

Die ersten Jahre in Upper Borg und der Besuch von Theodor Heuss

In den Fünfzigern war Upper Borg ja noch keine befestigte Straße, sondern ein Schlackenweg mit vielen Schlaglöchern. Es gab hier damals eine Wege-Genossenschaft , gegründet von Bürgermeister Kaisen: Alle Anlieger mussten einen Obolus zur Instandhaltung entrichten. Mein Beitrag war es, den zerkleinerten Bombenschutt von einer Halde zu holen. Sonntagmorgens standen dann alle mit Schaufel und Spaten bereit, um den Schutt zu verteilen und damit die Schlaglöcher zu füllen. Einmal kündigte sich Theodor Heuss, der damalige Bundespräsident, zu Besuch bei Kaisen an. Ende der Fünfzigerjahre war das wohl. Da mussten vorher die Löcher ausgebessert werden, damit der Bundespräsident den Bürgermeister besuchen konnte. Und dann haben sie sich im Kuhstall seine Kühe und Ochsen beguckt. Auch die Neue Vahr wurde ja in den Fünfzigern gebaut, mit Geschäften, die alle morgens mit Milch versorgt werden wollten. Da mussten wir nachts ausliefern. In einem der Hochhäuser stellten wir die Kannen nur eben auf den Fliesenfußboden ab – hey, der Schall ging bis obenhin. Die Leute beschwerten sich, aber die Polizisten sagten bloß: Wo kommt ihr so spät her? Wir brauchen unsere Frühstücksmilch!

Milch-Kothe und der Schneewinter

Im Dorf nannten sie mich nur Milch-Kothe. Nach dem Tod meines Vaters 1971 habe ich das Geschäft übernommen. Mit fünf Angestellten. Es war damals gar nicht so einfach, gute Arbeitskräfte zu bekommen. Alle wollten im Öffentlichen Dienst oder in großen Konzernen arbeiten. Ende der Siebziger gab es diesen Schneewinter und wir kamen mit unseren Fahrzeugen nirgends auf den Hof. Da kamen dann Bundeswehrpanzer, um für uns den Weg freizumachen und uns durch den Schnee zu ziehen. Weil wir mehrere Tage die Milch nicht abholen konnten, hatte einer der Bauern auf seinem Hof eine große Mulde in den Schnee gemacht und die Milch dort reingekippt. Alles, was nicht gefroren war, konnte ich absaugen. Zu Spitzenzeiten haben wir 125.000 Liter pro Tag transportiert. Pro gefahrenem Liter Milch gab es 0,75 Pfennig, je nach Entfernung etwas mehr. Als ich in Rente ging, habe ich den gesamten Betrieb verkauft , so wurde niemand auf die Straße gesetzt. Daher habe ich noch heute zu allen ein gutes Verhältnis.

Feste, Freundschaften und eine unvergessliche Hochzeit

An was ich mich noch gerne erinnere, ist die wundervolle Nachbarschaft hier. Es gab einen Kohlenhändler, da wurde jeden Sommer eine Fete gemacht. Alle kamen zusammen, es gab Musik, es wurde gegrillt, das war immer herrlich. Wenn eine Hochzeit war, kamen immer alle zu uns. Dann wurde bei uns in der Garage der Kranz gebunden. Meine Frau – sie ist vergangenen April gestorben – hab ich damals beim Tanzen kennengelernt, sie wohnte am Hollerdeich. Die Eltern hatten auch Landwirtschaft , aber da sie in Bremen arbeitete, habe ich sie öfter mitgenommen im Lastwagen. Geheiratet haben wir 1959. Vor dem Haus hatten wir damals aus Lkw-Planen Zelte aufgebaut. Als wir in der Kirche waren, gab es einen heftigen Gewitterschauer – als wir wieder zu Hause ankamen, sahen wir: Die ganzen Suppenteller waren voll Regenwasser. Die mussten wir erst mal ausleeren, bevor wir unsere Hochzeitssuppe essen konnten.

Heute ist Upper Borg ja eine Durchgangsstraße geworden, seitdem am Langen Jammer immer Stau ist. Alle aus Oberneuland und alle die zu Mercedes wollen, fahren hier durch. Wir haben damals, als die Linie 4 gebaut wurde, ungefähr 20 Jahre ist das her, eine Initiative gegründet, ich war der Sprecher. Wir wollten durchsetzen, dass der Straßenanschluss in Lilienthal durch das Hollerland an den Autobahnzubringer herangeführt wird. Aber wir sind gescheitert. Die haben die Straße hier sogar noch verengt, in der Hoffnung, die Leute steigen um in die Bahn. Jetzt haben wir hier den ganzen Schleichverkehr. Da hat sich Bremen eine schöne Fehlplanung geleistet!“

Text:
Lisa Schwarzlen
Fotos:
Beate C. Köhler

#85 UPPER BORG

EDITORIAL: Aufwachsen, ankommen

Liebe Leser:innen,

unsere Recherchen zur Straße Upper Borg in Borgfeld führten uns dieses Mal tief in die Vergangenheit. Gleich in drei Geschichten widmen wir uns dem Leben im Borgfeld der Nachkriegsjahre: Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hier viele Flüchtlinge aus ehemalig deutschen Gebieten in Osteuropa ein Zuhause, die meisten von ihnen LandwirtInnen. Wir sprachen mit drei Bewohner:innen über ihre Erlebnisse – über Spiele zwischen Bauernhöfen und Feldern, das Leben von Mensch und Tier unter einem Dach, über Inklusion und Vorurteile und Reparaturdienste an der gemeinsam genutzten Straße, die anfangs nicht viel mehr war als ein Schlackenweg mit Schlaglöchern war (Seite 8, 10 und 24).

Mit Problemen der Akzeptanz kämpft auch der Leiter des Kaisenstiftes, Frank Drescher – allerdings im Hier und Jetzt. Im Kaisenstift werden schwer behinderte und sozial auffällige Kinder betreut. Einige von ihnen können seit Jahren nicht oder nur unregelmäßig zur Schule gehen – obwohl Bremen sich seiner Vorbildrolle im Bereich der schulischen Integration rühmt (Seite 12). In die Zukunft gerichtet hingegen ist die Arbeit von Sören Prüser. Er verkauft Weihnachtsbäume – und muss diese jahrelang hegen und pflegen, bis er sie verkauft. Wir haben ihn für unsere Bildstrecke gefragt: Was macht er eigentlich, wenn nicht Weihnachten ist (Seite 14 )?

Nach innen schaut dagegen der Unternehmensberater Ralf Besser. Er hat eine Stiftung gegründet, die unser Nachdenken über Werte fördern soll (Seite 20).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen
Jan Zier, Tanja Krämer und das Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08 Wo auch Kaisen einst lebte

Vertriebene Landwirt:innen fanden nach dem Krieg in Borgfeld eine neue Heimat. Das Verhältnis zu den Einheimischen war zunächst schwierig

10 „Sie nannten mich Milch-Kothe“ (online lesen)

Diedrich Kothe kannte Upper Borg schon, als die Straße nur ein Schlackenweg war und für den Bundespräsidenten schnell ausgebessert wurde

12 Ein Ort für jene, die übrig bleiben

Der Bremer Senat sieht sich bei der Inklusion noch immer als bundesweites Vorbild. Doch die Praxis sieht oft ganz anders aus, sagt Frank Drescher vom Kaisenstift in Borgfeld

14 Das Geschäft mit den Tannen

Bildstrecke: Zur Weihnachtszeit werden in Deutschland rund 25 Millionen Tannenbäume verkauft . Aber was macht ein Weihnachtsbaumhändler den Rest des Jahres?

20 „Verwirrung ist ein guter Start“

Der Unternehmensberater Ralf Besser hat eine Stiftung zur Wertereflexion gegründet. Was treibt ihn an?

24 „Wenn der Wind pfiff, war es nicht so idyllisch“

Stephan Packheiser ist in der Straße Upper Borg aufgewachsen, später kehrte er hierher zurück. Ein Gespräch über die Integration von Geflüchteten, prominente Nachbarn und SUVs

28 „Ich will keinen anderen Job machen“

Michel „Mitsh“ Farkas verkauft seit knapp zehn Jahren die Zeitschrift der Straße. Ein Gespräch mit einem leidenschaftlichen Musiker und ehemaligen Staubsaugervertreter, der bald seine Memoiren aufzeichnen will

30 Todesanzeigen

31 Impressum