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SEELISCH ERSCHÜTTERT

#60 SCHLOSSPARK – Wie die Villa Wisch Menschen mit psychischen Erkrankungen Struktur, neue Chancen und viel Selbstbewusstsein gibt: ein Hausbesuch

 „Natürlich“, sagt Stephan Jürgens, „kann man auch ohne ärztliches Attest in die Villa Wisch kommen.“ Das Anwesen liegt ein paar Meter hinter den anderen Hausfassaden in der Sebaldsbrücker Heerstraße, mit einem kleinen Garten und hohen Bäumen vor dem Haus und einer schweren hölzernen Eingangstür. Von außen deutet nur das Schild darauf hin, dass hier eine Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist. Jürgens ist ihr Leiter. „Es ist ein Begegnungsort“, sagt er. 60 bis 70 BesucherInnen kommen und gehen jeden Tag. Es gibt eine Küche, ein großes Esszimmer für alle, ein Café, in dem Zeitungen ausliegen oder Bilder ausgestellt werden, und ein Arbeitszimmer mit Computern. Im ersten Stock sind der Büroservice und eine Textilwerkstatt angesiedelt – hier arbeiten nicht nur die Festangestellten, sondern auch allerlei Injobber; auch im Garten gibt es verschiedene Arbeitsplätze zu vergeben, oder Hausmeistertätigkeiten. „Der Grundgedanke ist, dem Tag eine Struktur zu geben“, sagt Stephan Jürgens.

Niedrigschwellige Beschäftigung in der Villa Wisch

Menschen, die dauerhaft psychisch erkrankt sind und deshalb nicht mehr so gut in der Gesellschaft zurechtkommen, können hier eine niedrigschwellige Beschäftigung aufnehmen. Sie haben einen Ansporn aufzustehen, wenn sie wissen, wohin sie können. Die Arbeitszeit reicht von einer halben Stunde bis zu 15 Stunden in der Woche. Bei den Injobbern, die vom Jobcenter vermittelt werden sind es mehr, bis zu 30 Stunden in der Woche. Das ist Menschen vorbehalten, die das haben, was das die Behörde ein „Vermittlungshemmnis“ nennt.

Seit dem Ende der Achtzigerjahre gibt es die Villa Wisch, betrieben wird sie vom Arbeiter-Samariter-Bund, der im Bremer Osten für Menschen mit psychischen Erkrankungen zuständig ist. Früher wurden sie „eher weggeschlossen“, sagt Stephan Jürgens. Seine Einrichtung arbeitet mit dem Ameos Klinikum und dem Klinikum Bremen-Ost zusammen – „um Klinikbesuche gar nicht erst notwendig werden zu lassen“.

Gemütliches Beisammensein und vielfältige Angebote

Im Café unterhalten sich die BesucherInnen, scherzen mit den Arbeitenden oder lesen. Im Garten gibt es unter einer großen, ausladenden Rotbuche verschiedene Sitzgelegenheiten und eine Tischtennisplatte. Viele essen bei gutem Wetter in dem Garten, auch Frühstück oder Kaffee und Kuchen gibt es hier. Wer Hilfe braucht, kann sich an die MitarbeiterInnen wenden. Auch „der Stammtisch“, wie Stephan Jürgens ihn nennt, trifft sich hier. Für viele ist es eine Erleichterung, sich mit anderen Menschen mit psychischen Erkrankungen zu unterhalten oder darüber zu sprechen, wo die jeweiligen Stärken der Menschen liegen. „Das ist besonders wichtig, weil es ja auch oft darum geht, was eben nicht mehr möglich ist“, sagt Jürgens. Oder man  entscheidet sich, an dem Programm der Villa teilzunehmen: Das reicht von der offenen Textilwerkstatt über Qigong und Mandala malen bis hin zu Doppelkopf spielen. Manchmal werden Filme gezeigt, oder die Leute machen zusammen einen Ausflug, etwa ins Teufelsmoor.

Anna Fabry: Ein Neuanfang durch Arbeit und Kreativität

„Ich erprobe mich hier mit drei Stunden pro Tag“, sagt Anna Fabry, die in der Textilwerkstatt beschäftigt ist. Sie trägt ein Schlüsselband um den Hals und hat einen gelben Igelball vor sich auf dem Tisch liegen. Insgesamt arbeitet sie jetzt 15 Stunden in der Woche in der Villa Wisch. Anfangs sei sie daran gescheitert, eine halbe Stunde durchzuhalten, erzählt sie. Obwohl sie sehr aufgeschlossen wirkt, leidet sie unter Angst- und Panikzuständen. Deshalb konnte sie ihr Leben irgendwann nicht mehr alleine bewältigen, auch die Erziehung ihrer Kinder musste sie an Pflegefamilien abgeben. Sie zog in das Haus Hastedt, ein Wohnheim für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen. „Zurzeit sticke ich eine Hummel“, sagt sie, angefangen hat sie mit einer Elster. Dann folgten in den letzten Jahren andere Motive, zwei Möpse etwa, die als Auftragsarbeit hergestellt wurden. Dank ihrer Arbeit hat Anna Fabry es geschafft, in eine Wohngemeinschaft umzuziehen: Sie lebt nun mit einer Frau und drei Männern zusammen und fühlt sich dort sehr wohl.

Villa Wisch, ein geschützter Raum für seelisch erschütterte Menschen

Ein neues Leben durch Theater und Kreativität

Bevor sie in das Haus Hastedt kam, litt sie unter ihrem damaligen Lebensgefährten: „Ich konnte ihn nicht rauswerfen“, sagt sie, ohne dass eine Emotion in ihrem Gesicht zu erkennen wäre. Er war drogenabhängig und riet ihr davon ab, sich Hilfe zu holen. Als Fabry in das Wohnheim ziehen wollte, setzte er sie unter Druck. Heute hat Fabry keinen Kontakt mehr zu ihm. „Die Begegnungsstätte tut mir supergut“, sagt sie. Auch in der Theatergruppe der Villa Wisch spielt sie mit. „Durch die Tagesstruktur hier und das Theaterspielen habe ich ein gutes Selbstbewusstsein bekommen – das hatte ich vorher nicht“, sagt Fabry. Auch ihre älteste Tochter kann sie nun wieder treffen.

Insgesamt 18 Leute arbeiten in der Textilwerkstatt, manche 20 Stunden in der Woche, andere nur zwei. Ursprünglich entstand sie aus dem Projekt „Urban Knitting“ mit damals drei Strickerinnen. Jetzt wird hier gestickt oder genäht, und die dabei entstehenden Produkte – Schmuckteile oder Taschen – kann man in der Villa, im Sozialkaufhaus oder in einem Laden im Viertel kaufen. „Es ist ganz unterschiedlich, was die Menschen so an Arbeitskraft mitbringen“, sagt Ilka Hövermann, die zusammen mit der Ergotherapeutin Beate von Schwarzkopf die Werkstatt leitet. „Wir versuchen, sie da abzuholen, wo sie mit ihren Fähigkeiten stehen. Sich an Neues heranzuwagen ist für manche eine echte Herausforderung, während andere da ganz forsch und mutig sind.“ Alle hier sollen in einem geschützten Raum arbeiten können, sagt Beate von Schwarzkopf. Das Ziel: die Stabilisation für den ersten Arbeitsmarkt. Zwar sind die heute Injob genannten Ein-Euro-Jobs umstritten. Beate von Schwarzkopf findet sie aber gut – als Möglichkeit der Integration für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wobei sie lieber von Menschen spricht, die „seelisch erschüttert“ sind.

Die Zeitschrift als Stimme für seelische Gesundheit

„Früher war man davon ausgegangen, dass wenig Belastung gut ist“, sagt Beate von Schwarzkopf – aber auch Menschen, die erkrankt sind, brauchen kleine Reize. In der Ergotherapie nennt man diesen Ansatz „Heilen durch handeln“. Die Struktur des Alltages und die Aufgaben lenken ab und steigern das Selbstwertgefühl der Betroffenen. „Das kennt ja jeder, der schon mal eine Krise hatte“, sagt Ilka Hövermann.

Im Keller der Villa sitzt die Redaktion der Zeitschrift „Zwielicht“, die sich vor allem Themen der seelischen Gesundheit widmet. Sie erscheint seit 2012 etwa alle sechs Monate, demnächst auch online. In dem Magazin werden Stadtteilberichte aus Hemelingen veröffentlicht, aber auch Geschichten über Menschen, die Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben, Texte von Leuten, die eine Krise hatten und davon berichten, wie sie diese überstanden haben. Rassismus oder Beleidigungen sind tabu: „Hasstiraden wollen wir nicht haben, das ist nicht unser Ansatz“, sagt Christian Kaschkow (oberes Foto, rechts). Er schreibt Artikel über die Verhältnisse in der Psychiatrie und wie diese verbessert werden können. Auch Irmgard Gummig (oberes Foto, links) schreibt für „Zwielicht“: „Ich habe schon immer ganz viel geschrieben“, sagt sie. Es ist eine „Bewältigungsstrategie, um die schrecklichen Dinge, die ich in der Kindheit erlebt habe, zu verarbeiten.“

„Mutig, das Schlimme zu benennen“

Früher konnte sie über vieles nicht sprechen – und begann so, zu schreiben. Vor etwa drei Jahren veröffentlichte sie hier ihre ersten Texte. „Das war schon eine Art Krisenbewältigung“, sagt Gummig. Danach ging sie immer öfter zu den Redaktionssitzungen – aber in die Gruppe zu kommen, in der Gruppe zu bleiben, das ist immer noch eine Herausforderung für sie. Mittlerweile hat sie eine Stelle mit 15 Stunden in der Woche angenommen und schreibt nun nicht mehr alleine an ihrem Schreibtisch, sondern in einer Gruppe. Dafür bekommt sie auch Post von Lesern, die ihr schreiben, dass es ihnen Mut mache, wie mutig sie sei. „Der Mut, es zu benennen, ist ein großer Akt“, sagt Irmgard Gummig. „Aber es hilft mir, das Schlimme aus der Vergangenheit zu bewältigen und auch zu sehen, dass es Schönes gibt.“

Test:
Frauke Kuffel
Fotos:
Jasmin Bojahr

#59 Lindenhof

Beitragsbild: Thomas Hawk/flickr.com

EDITORIAL: Von Bärten und Büchern

Nein, sagt die Studentin, in Walle sei sie noch nie gewesen. Dabei komme sie ja aus Bremen! Aber was ist dann erst mit Gröpelingen? Das ist ja noch viel weiter draußen, schon fast Bremen-Nord, und kurz vor diesem Bremerhaven. Für viele Bremer:innen ist das eben immer noch sehr weit weg, in jeder Hinsicht. Und anderswo ist der Stadtteil noch als das bekannt, was man früher einen „sozialen Brennpunkt“ nannte. Weil das aber zu sehr nach Drogen und Gewalt klingt, heißt das heutzutage „Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf“.

Um jener Welt einmal näherzukommen, waren wir jetzt also in der Lindenhofstraße, da, von wo aus man früher zu „Use Akschen“ ging. Dort fanden wir eine innovative Bibliothek, die immer weniger mit Büchern zu tun hat und gerade darum so gut ist (Seite 8). Wir haben uns den Bart stutzen lassen, um bei der Gelegenheit mit den Menschen ins Gespräch zu kommen (Seite 20), und einen alten Stuhl in die Recycling-Börse gebracht, um die Wegwerfgesellschaft mal aus einer anderen Warte zu betrachten (Seite 12). Und wir haben mit vielen Menschen geredet, die hier wohnen, um dem Lebensgefühl des Quartiers etwas näher zu kommen (Seite 24). Wir haben sie nach ihrem ganz eigenen Blick auf den Lindenhof gefragt (Seite 28) und sie sogar schon morgens früh um fünf Uhr beim Bäcker getroffen, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit mal eben frühstücken (Seite 14).

Ein Besuch beim Frisör Abdullah Bozkir, der auf der Suche nach einem besseren Leben nach Gröpelingen kam

 

IN DEN HÄNDEN DES APO

#59 LINDENHOF – Ein Besuch beim Frisör Abdullah Bozkir, der einst auf der Suche nach einem besseren Leben nach Gröpelingen kam

 Ich spüre die Klinge an meinem Kehlkopf. Sie schabt Rasierschaum und Bartstoppeln von meiner Haut, wandert Strich für Strich den Hals entlang. Ich möchte etwas sagen. Traue mich aber nicht. Bloß keine falsche Bewegung riskieren. Mein Kopf liegt im Nacken. Statt in den Spiegel blicke ich an die Decke. Angestrengt bewegen sich meine Augen abwärts, um doch mein Spiegelbild zu sehen, um doch irgendwie die Arbeit an meiner Pulsader zu beaufsichtigen. Doch ohne Brille ist das zwecklos.

„Keine Sorge, ich pass’ auf“, sagt der Mann, der die Klinge führt. Es gelingt ihm, mir einen Teil meiner Anspannung zu nehmen. Seine Handbewegungen sind schnell, sicher, routiniert. Unzählig viele Männer haben sich schon Apos Klinge anvertraut. Der 44-Jährige arbeitet seit 30 Jahren als Friseur, seinen Herrensalon „Apo’s Haircut“ an der Lindenhofstraße eröffnete er vor neun Jahren. Hier, zwischen Moschee und Gemüsehändler, treffen sich Männer jeden Alters. Von millimeterlanger Stoppeloptik bis hin zum voluminösen Vollbart ist hier fast jede Form der Gesichtsbehaarung vertreten. Nur die Variante „Glatt wie ein Babypopo“ sucht man vergebens. Viele Kunden schwören auf die wöchentliche Rasur bei Abdullah Bozkir, den alle nur „Apo“ nennen.

Eine erste Rasur – Ein ungewohnter Moment mit Apo

Für mich ist es das erste Mal, dass ich mich rasieren lasse. Der warme Schaum riecht angenehm nach den feuchten Tüchern, die auf Flügen der „Turkish Airlines“ gereicht werden. Eine Mischung aus Lavendel und Zitrone. Apo dirigiert meinen Kopf zum Waschbecken. Ich bin verunsichert. Soll ich mir die Schaumreste selbst vom Gesicht spülen? Wohl nicht. Apo macht das. Ein kurzer unangenehmer Moment. Irgendwie haben diese fremden großen Hände nichts in meinem Gesicht verloren. Dann holt er eine Spule hervor, die man sonst für Nähmaschinen verwendet. Was hat er damit vor?

Apo selbst ist fast glattrasiert. Auch auf dem Kopf finden sich nicht mehr allzu viele Haare. Seine Augen sind kugelrund und stets aufmerksam geöffnet. Er trägt ein blaues Jeanshemd, die kurzen Ärmel sind für die Oberarme etwas zu eng. Der Small Talk während der Rasur gelingt in brüchigem Deutsch, dann hilft der 27-jährige Abdullah Duman mit der Übersetzung zwischen Deutsch und Türkisch. Es gibt heißen Tee aus kleinen Gläschen ohne Henkel. Die Begründer dieser türkischen Tradition müssen hitzeresistente Finger gehabt haben.

Verantwortung in jungen Jahren

Schon im Alter von zwölf Jahren verdient sich Apo ein kleines Taschengeld im Friseursalon seines Onkels. Er lebt damals nahe der Stadt Bingöl im östlichen Teil der Türkei, in einer Familie mit acht Geschwistern. Der Vater kann nicht arbeiten, die finanzielle Situation ist schlecht. Der junge Abdullah – selbst noch ein Kind – muss Verantwortung übernehmen, seinen Beitrag leisten, um die Familie durchzubringen. Die Schule beendet er nach der siebten Klasse, weil die Eltern das Schulgeld nicht mehr aufbringen können. Mit vierzehn Jahren beginnt er, Vollzeit im Geschäft seines Onkels zu arbeiten.

„Meine größte Sorge war es, die Familie zu ernähren. Das Spielen mit den Freunden musste warten“, erinnert sich Apo. Doch auch als er sich voll auf das Friseurhandwerk einstellt, bleibt der Verdienst in der Türkei gering. Anders erleben es Freunde und Bekannte, deren Familien in den 1960er Jahren als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland auswanderten. Ihre Geschichten werden auch in Bingöl erzählt. Sie wecken Sehnsüchte nach einem besseren Leben. „Irgendwann habe ich mir gesagt, ich will es selbst versuchen, meine Chance ergreifen“, sagt Apo.

Erfolg in Gröpelingen

Gemeinsam mit seinem Bruder eröffnet er 2009 den Friseursalon in Gröpelingen – sieben Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland. Einen Gedanken an das wirtschaftliche Scheitern habe er nie verschwendet, beteuert Apo. Das Geschäft läuft gut. Absoluter Hochbetrieb herrscht am Freitag und Samstag, wenn sich die jungen Männer für das Nachtleben aufhübschen lassen. Aber auch an den anderen Tagen muss man bisweilen Wartezeit mitbringen, gerade wenn unbedingt der Chef selbst Hand anlegen soll. Demnächst wollen die Gebrüder Bozkir sogar einen neuen Friseursalon an der Gröpelinger Heerstraße eröffnen – für Männer und Frauen.

Den jetzigen Herrensalon betreten Frauen nur sehr selten, sagt Abdullah Duman – und wenn, dann in Begleitung ihrer Männer. Türkische Frauen, die ein Kopftuch tragen, würden sich ohnehin nur von Frauen die Haare frisieren lassen, erklärt er. „Viele haben gar nicht das große Bedürfnis, oft einen Friseur zu besuchen.“ Seien die Haare in der Öffentlichkeit unter dem Tuch verborgen, entstünden nicht so viele Sorgen um die Frisur.

Traditionelle Rasur und Augenbrauenpflege

Duman selbst lässt sich jede Woche von Apo rasieren und das seit etwa zehn Jahren. „Mein Bart ist mir wichtiger als meine Haare“, sagt Duman. „Die einzelne Rasierklinge ist viel präziser, als so eine mit drei Klingen.“ Und überhaupt, Rasieren, das könne auch nicht jeder. Er vertraut seinen Bart nur Apo an. Unter Jugendlichen mit türkischen Wurzeln sei es ganz normal, den Bart wachsen zu lassen. „Das hat mir das Gefühl gegeben, ich werd’ ein Mann“, erinnert sich Duman. Heute macht er an der Universität Bremen seinen Master im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen. Seine Eltern kamen beide im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland, er selbst ist hier geboren.

Zurück zur Spule für Nähmaschinen, die Apo nach meiner Rasur irgendwo hergezaubert hat. Er entrollt den Faden und formt eine kleine Schlaufe. Langsam verstehe ich – es geht um meine Augenbrauen. Damit habe ich nicht gerechnet. Mein Kopf liegt wieder im Sessel, ich schließe meine Augen. Meine Brauen werden, so kommt es mir vor, von unendlich vielen kleinen Nadelstichen traktiert. Tatsächlich arbeitet Apo aber nur mit seinem Faden. Durch das Lockern und Spannen der kleinen Schlaufe zupft er die Härchen einzeln von der Augenpartie. Gezupfte Augenbrauen kannte ich bislang nur von Frauen.

Den Abschluss macht ein Wässerchen, eine Art Aftershave, aber ohne Geruchsbombe. Apo verteilt es mit seinen Händen in Windeseile über Bart und Augenbrauen. Es brennt. „Das ist zum desinfizieren“, sagt er. Dann setze ich wieder meine Brille auf und begutachte das Ergebnis. Es sieht gut aus, wie aus einem Guss.

Text:
Björn Struß
Foto:
Wolfgang Everding

#58 Fedelhören

Hintergrundfoto: Wikimedia

EDITORIAL: Zwei Teile, eine Straße

Was die Weser für Bremen, ist der Rembertiring für den Fedelhören: Er teilt die unaufdringlich schöne Straße in zwei Hälften – wir haben sie beide besucht. In der südwestlichen geht es recht mondän zu, hier findet man einen Hotspot des Antiquitäten- und Kunsthandels. Unser Autor Björn Struß hat bei der Gelegenheit probiert, etwas Geld zu verdienen (Seite 8). „Klaviere Backhaus“ hatten wir einen letzten Besuch abgestattet, bevor das Traditionshaus nach fast vier Jahrzehnten dicht gemacht hat (Seite 14).

Im nordöstlichen Teil des Fedelhören, wo es ruhiger zugeht, kommen auch Menschen mit ganz wenig Geld auf ihre Kosten: in der Teestube Hoppenbank (Seite 26). Wer will, kann sich aber auch mit Leib und Seele nach Italien entführen lassen (Seite 12).

Und dann möchten wir noch kurz Werbung in eigener Sache machen: Seit vier Wochen läuft das Sommersemester der Uni der Straße. Das Schwerpunktthema ist dieses Mal Wasser, mit Vorträgen zu Trinkwasser und Küstenschutz sowie einer Exkursion zum Weserkraftwerk. Das gesamte Programm finden Sie im Netz unter http://uni-der-strasse.de/programm.

Einige werden es bemerkt haben: Die Zeitschrift der Straße hat nun auch einen Instagram-Account. In diesem sozialen Netzwerk veröffentlichen wir regelmäßig die besten Bilder unserer Fotografinnen und Fotografen, die es aus Platzmangel nicht ins Heft geschafft haben. Und wem soziale Netzwerke suspekt sind: Man muss keinen Account anlegen, um die Bilder zu sehen. Besuchen Sie uns einfach unter www.instagram.com/zeitschriftderstrasse.

Ein sozialer Stadtrundgang: die Hoppenbank

 

 

VIEL MEHR ALS NUR TEE

#58 FEDELHÖREN – In einer neuen Serie stellen wir Einrichtungen vor, die unser sozialer Stadtrundgang „Perspektivwechsel“ besucht. Heute: das Haus Fedelhören.

Unscheinbar wirkt der Eingang der Teestube, zwischen all den großen, stattlichen Häusern im Fedelhören, grau und niedrig. Es ist ein Ort, an dem eilige PassantInnen schnell vorbeihasten. Aber die gehören ja auch nicht zum typischen Klientel der Teestube. Gegründet wurde sie einst für ehemalige Strafgefangene – auch als tagesstrukturierende Maßnahme –, inzwischen kommen aber auch Hartz-IV-EmpfängerInnen und RentnerInnen, die wenig Geld haben. Sie kommen zum Essen, zum Reden, zum Schachspielen oder um die Lokalzeitung zu lesen.

Seit einiger Zeit dürfen allerdings nur noch nachweislich bedürftige Personen hier essen: „Wir beschäftigen auch Ein-Euro-Jobber, und die dürfen nur für Bedürftige arbeiten“, sagt Hermann Smidt, der Leiter der Teestube. „Das hat auch was mit Wettbewerbsverzerrung zu tun, weil wir das Essen ja viel billiger herstellen können.“ Gleich nebenan ist „Das schwarze Schaf“, ein kleines Restaurant mit mediterraner Küche. „Das wir dem Konkurrenz machen, glaube ich aber nicht“, sagt Smidt, und lächelt. Ein Mittagessen in der Teestube kostet in der Regel 2,80 Euro, Frühstück und Abendessen sind etwas billiger.

Heute gibt es Schweineschnitzel. Um den BesucherInnen entgegenzukommen, die zum Teil nicht nur zu wenig Geld, sondern auch Probleme mit dessen Einteilung haben, kann man ein Guthaben anlegen – oder bis sechs Euro Kredit aufnehmen. Öffnet man gegen Mittag die Tür der Teestube, kommt einem Stimmengewirr entgegen, ein heimeliger Essensgeruch zieht durch die niedrigen Räume. Ein kleiner Flur führt zur Essensausgabe und zu einem zweiten, größeren Zimmer. Von dort aus gelangt man zu einem großen Außenbereich mit Gartenhäuschen, Pflanzen und mehreren Tischen unter Pavillons.

Unter einem dieser Pavillons sitzt Lenny, ein regelmäßiger Gast der Teestube. Er kommt schon seit 20 Jahren, sagt er, und lebt heute in einer eigenen kleinen Wohnung im Viertel. Er kenne aber auch Leute, die sich mehrmals in der Woche aus Gröpelingen oder der Vahr auf den Weg in den Fedelhören machen. „Das Mittagessen in der Teestube ist für viele der Tageshöhepunkt“, sagt er. Lenny sieht die neue Regelung, bei der jeder seine Bedürftigkeit nachweisen muss, kritisch – weil nicht nur diejenigen mit „zu viel“ Geld aussortiert würden, sondern auch jene, die sich aus verschiedenen Gründen nicht um die Formulare für einen solchen Antrag kümmern könnten oder wollten. Smidt bestätigt, dass Behördengänge zu den schwierigsten Aufgaben in der Zeit nach der Haft gehören. Die Teestube ist deswegen nicht nur für gutes Essen da, sondern fungiert auch als Beratungs- und Vermittlungsstelle. Außerdem kann man hier auch seine Strafe abarbeiten.

Direkt über der Teestube befindet sich das Wohnprojekt „Haus Fedelhören“, das ebenfalls zum Angebot der Hoppenbank gehört. Dort können sich Männer für maximal zwei Jahre in Wohngemeinschaften auf ein selbstständiges Leben nach der Haft vorbereiten. Aus diesem Projekt ist die Teestube ursprünglich entstanden – als die Bewohner immer häufiger ihre Zeit mit Kumpels, die von außerhalb kamen, im Gemeinschaftsraum verbrachten.

Einer der heutigen Bewohner der Wohngemeinschaft ist Christoph, der in seinem knallgrünen Kapuzenpullover und den leicht grünlichen Haaren nicht gerade wie ein klassischer 47-Jähriger aussieht. Das mag auch an seinem Beruf als Frisör liegen, der ihm in der Haft oft eine Arbeit gesichert hat. In ein paar Wochen wird er das Haus im Fedelhören verlassen, um in einer Klinik seine Drogenabhängigkeit, die ihn mehrfach ins Gefängnis gebracht hat, unter Kontrolle zu bekommen. Christoph hat sich ein klares Ziel gesetzt: „Wenn ich 50 bin, will ich, dass das alles vorbei ist, will vom Stoff wegkommen und ein stressfreieres Leben haben.“

Auch Ingolf sehnt sich nach einem ruhigeren Leben. Und vor allem nach einer eigenen Wohnung. Die sind für einen wie ihn in Bremen allerdings gerade sehr schwer zu finden. „Zum Heulen ist das“, sagt er. „Ich bin einfach zur falschen Zeit wohnungslos geworden.“ Am liebsten würde er ja im Haus Fedelhören wohnen bleiben. Aber seine Zwei-Jahres-Frist läuft in ein paar Monaten ab. Ingolf, der ebenfalls mit Drogen zu kämpfen hat, schätzt die Unterstützung im Wohnprojekt sehr. „Wenn ich die nicht bekommen hätte, wäre ich echt untergegangen. Die haben mich hier langsam wieder zum Leben erweckt.“

Auch Christoph geht manchmal in die Teestube. „Die machen echt gutes Essen!“ Dieses Essen gibt es 365 Tage im Jahr. Dass Feiertag ist, merkt man in der Teestube trotzdem, am Speiseplan: Ostersonntag gab es Kaninchenkeule.

Text:
Teresa Wolny
Bild:
Hartmut Bendig

#57 Schweizer Viertel

Hintergrundfoto: André Hofmeister/flickr.com

EDITORIAL: Besser als ihr Ruf

Was haben sich die Planer wohl dabei gedacht, als sie dem damaligen Neubauviertel im Bremer Osten so viele Schweizer Straßennamen verpassten? 25 sind es, wenn wir uns nicht verzählt haben. Aber warum nur? Die Gegend ist flach wie sonst auch in der Norddeutschen Tiefeebene, und statt des Rufs der Berge vernimmt man das Rauschen der Autobahn. Was den Wohlstand angeht, ist das Quartier auch eher eine Anti-Schweiz: Jeder vierte Einwohner bezieht Hartz IV, von den Kindern sogar jedes zweite.

Das Schweizer Viertel galt lang als sozialer Brennpunkt, nicht umsonst hat es von der Stadt einen Quartiersmanager an die Seite gestellt bekommen. Seither sind nicht alle Probleme verschwunden, aber wir haben bei unseren Recherchen viele Menschen kennengelernt, die für ihr Viertel brennen und es voranbringen wollen. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Albert-Einstein-Oberschule beispielsweise, die es schaffen, ihren Jugendlichen die Prinzipien der Demokratie zu vermitteln, obwohl manche kaum auf liniertem Papier schreiben können (Seite 20).

Oder Christa Brämsmann, die in Tenever ein Mütterzentrum aufgebaut hat, das Frauen fördert und mittlerweile 75 Angestellte hat. (Seite 12). Mirko Eggers und Yannick Rath sorgen für Gerechtigkeit auf Bremens Fußballplätzen – warum sie gern Schiedsrichter sind, erzählen sie auf Seite 24. Wie aus Ozan Keskin, der mit drei Jahren aus der Türkei nach Bremen gekommen war, ein Tubist wurde, ist eine längere Geschichte, aber dafür eine großartige. Die Bremer Kammerphilharmoniker und die Gesamtschule Bremen-Ost spielen darin eine tragende Rolle (Seite 8).

Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen und wurden Freundinnen

 

SANDRA UND ANGELA

#57 SCHWEIZER VIERTEL – Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen und wurden Freundinnen. Derzeit verkaufen sie gemeinsam die Zeitschrift der Straße

Angela und Sandra sind auch heute zusammen auf dem Weg zum Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße. Ein guter Tag, die Sonne scheint, die Menschen sind gut drauf. Die beiden Freundinnen auch, sie lachen, als sie zur Tür hereinkommen. Von Montag bis Freitag, immer zwischen zehn und halb elf, kaufen Angela und Sandra ihre Zeitschriften. Sie begrüßen mich, holen mich ab. Sandra kauft morgens gerne sechs oder sieben Zeitschriften und nachmittags nochmal ein oder zwei. Angela ist mit ein oder zwei Zeitschriften unterwegs und kauft neue, sobald ihre verkauft sind.

Zusammen geht’s nach draußen. Heute früh waren sie schon zwei Stunden unterwegs und haben verkauft. Angela und Sandra haben keinen festen Platz, sie bewegen sich gern und halten sich meist in der Nähe des Hauptbahnhofes auf, ab und zu geht es in die Innenstadt. Sie sind bei jedem Wetter draußen. An diesem kalten Februartag tragen sie je zwei Hosen und drei Pullover. Angela verkauft seit Dezember, Sandra seit Ende Januar.

Kennengelernt haben sie sich in ihrer Notunterkunft. Sandra und ihr Freund hatten eine Wohnung, in der es einen Wasserschaden gab. Sie mussten die Wohnung bis auf Weiteres verlassen. Etwas verloren wandten sie sich ans Amt, von dort wurden sie in die Notunterkunft geschickt. Dort sind sie zusammen untergebracht, in einem Vierbettzimmer. Sandra würde gern wieder mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung ziehen. Angela hatte Sandra von der Zeitschrift der Straße erzählt, nachdem diese ihr anvertraut hatte, dass sie von ihrem Hartz-IV-Regelsatz nur 280 Euro bekommt, weil sie noch ein Darlehen abbezahlen muss.

Sandra kommt aus Ostfriesland, aus Aurich. Dort machte sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin. Doch immer wieder auftretende Schmerzen bringen sie ins Krankenhaus. Sandra hat Endometriose, hier wächst ein gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe nicht nur in der Gebärmutterhöhle, sondern auch an Stellen, wo es eigentlich nicht hingehört. Diese Krankheit bringt sie für längere Zeit ins Krankenhaus.

Nachdem sie für vier Wochen krankgeschrieben war, riet ihr ein Berufsschullehrer, die Ausbildung abzubrechen, weil sie den versäumten Stoff nicht aufholen könne. Traurig erzählt sie von ihrer Gebärmuttererkrankung, die mit starken Schmerzen während der Menstruation einhergeht. Dann kam noch die Nachricht der Ärzte, die ihr sagten, ihre Chance, schwanger werden zu können, betrage nur noch 20 Prozent. Sie hätte so gern Kinder!

Sandra achtet auf ihr Äußeres. „Wer obdachlos ist, muss nicht obdachlos aussehen!“, findet sie. (Foto: Petra Kettler)

Wie Angela. Schüchtern erzählt Angela von ihren Kindern. Sie sind 16, 13 und 11 und leben bei der Großmutter. Angela selbst ist in Köln aufgewachsen. Nach Bremen kam sie, weil sie zu Hause häusliche Gewalt erlebte. Sehr distanziert und neutral spricht sie über ihre Situation, sie gibt wenig preis über sich. Mit dem Vater ihrer Kinder war sie 14 Jahre lang verheiratet. Ihre Tante vermittelte ihr einen Job als Reinigungskraft. Als sie schwanger wurde, wurde es schwieriger für sie zu arbeiten.

Eine Ausbildung hat sie nicht. Sie schmunzelt, als sie auf Kölsch sagt, sie sei ja „schließlich Hausfrau und Mutter“ gewesen. Sie vermisst ihre Kinder sehr, telefoniert fast täglich mit ihnen. Besuchen konnte sie ihre Kinder nicht, dafür reichte das Geld nicht. Sie bekommt Hartz IV und verkauft die Zeitschrift der Straße, viel bleibt da nicht übrig.

Während sie erzählt, fällt ihr eine Geschichte aus einem Frauenhaus ein. Dort kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einer anderen Mutter. Angela spricht wieder distanziert, lässt nur vorsichtig durchblicken, dass es für sie schwer ist zu sehen, wenn Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Die Situation ging übel aus. Besonders für Angela: Sie flog raus. Es gibt eine kurze Gesprächspause.

Sandra übernimmt das Reden. Das Verkaufen der Zeitschrift der Straße ist für sie ein spannender Job. Sie mag es, dabei in Gespräche verwickelt zu werden. Freundlich zu bleiben fällt ihnen aber nicht immer leicht, etwa, wenn sie beleidigt werden. Sandra erzählt, wenn jemand sie abwertend anguckt und dann sagt: „Warum gehst du nicht anschaffen?“ oder: „Wie eine Obdachlose siehst du aber nicht aus“, fehlen ihr im ersten Moment die Worte. Hier hilft es, dass die Freundinnen sich stündlich für eine Zigarettenpause treffen und reden. Die Beleidigungen sind dann vergessen.

Für Angela geht es bald wieder zurück nach Köln zu ihren Kindern. Mit ihrem Ex-Mann hat sie keinen Kontakt mehr. Sie fühlt sich bereit zurückzufahren. Ohne Angst.

Text und erstes Foto: Ann-Kathrin Just

#56 Güterbahnhof

Hintergrundfoto: Brandon Giesbrecht/flickr.com

EDITORIAL: Von Bahnen und Burgen

Wenn Sie schon einmal mit dem Zug nach Bremen gefahren sind, sagen wir, aus Oldenburg, haben Sie sie bestimmt auch schon mal gesehen. Die Obdachlosen, die am alten Bahnsteig des Güterbahnhofs wohnen. Und sich gefragt, wer diese Menschen wohl sind und warum sie ausgerechnet hier wohnen. Wir haben sie besucht und ein paar von ihnen näher kennengelernt, vor allem Wolle, der Ihnen schon auf dem Titelbild begegnet ist. Alles Weitere lesen Sie dann ab Seite 8.

Früher wäre einer wie Wolle noch nebenan im Papageienhaus untergekommen, aber das steht ja jetzt auch schon gut zwei Jahre leer – seit man, nicht zu Unrecht, von der zentralen Unterbringung von suchtkranken und wohnungslosen Menschen abgekommen ist. Was aus dem Haus jetzt wird? Rote und Grüne haben da verschiedene, widerstreitende Ideen (Seite 24).

Eine von ihnen hat mit Künstler:innen zu tun, naheliegenderweise, denn davon gibt es hier am Güterbahnhof ja eine ganze Menge. Meistens arbeiten sie hier im Verborgenen, in ihren Ateliers, aber ein paar von ihnen durften wir dort besuchen (Seite 14). Und auch Daniel Keßler hat uns zu sich eingeladen – das ist einer von denen, die hier in der Wagenburg „Querlenker“ wohnen (Seite 20).

Vielleicht sind Sie aber auch mit dem Auto gekommen, nicht mit dem Zug, und haben es auf der Suche nach einem günstigen Parkplatz am Güterbahnhof stehen gelassen. Wer ist dieser Mensch, der da immer schon auf Sie wartet und Sie mit einem „Zweifünfzig, bitte“ empfängt? Wir stellen Ihnen Felix Ganser auf Seite 12 vor.

 

Wer das Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof besucht, trifft auf viele Geschichten

 

WOLLE, BABY UND OPA

#56 GÜTERBAHNHOF: Wer das Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof besucht, trifft dort auf viele Geschichten. Nicht jeder hier nimmt Hilfe in Anspruch

Wenn „Baby“ vom Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof spricht, wird er sentimental. „Es ist eine Gemeinschaft“ sagt er. „Am Tag passt immer jemand auf deine Sachen auf.“ Und alle achten sie auf die Arzt- und Ämtertermine der anderen, sagt Baby. Er hat den seinen heute trotzdem verpasst. Stattdessen sitzt er jetzt, wie immer morgens um zehn, mit einem Kaffee bei den Streetworkern der Inneren Mission, vor dem Hauptbahnhof. Es ist beißend kalt. Baby, – mittlerweile Anfang 40 – kleckert wieder und wieder auf seine schwarze Hose, ärgert sich, um im nächsten Moment wieder neckisch zu grinsen. Und einen seiner Freunde aufzuziehen.

Zwei Jahre lebte Baby am Güterbahnhof, zwei Mal fiel er ins Koma. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. Er braucht eine Hüft-Operation, doch wegen einer starken Entzündung im Körper wollen ihn die Ärzte nicht operieren. „Sie haben gesagt, er soll sich auskurieren und haben ihn einfach wieder auf Straße gesetzt“, erzählt der Streetworker Jonas Pot d’Or von der Inneren Mission. Immerhin schläft Baby jetzt in einer Notunterkunft, nicht mehr am Güterbahnhof. Dennoch soll er heute mein Türöffner zum Nachtlager am Güterbahnhof sein.

Baby schaut mich nicht an. Stattdessen unterbricht er seinen redseligen Freund „Opa“, 59, den er auch vom Güterbahnhof kennt, mit Sticheleien oder einem liebevollen „Halt die Fresse“. Baby ist fürsorglich, vielleicht weil er lange Punk war und zwei Kinder hat. Kaum krame ich nach einem neuen Kugelschreiber, zückt er schon einen.

„Wir müssen los“, sagt er schließlich und rollt mit kurzen und kräftigen Armbewegungen voran. Der Schnürsenkel seines Sneakers schleift er hinter sich her. Er kämpft kurz mit der Fußgängerführung an den Schienen, dann rollt er über den Bahnübergang, durch den Schlamm, auf die Platte zu.

Etwa 13 Leute wohnen hier derzeit, aber gerade sind nur vier von ihnen da. Einer werkelt an einem Kocher, um ihn herum ein Ring aus Plastikresten. Baby kennt ihn, spricht sanft mit ihm, und lange. Obwohl er die wichtigste Regel hier bricht: Kein Müll! Die hat Baby noch mit den Künstlern vom Güterbahnhof ausgehandelt. Der Hinterausgang der Flamenco-Schule soll immer frei sein, aber auch dort hat nun jemand sein Lager aufgeschlagen. „Wenn jemand Ärger macht, habe ich ihn weggeschickt“, sagt Baby. Jetzt wollen die Künstler die Obdachlosen weg haben, sagt er.

Wir treffen „Wolle“ (Foto oben), der in seiner Sitzecke gerade ein junges Pärchen zu Gast hat. „In zwei Tagen müssen wir aus unserer Wohnung raus. Vielleicht kommen wir dann hier her“, sagt die Frau, sie mag vielleicht Anfang 20 sein. Sie ist heroinabhängig, er auch, und beide warten sie auf einen Platz im Substitutions-Programm.

Auch Wolle ist suchtkrank. Seit fünf Monaten macht er Platte. Für Streetworker und Beratungsstellen ist er nur schwer erreichbar. Jonas Pot D´Or sieht ihn nur gelegentlich, wenn er kostenloses Frühstück ausgibt. Dass Wolle mal eine Wohnung gesucht hätte, daran können sich weder der Streetworker noch Baby erinnern. Wolle selbst sagt, er hätte mal nach einer geschaut. „Aber die Wohnungen sind draußen in Blumenthal“, sagt er. Also zu weit weg vom Hauptbahnhof. Seinem Lebensmittelpunkt.

Auch die Streetworker der Inneren Mission und die CDU-Sozialpolitikerin Sigrid Grönert klagen über den Mangel an bezahlbarem Wohnungraum in der Innenstadt. „Es muss mehr Wohnungen geben – quer durch die Stadt verstreut“, sagt Grönert.

Habseligkeiten und Nachtlager am Bremer Güterbahnhof

Warum Wolle unbedingt am Hauptbahnhof bleiben will, erfahre ich, als ich ihn eine Woche später wieder treffe. Die Sonne scheint und Wolle ist gerade im Substitutions-Programm, also im Heroinentzug. „Das ist für mich stressfreier. Eine Dosis am Morgen, dann habe ich Ruhe“, sagt er. Er sitzt allein, im Schaukelstuhl, vor einem selbstgebauten Zelt aus Filzdecken. Am Hauptbahnhof will er weiter schnorren. Selbst wenn er eine Wohnung hätte. Das Geld braucht er, zusätzlich zu Hartz IV, für seine Drogen. Denn auf Kokain und Marihuana will er nicht verzichten.

Für jemand wie Sigrid Grönert ist das schwer verständlich. Doch für Wolle sind Drogen ein ständiger Begleiter, eine Konstante in seinem Leben. Schon mit zwölf hat er angefangen zu kiffen. Damals war er schon drei Jahre im Kinderheim, nach der Schule musste er Torf stechen, abends fiel er todmüde ins Bett. Aber mit den Drogen lief es erstmal richtig gut für Wolle. Er machte seinen Schulabschluss, danach eine Ausbildung zum Schweißer. Er arbeitete, zog mit seiner Freundin zusammen und bekam mit ihr zwei Söhne.

Dann kam das, was in der Forschung zur Obdachlosigkeit ein „Auslöser“ genannt wird: Wolles Frau stirbt. Unerwartet. Er ertränkt seinen Schmerz im Alkohol, auch wenn er Auto fährt. Am Ende muss er für dreieinhalb Jahre in den Knast. Als er wieder frei kommt, will er nicht in die alte, gemeinsame Wohnung zurück.

Also wurde Wolle obdachlos. Heute ist er 47 Jahre alt und sieht seine Söhne regelmäßig, sie sind beide Anfang 20. Der Ältere bekommt gerade sein erstes Kind. Unterkommen will Wolle bei ihnen nicht, obwohl sie es ihrem Vater schon mehrmals angeboten haben. „Die haben mit sich selbst zu tun“, sagt Wolle. Dafür unterstützt er sie. 200 Euro gebe er ihnen monatlich, behauptet Wolle. Er bekomme 1.000 Euro Arbeitslosengeld, sagt er. Für Jonas Pot d´Or ist das schwer vorstellbar. In der Regel bekämen Obdachlose nur den Hartz IV-Satz, also knapp 400 Euro monatlich.

Während Wolle erzählt, schläft nur einen Meter weiter ein junger Pole vor der Flamenco-Schule. Er rührt sich kein einziges Mal in seinem dünnen grünen Schlafsack. „Er kann kein Deutsch. Meistens schimpft er auf Polnisch und provoziert“, sagt Wolle. Manchmal werde der junge Pole auch aggressiv. Keiner kennt die Geschichte des Polen, weil niemand ihn versteht.

Wie für den Polen ist der Güterbahnhof für viele Obdachlose der erste Anlaufpunkt, manchmal auch nur für eine Nacht. In dem gesamten Areal schlafen schätzungsweise 90 Personen, sagt Bernd Schneider, der Sprecher des Sozialressorts, aber nicht alle auf dem alten Bahnsteig, so wie Wolle. Baby beispielsweise zeltete zunächst neben dem Gärtnereibetrieb, für den er damals arbeitete. Mittlerweile übernachten auch viele Rumänen am Güterbahnhof, sagt Baby. Aber auf dem Bahnsteig „wollte die keiner haben“. Sie hätten alles geklaut und Probleme gemacht. Und so endet bei den Rumänen auch die beschworene Solidarität.

Stimmen die Schätzungen des Sozialressorts, dann schlafen knapp 18% der rund 500 Wohnungslosen in Bremen hier am Güterbahnhof. Dabei hat jede, jeder mit einem deutschen Pass hierzulande auch einen Anspruch auf ein Dach über dem Kopf. Und der wird meistens auch gewährt: Die Menschen kommen dann in Notunterkünften, angemieteten Hotels oder Pensionen unter. Doch erschwingliche Wohnungen sind knapp. Jonas Pot D´Or sagt, dass es heute schon mal zwei Jahre dauern könne, bis er zusammen mit einem Obdachlosen eine Wohnung finde.

Lösen will die Stadt das Problem mit einer Quote: Wird neues Baurecht geschaffen, so darf ein Viertel der Wohnungen maximal 6,50 Euro pro Quadratmeter kosten – jedenfalls wenn in einem mehrgeschossigen Haus mehr als 20 Wohneinheiten entstehen. Ein Fünftel dieser Wohnungen wiederum soll Obdachlosen zur Verfügung stehen. 2016 und 2017 waren das  Schneider zufolge rund 120.

Baby findet ja, die leeren Container – in denen einst Geflüchtete unterkamen – könnten schnelle Abhilfe schaffen. Peter Erlanson, Sozialpolitiker der Linkspartei, findet das auch. „So hätten Wohnungslose einen sicheren Rückzugsort“, sagt Erlanson. Darüber hinaus hält er Reformen des Arbeitsmarkts für nötig, um Obdachlosigkeit, die durch prekäre Arbeitsverhältnisse ausgelöst wird, zu verhindern. „Man müsste gerade im Niedriglohnsektor viel mehr Regulierungen schaffen“, sagt Erlanson. Beispielsweise sollten Unternehmen stärker kontrolliert werden. Baby und Opa hätte das vielleicht geholfen: Beide wurden ohne Vorankündigung entlassen, sagen sie – und landeten hernach am Güterbahnhof. Beide versuchen, wieder eine Wohnung zu bekommen, mit Hilfe der Streetworker.

Wolle sucht solche Unterstützung nicht. Zwei Wochen nach unserem ersten Gespräch ist er nicht mehr aufzufinden. Vor dem Hauptbahnhof treffe ich Baby. Ihm geht es schlecht. „Das Bein muss ab“, hat er heute von den Ärzten erfahren. Die Entzündung sei zu weit fortgeschritten. „Ich hatte das Gleiche“, meldet sich ein Bekannter von Baby zu Wort. Er sitzt auch im Rollstuhl und hat keine Beine mehr.

Auch Baby wartet auf Wolle. Der soll für ihn etwas vom Aldi mitbringen. Nach ein paar Sprüchen wird er ernst: „Seit Wolle da ist, ist es scheiße auf der Platte“, sagt Baby. Wolle kümmere sich nicht um seinen Müll. Darüber, dass Wolle im Substitutions-Programm sein soll, lacht Baby nur hämisch: „Ich bin da auch – und gesehen habe ich ihn da noch nie“. Wer rückfällig werde, habe keine ernstzunehmenden Konsequenzen zu befürchten, sagt Baby. „Vielleicht gibts mal einen Tag kein Substitut.“

Um uns herum hat sich derweil eine Menschentraube gebildet. Ein Typ mit polnischem Akzent zeigt mir seine Zugtickets nach Lübeck, eine Frau mit winzigem Hund fragt, was ich kaufen wolle. Eine vielleicht 16-jährige mit schwarzer Kleidung und Wunden auf der Nase sagt: „Hab heute keinen Bock zu schnorren“. Schließlich verschwindet Baby im Getümmel der Bahnhofshalle. „Die letzten Tage ist Wolle nur weg mit seinen scheiß Drogen“, sagt einer der anderen Männer, „und ich sag ihm noch: Wolle, Du gibst dich selber auf“. Er schüttelt den Kopf. Jonas Pot d’Or kennt das Problem: „Die Rückfallgefahr ist sehr hoch bei Leuten, die auf der Straße bleiben.“ Parallel zur Substitution müsse meistens schon die Wohnungssuche ins Rollen gebracht werden, sonst seien die Erfolgsaussichten sehr schlecht.

Wolle ist an diesem Tag nicht wiedergekommen. Baby schon. Plötzlich erscheint er wieder und stellt sich in einiger Entfernung von mir auf. Er wartet, vielleicht zögert er. Dann rollt Baby zügig in Richtung Güterbahnhof. Opa folgt ihm.

Text:
Eva Przybyla
Foto:
Hartmuth Bendig

VON LERNPROJEKT ZU LERNPROJEKT

Nachdem sie in der Zeitschrift der Straße von der Reihersiedlung gelesen hatten, entwickelten Studierende aus Oldenburg eigene Konzepte für die Schlichtbauten

Viele Menschen machen sich derzeit Gedanken über die Zukunft der Reihersiedlung, einem Ensemble von Schlichtbauten in Bremen-Oslebshausen. Nur die Vonovia nicht so richtig – der sie aber gehören. Nachdem die Zeitschrift der Straße der Reihersiedlung im vergangenen April eine eigene Ausgabe gewidmet hatte, haben nun zehn studentische Teams der Jade-Hochschule aus Oldenburg städtebauliche Entwürfe zur Zukunft der Siedlung entwickelt: ein Lernprojekt bringt ein Lernprojekt hervor. Die Ergebnisse sind bis Ende Februar in der Stadtteilbibliothek West in Gröpelingen zu sehen.

„Es geht nicht darum, Lösungen zu finden“, sagt Hartmut Stechow, Professor für Städtebau an der Jade-Hochschule, der für seine Studierenden einen professionellen Wettbewerb mit Fachjury und Geldpreisen organisiert hatte. Er will Ideen für soziale Stadtentwicklung ausarbeiten. In der Reihersiedlung gab es ursprünglich 52 Wohnungen, doch ein Großteil steht mittlerweile leer. Wer hier noch in einem der Häuschen lebt, hat noch einen Holzofen, dafür zahlt er für knapp 40 Quadratmeter aber auch nur 170 Euro Kaltmiete. Die BewohnerInnen haben allesamt nur wenig Geld zum Leben, sind aber auch mit wenig Komfort zufrieden. Der Politik gelten sie zumeist als „nicht geschosswohnungsfähig“ und eine Sanierung ihrer Häuschen der Vonovia als „wirtschaftlich nicht darstellbar“. Noch immer ist Zukunft der Reihersiedlung offen – obwohl auch im Bremer Westen mancher in den vergangenen Monaten Pläne für sie gemacht hat. Keiner von ihnen wurde bisher umgesetzt. Für die Studierenden bedeute das, sie könnten „offener und leidenschaftlicher“ planen, so Stechow, zugleich sei ihr Lernprojekt „nicht so abstrakt“. Es ist die Chance, sich eine realitätsnahe Utopie auszudenken – und das schon im 5. Semester, im allerersten städtebaulichen Entwurf des Studiums.

Den meisten Entwürfen ist gemein, dass sie jedenfalls einen Teil der bestehenden Häuser erhalten wollen und Wohnungen nicht nur für die aktuellen BewohnerInnen, sondern auch für SeniorInnen, Studierende, Familien und Wohngemeinschaften bauen wollen. In der Regel wird niedrig und flach gebaut, ein Entwurf plant eine „Wasserstadt“, denn: „Wer am Wasser lebt, ist glücklicher“. Dazu gibt es stets allerlei Gemeinschaftsanlagen, mal mehr, mal weniger Grün, dazu Raum für Gewerbe – und oft sehr viel Parkplätze, obwohl kaum einer der derzeitigen BewohnerInnen ein Auto hat.

Gewonnen hat den Wettbewerb ein Entwurf von Kim-Nadine Bahr, Leah Weimer und Fabian Fritsche, der als einziger eher hoch- als städtebaulich denkt. Er plant mit 44 Wohneinheiten in „ortstypischem Klinker“ – 28 Einzelappartments mit je 42 Quadratmetern, dazu acht Häusern für WGs, die doppelt so groß sind sowie für Familien, die vier Mal so groß sind. Es gibt verkehrsberuhigte Bereiche und hinten, an der Bahn, etwas Platz für Gewerbe – Werkstätten, einzelne Büros, Werkstätten. Auf Platz zwei rangiert das Konzept „Gemeinschaft durch Grün“, das neben 56 Wohnungen für unterschiedliches Klientel auch Gewächshäuser, Gemüsebeete und Obstgärten für die Selbstversorgung vorsieht, aber auch einen Grillplatz, Outdoor-Fitnessanlagen und selbst organisiertes Café. Auch hier bliebe ein Teil der derzeitigen Schlichtbauten bestehen. Im drittplazierten Entwurf gibt es neben den Wohn-Appartments einen Tante-Emma-Laden, eine Bäckerei, eine Kita und einen Arzt, dazu Raum für Gemeinschschaft und für Sport. Und wer mehr Lärm abbekommt, weil er näher an der Bahn wohnt, bekommt dafür besseren Lärmschutz, so die Idee. „Die Menschen dort haben keine hohen Ansprüche“, sagt eine der Studentinnen, „aber sie fühlen sich nicht als Teil der Gemeinschaft“. Mit Hilfe von besserer Infrastruktur wollen sie die BewohnerInnen integrieren, aber auch neue anlocken.

Leah Weimer vom Gewinnerteam mit Bau-Unternehmer Thomas Stefes

Mit zur Jury gehörte auch der Bau-Unternehmer und Projektentwickler Thomas Stefes, der die Reihersiedlung selbst „komplettsanieren“ wollte, wie er sagt. Es sollte „keine Luxussanierung“ werden, aber die Häuser energetisch und bauphysikalisch „auf die Höhe der Zeit“ bringen, wie er sagt. Er wollte „den Menschen eine Chance geben“, sagt er – und kalkulierte nach eigenen Angaben mit Mieten von fünf bis sechs Eure pro Quadratmeter. Das ist zumindest weniger als jene 6,50 Euro, die üblicherweise für Sozialwohnungen gelten. Seine Idee, sagt Stefes, sei aber am Widerstand der Vonovia gescheitert. Den Studierenden ruft er zu: „Lassen Sie sich in ihren Ideen nicht demotivieren“.

Auch die Nachbarn aus der Tucholskystrasse wollen Konzepte für die Be- und AnwohnerInnen entwickeln, wie sie in einem offenen Brief schreiben, und zwar schon „seit mehr als einem Jahr“  – ihr Ziel: die „unhaltbaren und zum Teil menschenunwürdigen Unterbringungszustände“ in der Reihersiedlung zu beenden. Wobei die BewohnerInnen ihre Häuser durchaus nicht  menschenunwürdig finden. Von der Zeitschrift der Straße danach gefragt, antwortete eine von ihnen: „Gar nicht! Die kennen das nicht, und die haben auch einen ganz anderen Lebensstandard als unsereiner“.

Die Nachbarn fürchten, dass die Vonovia neue Leute in die leer stehenden Schlichtbauten ziehen lässt, etwa durch Zuzüge aus den beiden anderen Schlichtbau-Siedlungen der Vonovia, deren Abriss schon fest steht. „Die Strategie, sozial schwierig zu integrierende Menschen über Stadteilgrenzen hinweg zu gettoisieren um andere Bremer Immobilien der Vonovia aufzuwerten, verschärft das soziale und materielle Problem für den Stadtteil Oslebshauen“, schreiben die NachbarInnen, die beklagen, dass der Wohnungsbau-Konzern sie „abblockt“. Zugleich betonen sie, dass sie die derzeitigen BewohnerInnen der Reihersiedlung „nicht wegsiedeln“ wollten. Eine Sanierung der Schlichtbauten macht aus ihrer Sicht indes „keinen Sinn“.

Die Vonovia wolle sich zwar „langfristig“ von der Reihersiedlung trennen, erklärte ein Unternehmenssprecher auf Nachfrage – das wollte der Wohnungsbaukonzern aber auch schon vor einem Jahr. Man sei „im Gespräch“ und führe Verhandlungen, habe aber „noch keinen passenden Partner“ gefunden, heißt es. In Eile ist die Vonovia nicht, vielmehr will sie sich zunächst um ihre beiden anderen Schlichtbau-Siedlungen in Bremen kümmern, die Neubauten weichen müssen. Ein Abriss der Reihersiedlung sei nicht geplant, so die Vonovia, weitere Zuzüge aber auch nicht. Es bleibt also alles offen.

Die Ausstellung ist bis 28. Februar in der Stadteilbibliothek West (Lindenhofstraße 53) zu sehen.

Text & Fotos: Jan Zier