Was haben sich die Planer wohl dabei gedacht, als sie dem damaligen Neubauviertel im Bremer Osten so viele Schweizer Straßennamen verpassten? 25 sind es, wenn wir uns nicht verzählt haben. Aber warum nur? Die Gegend ist flach wie sonst auch in der Norddeutschen Tiefeebene, und statt des Rufs der Berge vernimmt man das Rauschen der Autobahn. Was den Wohlstand angeht, ist das Quartier auch eher eine Anti-Schweiz: Jeder vierte Einwohner bezieht Hartz IV, von den Kindern sogar jedes zweite.
Das Schweizer Viertel galt lang als sozialer Brennpunkt, nicht umsonst hat es von der Stadt einen Quartiersmanager an die Seite gestellt bekommen. Seither sind nicht alle Probleme verschwunden, aber wir haben bei unseren Recherchen viele Menschen kennengelernt, die für ihr Viertel brennen und es voranbringen wollen. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Albert-Einstein-Oberschule beispielsweise, die es schaffen, ihren Jugendlichen die Prinzipien der Demokratie zu vermitteln, obwohl manche kaum auf liniertem Papier schreiben können (Seite 20).
Oder Christa Brämsmann, die in Tenever ein Mütterzentrum aufgebaut hat, das Frauen fördert und mittlerweile 75 Angestellte hat. (Seite 12). Mirko Eggers und Yannick Rath sorgen für Gerechtigkeit auf Bremens Fußballplätzen – warum sie gern Schiedsrichter sind, erzählen sie auf Seite 24. Wie aus Ozan Keskin, der mit drei Jahren aus der Türkei nach Bremen gekommen war, ein Tubist wurde, ist eine längere Geschichte, aber dafür eine großartige. Die Bremer Kammerphilharmoniker und die Gesamtschule Bremen-Ost spielen darin eine tragende Rolle (Seite 8).
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Philipp Jarke, Jan Zier und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
08 Jenseits des Rampenlichts
Wie die Gesamtschule Bremen-Ost aus Ozan Keskin einen Tubisten machte
12 Mit Leib und Seele
Christa Brämsmann vom Mütterzentrum Tenever: ein Interview
14 Ein Tag im Café
Bildstrecke
20 Wahrheit und Schönschreiben
Besuch in einer Oberschule, wo sie in Klassenräten Demokratie lernen
24 90 Minuten Chef
Ein Versuch zu verstehen,warum man Schiedsrichter wird
26 Little Poland
Ein Lebensmittelgeschäft versorgt polnischstämmige Bremer mit Kulinarischem aus der Heimat
#57 SCHWEIZER VIERTEL – Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen und wurden Freundinnen. Derzeit verkaufen sie gemeinsam die Zeitschrift der Straße
Angela und Sandra sind auch heute zusammen auf dem Weg zum Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße. Ein guter Tag, die Sonne scheint, die Menschen sind gut drauf. Die beiden Freundinnen auch, sie lachen, als sie zur Tür hereinkommen. Von Montag bis Freitag, immer zwischen zehn und halb elf, kaufen Angela und Sandra ihre Zeitschriften. Sie begrüßen mich, holen mich ab. Sandra kauft morgens gerne sechs oder sieben Zeitschriften und nachmittags nochmal ein oder zwei. Angela ist mit ein oder zwei Zeitschriften unterwegs und kauft neue, sobald ihre verkauft sind.
Zusammen geht’s nach draußen. Heute früh waren sie schon zwei Stunden unterwegs und haben verkauft. Angela und Sandra haben keinen festen Platz, sie bewegen sich gern und halten sich meist in der Nähe des Hauptbahnhofes auf, ab und zu geht es in die Innenstadt. Sie sind bei jedem Wetter draußen. An diesem kalten Februartag tragen sie je zwei Hosen und drei Pullover. Angela verkauft seit Dezember, Sandra seit Ende Januar.
Kennengelernt haben sie sich in ihrer Notunterkunft. Sandra und ihr Freund hatten eine Wohnung, in der es einen Wasserschaden gab. Sie mussten die Wohnung bis auf Weiteres verlassen. Etwas verloren wandten sie sich ans Amt, von dort wurden sie in die Notunterkunft geschickt. Dort sind sie zusammen untergebracht, in einem Vierbettzimmer. Sandra würde gern wieder mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung ziehen. Angela hatte Sandra von der Zeitschrift der Straße erzählt, nachdem diese ihr anvertraut hatte, dass sie von ihrem Hartz-IV-Regelsatz nur 280 Euro bekommt, weil sie noch ein Darlehen abbezahlen muss.
Sandra kommt aus Ostfriesland, aus Aurich. Dort machte sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin. Doch immer wieder auftretende Schmerzen bringen sie ins Krankenhaus. Sandra hat Endometriose, hier wächst ein gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe nicht nur in der Gebärmutterhöhle, sondern auch an Stellen, wo es eigentlich nicht hingehört. Diese Krankheit bringt sie für längere Zeit ins Krankenhaus.
Nachdem sie für vier Wochen krankgeschrieben war, riet ihr ein Berufsschullehrer, die Ausbildung abzubrechen, weil sie den versäumten Stoff nicht aufholen könne. Traurig erzählt sie von ihrer Gebärmuttererkrankung, die mit starken Schmerzen während der Menstruation einhergeht. Dann kam noch die Nachricht der Ärzte, die ihr sagten, ihre Chance, schwanger werden zu können, betrage nur noch 20 Prozent. Sie hätte so gern Kinder!
Sandra achtet auf ihr Äußeres. „Wer obdachlos ist, muss nicht obdachlos aussehen!“, findet sie. (Foto: Petra Kettler)
Wie Angela. Schüchtern erzählt Angela von ihren Kindern. Sie sind 16, 13 und 11 und leben bei der Großmutter. Angela selbst ist in Köln aufgewachsen. Nach Bremen kam sie, weil sie zu Hause häusliche Gewalt erlebte. Sehr distanziert und neutral spricht sie über ihre Situation, sie gibt wenig preis über sich. Mit dem Vater ihrer Kinder war sie 14 Jahre lang verheiratet. Ihre Tante vermittelte ihr einen Job als Reinigungskraft. Als sie schwanger wurde, wurde es schwieriger für sie zu arbeiten.
Eine Ausbildung hat sie nicht. Sie schmunzelt, als sie auf Kölsch sagt, sie sei ja „schließlich Hausfrau und Mutter“ gewesen. Sie vermisst ihre Kinder sehr, telefoniert fast täglich mit ihnen. Besuchen konnte sie ihre Kinder nicht, dafür reichte das Geld nicht. Sie bekommt Hartz IV und verkauft die Zeitschrift der Straße, viel bleibt da nicht übrig.
Während sie erzählt, fällt ihr eine Geschichte aus einem Frauenhaus ein. Dort kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einer anderen Mutter. Angela spricht wieder distanziert, lässt nur vorsichtig durchblicken, dass es für sie schwer ist zu sehen, wenn Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Die Situation ging übel aus. Besonders für Angela: Sie flog raus. Es gibt eine kurze Gesprächspause.
Sandra übernimmt das Reden. Das Verkaufen der Zeitschrift der Straße ist für sie ein spannender Job. Sie mag es, dabei in Gespräche verwickelt zu werden. Freundlich zu bleiben fällt ihnen aber nicht immer leicht, etwa, wenn sie beleidigt werden. Sandra erzählt, wenn jemand sie abwertend anguckt und dann sagt: „Warum gehst du nicht anschaffen?“ oder: „Wie eine Obdachlose siehst du aber nicht aus“, fehlen ihr im ersten Moment die Worte. Hier hilft es, dass die Freundinnen sich stündlich für eine Zigarettenpause treffen und reden. Die Beleidigungen sind dann vergessen.
Für Angela geht es bald wieder zurück nach Köln zu ihren Kindern. Mit ihrem Ex-Mann hat sie keinen Kontakt mehr. Sie fühlt sich bereit zurückzufahren. Ohne Angst.
Wenn Sie schon einmal mit dem Zug nach Bremen gefahren sind, sagen wir, aus Oldenburg, haben Sie sie bestimmt auch schon mal gesehen. Die Obdachlosen, die am alten Bahnsteig des Güterbahnhofs wohnen. Und sich gefragt, wer diese Menschen wohl sind und warum sie ausgerechnet hier wohnen. Wir haben sie besucht und ein paar von ihnen näher kennengelernt, vor allem Wolle, der Ihnen schon auf dem Titelbild begegnet ist. Alles Weitere lesen Sie dann ab Seite 8.
Früher wäre einer wie Wolle noch nebenan im Papageienhaus untergekommen, aber das steht ja jetzt auch schon gut zwei Jahre leer – seit man, nicht zu Unrecht, von der zentralen Unterbringung von suchtkranken und wohnungslosen Menschen abgekommen ist. Was aus dem Haus jetzt wird? Rote und Grüne haben da verschiedene, widerstreitende Ideen (Seite 24).
Eine von ihnen hat mit KünstlerInnen zu tun, naheliegenderweise, denn davon gibt es hier am Güterbahnhof ja eine ganze Menge. Meistens arbeiten sie hier im Verborgenen, in ihren Ateliers, aber ein paar von ihnen durften wir dort besuchen (Seite 14). Und auch Daniel Keßler hat uns zu sich eingeladen – das ist einer von denen, die hier in der Wagenburg „Querlenker“ wohnen (Seite 20).
Vielleicht sind Sie aber auch mit dem Auto gekommen, nicht mit dem Zug, und haben es auf der Suche nach einem günstigen Parkplatz am Güterbahnhof stehen gelassen. Wer ist dieser Mensch, der da immer schon auf Sie wartet und Sie mit einem „Zweifünfzig, bitte“ empfängt? Wir stellen Ihnen Felix Ganser auf Seite 12 vor.
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Jan Zier, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
#56 GÜTERBAHNHOF: Wer das Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof besucht, trifft dort auf viele Geschichten. Nicht jeder hier nimmt Hilfe in Anspruch
Wenn „Baby“ vom Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof spricht, wird er sentimental. „Es ist eine Gemeinschaft“ sagt er. „Am Tag passt immer jemand auf deine Sachen auf.“ Und alle achten sie auf die Arzt- und Ämtertermine der anderen, sagt Baby. Er hat den seinen heute trotzdem verpasst. Stattdessen sitzt er jetzt, wie immer morgens um zehn, mit einem Kaffee bei den Streetworkern der Inneren Mission, vor dem Hauptbahnhof. Es ist beißend kalt. Baby, – mittlerweile Anfang 40 – kleckert wieder und wieder auf seine schwarze Hose, ärgert sich, um im nächsten Moment wieder neckisch zu grinsen. Und einen seiner Freunde aufzuziehen.
Zwei Jahre lebte Baby am Güterbahnhof, zwei Mal fiel er ins Koma. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. Er braucht eine Hüft-Operation, doch wegen einer starken Entzündung im Körper wollen ihn die Ärzte nicht operieren. „Sie haben gesagt, er soll sich auskurieren und haben ihn einfach wieder auf Straße gesetzt“, erzählt der Streetworker Jonas Pot d’Or von der Inneren Mission. Immerhin schläft Baby jetzt in einer Notunterkunft, nicht mehr am Güterbahnhof. Dennoch soll er heute mein Türöffner zum Nachtlager am Güterbahnhof sein.
Baby schaut mich nicht an. Stattdessen unterbricht er seinen redseligen Freund „Opa“, 59, den er auch vom Güterbahnhof kennt, mit Sticheleien oder einem liebevollen „Halt die Fresse“. Baby ist fürsorglich, vielleicht weil er lange Punk war und zwei Kinder hat. Kaum krame ich nach einem neuen Kugelschreiber, zückt er schon einen.
„Wir müssen los“, sagt er schließlich und rollt mit kurzen und kräftigen Armbewegungen voran. Der Schnürsenkel seines Sneakers schleift er hinter sich her. Er kämpft kurz mit der Fußgängerführung an den Schienen, dann rollt er über den Bahnübergang, durch den Schlamm, auf die Platte zu.
Etwa 13 Leute wohnen hier derzeit, aber gerade sind nur vier von ihnen da. Einer werkelt an einem Kocher, um ihn herum ein Ring aus Plastikresten. Baby kennt ihn, spricht sanft mit ihm, und lange. Obwohl er die wichtigste Regel hier bricht: Kein Müll! Die hat Baby noch mit den Künstlern vom Güterbahnhof ausgehandelt. Der Hinterausgang der Flamenco-Schule soll immer frei sein, aber auch dort hat nun jemand sein Lager aufgeschlagen. „Wenn jemand Ärger macht, habe ich ihn weggeschickt“, sagt Baby. Jetzt wollen die Künstler die Obdachlosen weg haben, sagt er.
Wir treffen „Wolle“ (Foto oben), der in seiner Sitzecke gerade ein junges Pärchen zu Gast hat. „In zwei Tagen müssen wir aus unserer Wohnung raus. Vielleicht kommen wir dann hier her“, sagt die Frau, sie mag vielleicht Anfang 20 sein. Sie ist heroinabhängig, er auch, und beide warten sie auf einen Platz im Substitutions-Programm.
Auch Wolle ist suchtkrank. Seit fünf Monaten macht er Platte. Für Streetworker und Beratungsstellen ist er nur schwer erreichbar. Jonas Pot D´Or sieht ihn nur gelegentlich, wenn er kostenloses Frühstück ausgibt. Dass Wolle mal eine Wohnung gesucht hätte, daran können sich weder der Streetworker noch Baby erinnern. Wolle selbst sagt, er hätte mal nach einer geschaut. „Aber die Wohnungen sind draußen in Blumenthal“, sagt er. Also zu weit weg vom Hauptbahnhof. Seinem Lebensmittelpunkt.
Auch die Streetworker der Inneren Mission und die CDU-Sozialpolitikerin Sigrid Grönert klagen über den Mangel an bezahlbarem Wohnungraum in der Innenstadt. „Es muss mehr Wohnungen geben – quer durch die Stadt verstreut“, sagt Grönert.
Habseligkeiten und Nachtlager am Bremer Güterbahnhof
Warum Wolle unbedingt am Hauptbahnhof bleiben will, erfahre ich, als ich ihn eine Woche später wieder treffe. Die Sonne scheint und Wolle ist gerade im Substitutions-Programm, also im Heroinentzug. „Das ist für mich stressfreier. Eine Dosis am Morgen, dann habe ich Ruhe“, sagt er. Er sitzt allein, im Schaukelstuhl, vor einem selbstgebauten Zelt aus Filzdecken. Am Hauptbahnhof will er weiter schnorren. Selbst wenn er eine Wohnung hätte. Das Geld braucht er, zusätzlich zu Hartz IV, für seine Drogen. Denn auf Kokain und Marihuana will er nicht verzichten.
Für jemand wie Sigrid Grönert ist das schwer verständlich. Doch für Wolle sind Drogen ein ständiger Begleiter, eine Konstante in seinem Leben. Schon mit zwölf hat er angefangen zu kiffen. Damals war er schon drei Jahre im Kinderheim, nach der Schule musste er Torf stechen, abends fiel er todmüde ins Bett. Aber mit den Drogen lief es erstmal richtig gut für Wolle. Er machte seinen Schulabschluss, danach eine Ausbildung zum Schweißer. Er arbeitete, zog mit seiner Freundin zusammen und bekam mit ihr zwei Söhne.
Dann kam das, was in der Forschung zur Obdachlosigkeit ein „Auslöser“ genannt wird: Wolles Frau stirbt. Unerwartet. Er ertränkt seinen Schmerz im Alkohol, auch wenn er Auto fährt. Am Ende muss er für dreieinhalb Jahre in den Knast. Als er wieder frei kommt, will er nicht in die alte, gemeinsame Wohnung zurück.
Also wurde Wolle obdachlos. Heute ist er 47 Jahre alt und sieht seine Söhne regelmäßig, sie sind beide Anfang 20. Der Ältere bekommt gerade sein erstes Kind. Unterkommen will Wolle bei ihnen nicht, obwohl sie es ihrem Vater schon mehrmals angeboten haben. „Die haben mit sich selbst zu tun“, sagt Wolle. Dafür unterstützt er sie. 200 Euro gebe er ihnen monatlich, behauptet Wolle. Er bekomme 1.000 Euro Arbeitslosengeld, sagt er. Für Jonas Pot d´Or ist das schwer vorstellbar. In der Regel bekämen Obdachlose nur den Hartz IV-Satz, also knapp 400 Euro monatlich.
Während Wolle erzählt, schläft nur einen Meter weiter ein junger Pole vor der Flamenco-Schule. Er rührt sich kein einziges Mal in seinem dünnen grünen Schlafsack. „Er kann kein Deutsch. Meistens schimpft er auf Polnisch und provoziert“, sagt Wolle. Manchmal werde der junge Pole auch aggressiv. Keiner kennt die Geschichte des Polen, weil niemand ihn versteht.
Wie für den Polen ist der Güterbahnhof für viele Obdachlose der erste Anlaufpunkt, manchmal auch nur für eine Nacht. In dem gesamten Areal schlafen schätzungsweise 90 Personen, sagt Bernd Schneider, der Sprecher des Sozialressorts, aber nicht alle auf dem alten Bahnsteig, so wie Wolle. Baby beispielsweise zeltete zunächst neben dem Gärtnereibetrieb, für den er damals arbeitete. Mittlerweile übernachten auch viele Rumänen am Güterbahnhof, sagt Baby. Aber auf dem Bahnsteig „wollte die keiner haben“. Sie hätten alles geklaut und Probleme gemacht. Und so endet bei den Rumänen auch die beschworene Solidarität.
Stimmen die Schätzungen des Sozialressorts, dann schlafen knapp 18% der rund 500 Wohnungslosen in Bremen hier am Güterbahnhof. Dabei hat jede, jeder mit einem deutschen Pass hierzulande auch einen Anspruch auf ein Dach über dem Kopf. Und der wird meistens auch gewährt: Die Menschen kommen dann in Notunterkünften, angemieteten Hotels oder Pensionen unter. Doch erschwingliche Wohnungen sind knapp. Jonas Pot D´Or sagt, dass es heute schon mal zwei Jahre dauern könne, bis er zusammen mit einem Obdachlosen eine Wohnung finde.
Lösen will die Stadt das Problem mit einer Quote: Wird neues Baurecht geschaffen, so darf ein Viertel der Wohnungen maximal 6,50 Euro pro Quadratmeter kosten – jedenfalls wenn in einem mehrgeschossigen Haus mehr als 20 Wohneinheiten entstehen. Ein Fünftel dieser Wohnungen wiederum soll Obdachlosen zur Verfügung stehen. 2016 und 2017 waren das Schneider zufolge rund 120.
Baby findet ja, die leeren Container – in denen einst Geflüchtete unterkamen – könnten schnelle Abhilfe schaffen. Peter Erlanson, Sozialpolitiker der Linkspartei, findet das auch. „So hätten Wohnungslose einen sicheren Rückzugsort“, sagt Erlanson. Darüber hinaus hält er Reformen des Arbeitsmarkts für nötig, um Obdachlosigkeit, die durch prekäre Arbeitsverhältnisse ausgelöst wird, zu verhindern. „Man müsste gerade im Niedriglohnsektor viel mehr Regulierungen schaffen“, sagt Erlanson. Beispielsweise sollten Unternehmen stärker kontrolliert werden. Baby und Opa hätte das vielleicht geholfen: Beide wurden ohne Vorankündigung entlassen, sagen sie – und landeten hernach am Güterbahnhof. Beide versuchen, wieder eine Wohnung zu bekommen, mit Hilfe der Streetworker.
Wolle sucht solche Unterstützung nicht. Zwei Wochen nach unserem ersten Gespräch ist er nicht mehr aufzufinden. Vor dem Hauptbahnhof treffe ich Baby. Ihm geht es schlecht. „Das Bein muss ab“, hat er heute von den Ärzten erfahren. Die Entzündung sei zu weit fortgeschritten. „Ich hatte das Gleiche“, meldet sich ein Bekannter von Baby zu Wort. Er sitzt auch im Rollstuhl und hat keine Beine mehr.
Auch Baby wartet auf Wolle. Der soll für ihn etwas vom Aldi mitbringen. Nach ein paar Sprüchen wird er ernst: „Seit Wolle da ist, ist es scheiße auf der Platte“, sagt Baby. Wolle kümmere sich nicht um seinen Müll. Darüber, dass Wolle im Substitutions-Programm sein soll, lacht Baby nur hämisch: „Ich bin da auch – und gesehen habe ich ihn da noch nie“. Wer rückfällig werde, habe keine ernstzunehmenden Konsequenzen zu befürchten, sagt Baby. „Vielleicht gibts mal einen Tag kein Substitut.“
Um uns herum hat sich derweil eine Menschentraube gebildet. Ein Typ mit polnischem Akzent zeigt mir seine Zugtickets nach Lübeck, eine Frau mit winzigem Hund fragt, was ich kaufen wolle. Eine vielleicht 16-jährige mit schwarzer Kleidung und Wunden auf der Nase sagt: „Hab heute keinen Bock zu schnorren“. Schließlich verschwindet Baby im Getümmel der Bahnhofshalle. „Die letzten Tage ist Wolle nur weg mit seinen scheiß Drogen“, sagt einer der anderen Männer, „und ich sag ihm noch: Wolle, Du gibst dich selber auf“. Er schüttelt den Kopf. Jonas Pot d’Or kennt das Problem: „Die Rückfallgefahr ist sehr hoch bei Leuten, die auf der Straße bleiben.“ Parallel zur Substitution müsse meistens schon die Wohnungssuche ins Rollen gebracht werden, sonst seien die Erfolgsaussichten sehr schlecht.
Wolle ist an diesem Tag nicht wiedergekommen. Baby schon. Plötzlich erscheint er wieder und stellt sich in einiger Entfernung von mir auf. Er wartet, vielleicht zögert er. Dann rollt Baby zügig in Richtung Güterbahnhof. Opa folgt ihm.
Nachdem sie in der Zeitschrift der Straße von der Reihersiedlung gelesen hatten, entwickelten Studierende aus Oldenburg eigene Konzepte für die Schlichtbauten
Viele Menschen machen sich derzeit Gedanken über die Zukunft der Reihersiedlung, einem Ensemble von Schlichtbauten in Bremen-Oslebshausen. Nur die Vonovia nicht so richtig – der sie aber gehören. Nachdem die Zeitschrift der Straße der Reihersiedlung im vergangenen April eine eigene Ausgabe gewidmet hatte, haben nun zehn studentische Teams der Jade-Hochschule aus Oldenburg städtebauliche Entwürfe zur Zukunft der Siedlung entwickelt: ein Lernprojekt bringt ein Lernprojekt hervor. Die Ergebnisse sind bis Ende Februar in der Stadtteilbibliothek West in Gröpelingen zu sehen.
„Es geht nicht darum, Lösungen zu finden“, sagt Hartmut Stechow, Professor für Städtebau an der Jade-Hochschule, der für seine Studierenden einen professionellen Wettbewerb mit Fachjury und Geldpreisen organisiert hatte. Er will Ideen für soziale Stadtentwicklung ausarbeiten. In der Reihersiedlung gab es ursprünglich 52 Wohnungen, doch ein Großteil steht mittlerweile leer. Wer hier noch in einem der Häuschen lebt, hat noch einen Holzofen, dafür zahlt er für knapp 40 Quadratmeter aber auch nur 170 Euro Kaltmiete. Die BewohnerInnen haben allesamt nur wenig Geld zum Leben, sind aber auch mit wenig Komfort zufrieden. Der Politik gelten sie zumeist als „nicht geschosswohnungsfähig“ und eine Sanierung ihrer Häuschen der Vonovia als „wirtschaftlich nicht darstellbar“. Noch immer ist Zukunft der Reihersiedlung offen – obwohl auch im Bremer Westen mancher in den vergangenen Monaten Pläne für sie gemacht hat. Keiner von ihnen wurde bisher umgesetzt. Für die Studierenden bedeute das, sie könnten „offener und leidenschaftlicher“ planen, so Stechow, zugleich sei ihr Lernprojekt „nicht so abstrakt“. Es ist die Chance, sich eine realitätsnahe Utopie auszudenken – und das schon im 5. Semester, im allerersten städtebaulichen Entwurf des Studiums.
Den meisten Entwürfen ist gemein, dass sie jedenfalls einen Teil der bestehenden Häuser erhalten wollen und Wohnungen nicht nur für die aktuellen BewohnerInnen, sondern auch für SeniorInnen, Studierende, Familien und Wohngemeinschaften bauen wollen. In der Regel wird niedrig und flach gebaut, ein Entwurf plant eine „Wasserstadt“, denn: „Wer am Wasser lebt, ist glücklicher“. Dazu gibt es stets allerlei Gemeinschaftsanlagen, mal mehr, mal weniger Grün, dazu Raum für Gewerbe – und oft sehr viel Parkplätze, obwohl kaum einer der derzeitigen BewohnerInnen ein Auto hat.
Gewonnen hat den Wettbewerb ein Entwurf von Kim-Nadine Bahr, Leah Weimer und Fabian Fritsche, der als einziger eher hoch- als städtebaulich denkt. Er plant mit 44 Wohneinheiten in „ortstypischem Klinker“ – 28 Einzelappartments mit je 42 Quadratmetern, dazu acht Häusern für WGs, die doppelt so groß sind sowie für Familien, die vier Mal so groß sind. Es gibt verkehrsberuhigte Bereiche und hinten, an der Bahn, etwas Platz für Gewerbe – Werkstätten, einzelne Büros, Werkstätten. Auf Platz zwei rangiert das Konzept „Gemeinschaft durch Grün“, das neben 56 Wohnungen für unterschiedliches Klientel auch Gewächshäuser, Gemüsebeete und Obstgärten für die Selbstversorgung vorsieht, aber auch einen Grillplatz, Outdoor-Fitnessanlagen und selbst organisiertes Café. Auch hier bliebe ein Teil der derzeitigen Schlichtbauten bestehen. Im drittplazierten Entwurf gibt es neben den Wohn-Appartments einen Tante-Emma-Laden, eine Bäckerei, eine Kita und einen Arzt, dazu Raum für Gemeinschschaft und für Sport. Und wer mehr Lärm abbekommt, weil er näher an der Bahn wohnt, bekommt dafür besseren Lärmschutz, so die Idee. „Die Menschen dort haben keine hohen Ansprüche“, sagt eine der Studentinnen, „aber sie fühlen sich nicht als Teil der Gemeinschaft“. Mit Hilfe von besserer Infrastruktur wollen sie die BewohnerInnen integrieren, aber auch neue anlocken.
Leah Weimer vom Gewinnerteam mit Bau-Unternehmer Thomas Stefes
Mit zur Jury gehörte auch der Bau-Unternehmer und Projektentwickler Thomas Stefes, der die Reihersiedlung selbst „komplettsanieren“ wollte, wie er sagt. Es sollte „keine Luxussanierung“ werden, aber die Häuser energetisch und bauphysikalisch „auf die Höhe der Zeit“ bringen, wie er sagt. Er wollte „den Menschen eine Chance geben“, sagt er – und kalkulierte nach eigenen Angaben mit Mieten von fünf bis sechs Eure pro Quadratmeter. Das ist zumindest weniger als jene 6,50 Euro, die üblicherweise für Sozialwohnungen gelten. Seine Idee, sagt Stefes, sei aber am Widerstand der Vonovia gescheitert. Den Studierenden ruft er zu: „Lassen Sie sich in ihren Ideen nicht demotivieren“.
Auch die Nachbarn aus der Tucholskystrasse wollen Konzepte für die Be- und AnwohnerInnen entwickeln, wie sie in einem offenen Brief schreiben, und zwar schon „seit mehr als einem Jahr“ – ihr Ziel: die „unhaltbaren und zum Teil menschenunwürdigen Unterbringungszustände“ in der Reihersiedlung zu beenden. Wobei die BewohnerInnen ihre Häuser durchaus nicht menschenunwürdig finden. Von der Zeitschrift der Straße danach gefragt, antwortete eine von ihnen: „Gar nicht! Die kennen das nicht, und die haben auch einen ganz anderen Lebensstandard als unsereiner“.
Die Nachbarn fürchten, dass die Vonovia neue Leute in die leer stehenden Schlichtbauten ziehen lässt, etwa durch Zuzüge aus den beiden anderen Schlichtbau-Siedlungen der Vonovia, deren Abriss schon fest steht. „Die Strategie, sozial schwierig zu integrierende Menschen über Stadteilgrenzen hinweg zu gettoisieren um andere Bremer Immobilien der Vonovia aufzuwerten, verschärft das soziale und materielle Problem für den Stadtteil Oslebshauen“, schreiben die NachbarInnen, die beklagen, dass der Wohnungsbau-Konzern sie „abblockt“. Zugleich betonen sie, dass sie die derzeitigen BewohnerInnen der Reihersiedlung „nicht wegsiedeln“ wollten. Eine Sanierung der Schlichtbauten macht aus ihrer Sicht indes „keinen Sinn“.
Die Vonovia wolle sich zwar „langfristig“ von der Reihersiedlung trennen, erklärte ein Unternehmenssprecher auf Nachfrage – das wollte der Wohnungsbaukonzern aber auch schon vor einem Jahr. Man sei „im Gespräch“ und führe Verhandlungen, habe aber „noch keinen passenden Partner“ gefunden, heißt es. In Eile ist die Vonovia nicht, vielmehr will sie sich zunächst um ihre beiden anderen Schlichtbau-Siedlungen in Bremen kümmern, die Neubauten weichen müssen. Ein Abriss der Reihersiedlung sei nicht geplant, so die Vonovia, weitere Zuzüge aber auch nicht. Es bleibt also alles offen.
Die Ausstellung ist bis 28. Februar in der Stadteilbibliothek West (Lindenhofstraße 53) zu sehen.
#55 PAPPELSTRASSE: Die Pappelstraße ist ein Hotspot des Glücksspiels. Und die Branche lebt gut von der Sucht. Eine Annäherung im Selbstversuch
Samstagnacht, Tequila-Bar, Werder hat gewonnen. Durch Schwaden von Nikotin, an vielen Menschen vorbei, fällt mein Blick auf diese lachende Sonne. Sie zwinkert mich an. Die Animation wechselt, „Eye of Horus“ leuchtet in goldener Schrift. Ich habe einige Bier intus, dazu einen Jägermeister; meine Freunde sind schon gegangen. Ich denke an mein Portemonnaie, versuche, mich an das Kleingeld zu erinnern. Zwei Euro waren es, vielleicht drei. In Gedanken habe ich die Münzen schon in meinen Fingern, sehe meine Hand zum Einwurf wandern. Woher kommt dieses Verlangen, diese unheimliche Anziehungskraft der Glücksspielautomaten?
Münze um Münze, Schein um Schein frisst der Automat das Geld – um einige, wenige Glücksmomente zu erschaffen. Dutzende dieser Maschinen finden sich an der Pappelstraße, verborgen in Räumen, die weder Nacht noch Tag kennen. Spielotheken haben weder Fenster noch Uhren und Getränke gibt es frei Haus. Es läuft keine Musik, nicht einmal Radio. Das Klimpern der Automaten kreiert eine ganz eigene Melodie. Auch das ist die Pappelstraße: ein Hotspot des Glücksspiels. Zwei Spielotheken finden sich hier, zwei weitere nur einen Katzensprung entfernt.
Karls Geschichte und die Sucht nach den Automaten
Will man verstehen, welche Dimensionen dieses Glücksspiel hierzulande hat, lohnt ein Blick in das „Jahrbuch Sucht“, das die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen jährlich herausgibt: 2015 wurden deutsche Geldspielautomaten mit 25 Milliarden Euro gefüttert. Zieht man die Auszahlungen der Gewinne ab, bleibt am Ende immer noch ein Bruttospielertrag von 5,8 Milliarden. Zum Vergleich: Die 18 Clubs der ersten Fußball-Bundesliga erwirtschafteten in der Saison 2015/2016 gemeinsam einen Umsatz von gerade einmal 3,2 Milliarden Euro.
„Die Sucht ist nur eine Armlänge entfernt“, sagt Karl Schmidt. Er kennt die Sogkraft der leuchtenden Automaten, muss ihr jeden Tag aufs Neue widerstehen. Ich treffe ihn in einer Selbsthilfegruppe, den „Gamblers Anonymus“, im Gemeindezentrum St. Pauli. Karl Schmidt heißt in Wirklichkeit anders, seine Geschichte aber ist real. „Am Hafen hab ich aus Langeweile zum ersten Mal einen Automaten mit zwei Mark gefüttert“, erinnert sich der Rentner. Gut 50 Jahre ist das nun her. „Plötzlich blinkte das Ding und machte viel Lärm, Hafenarbeiter kamen und sagten: ‚Jetzt musst du mehr reinstecken!‘“ Nach einigen Minuten verlässt Karl Schmidt den Automaten mit 160 Mark. „Ich war Auszubildender und hatte meine Ehe gleich mit einem Kind begonnen. Das war viel Geld.“ Das junge Paar feiert ausgelassen.
Vom Bankrott zur Rettung
Was dann folgte, sei die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen. Er verschränkt seine Finger und drückt die Daumen so fest gegeneinander, immer wieder, dass die Kuppen ganz blass werden. „18 Jahre hab ich meine Frau und Kinder belogen. Wie oft saß ich im Auto, nur um mich an die letzte Ausrede zu erinnern, damit die Geschichten zusammenpassen“, sagt Schmidt. Er spielt bis zum Bankrott und darüber hinaus, nimmt Kredite bei mehreren Banken auf, wird kriminell. Seine Situation wird immer verzweifelter. „Einen Samstag schickt mich meine Frau zum Brötchenholen, aber ich wusste überhaupt nicht, woher ich das Geld nehmen sollte.“
Durch eine Radiosendung wird er auf eine Selbsthilfegruppe aufmerksam. „Ich hab mir gesagt, entweder ich geh da jetzt hin, oder ich fahr gegen ne Brücke.“ Er schafft den Schritt in die Gruppe, sie wird zu seiner Rettung. Nun ist er gut 30 Jahre „trocken“. Wie Alkoholiker beschreiben auch Spieler mit diesem Wort ihre Zeit ohne Suchtmittel.
Die Zahlen hinter der Automatenabhängigkeit
Mediziner bezeichnen Karl Schmidt als „pathologische Spieler“, als Menschen mit krankhaftem Suchtverhalten. In Studien wird oft auch die Kategorie „problematisches Spielverhalten“ angeführt. Diese Spieler gelten noch nicht als süchtig, aber als stark gefährdet. Eine repräsentative Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2016 ergab, dass 0,8 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen zumindest ein problematisches Spielverhalten haben. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl der Stadt Bremen bedeutet das: Hier leben etwa 4.400 Menschen, die durch Glücksspiel akut suchtgefährdet sind.
Ein bundesweit gefragter Experte zu diesem Thema ist Professor Gerhard Meyer, der Leiter der Bremer Fachstelle Glücksspielsucht an der Universität Bremen. Er kann die Suchtgefahr, die von Geldspielautomaten ausgeht, noch mit einer weiteren Zahl untermauern. „Wir wissen aus einer Studie der BZgA aus dem Jahr 2015, dass 13 Prozent der Automatenspieler zumindest ein problematisches Spielverhalten zeigen. Beim Lotto waren es hingegen nur 1,9 Prozent.“ Ursache sei die schnelle Abfolge der Spielvorgänge. Während der Lottospieler ein oder zwei Mal pro Woche spiele, werde der Automatenspieler im Sekundentakt mit Gewinn und Verlust konfrontiert. So entstehe ein höheres Suchtpotenzial.
Sabine Winter und die versteckten Profite der Sucht
Im „Jahrbuch Sucht“ zieht Meyer eine Verbindung zwischen den hohen Umsätzen der Branche und dem hohen Suchtpotenzial. 80 Prozent des Umsatzes an Geldspielgeräten käme aus den Taschen von Süchtigen, die „den Kern des Geschäftsmodells“ darstellten. Er verweist auf die hohen Schulden der pathologischen Spieler. Unter jenen, die sich 2015 in ambulante Behandlung begaben, waren 16,1 Prozent mit 25.000 Euro oder mehr verschuldet. „Es stellt sich die Frage, ob das Geschäftsmodell der Spielhallen ohne süchtige Spieler überhaupt tragfähig wäre“, sagt Meyer.
Während Meyer das große Ganze im Blick hat, ist Sabine Winter dort, wo die Schulden gemacht werden. Sie arbeitet in einer der vier Spielotheken an der Pappelstraße – Vollzeit, 40 Stunden in der Woche. Dass sie hier nur anonym zitiert wird, ist eine Auflage ihres Chefs. Die Inhaber der Spielotheken, sie sind wie Geister. Nach über einem Dutzend Besuchen in insgesamt sechs Spielhallen ist dies der einzige Funken Offenheit: Sabine Winter darf mit uns sprechen, alles andere soll verschleiert bleiben.
Der leise Lärm des Glücksspiels
In Zeitnot ist die 56-Jährige nicht, als sie es sich auf einem der schwarzen Barhocker bequem macht. In ihrem Rücken spielt eine Stammkundin, ansonsten ist niemand im Laden. Gähnende Leere ist die Regel in dieser Spielhalle – wenn nicht gerade Monatsanfang ist. Auf zahllosen Bildschirmen flimmern die unterschiedlichen Spielvarianten in immer gleichen Animationen. Spieltasten, Münz- und Scheineinwurf schillern in bunten Farben. Ansonsten ist es schummrig bis dunkel, auf einer Skala irgendwo zwischen Kneipe und Disco. „Richtige Spieler meinen, die Automaten zu verstehen“, sagt Winter. „Gleich spuckt er was aus, sagen sie, aber das ist eine Maschine!“
Winter klatscht mit der Hand energisch auf ihr Bein. Dann klimpert der Automat hinter ihr, er will gar nicht mehr aufhören. Ein Schwall an Münzen füllt ein Auffangbecken vor den Füßen der Kundin. Sie hat gewonnen. Doch da ist keine Gefühlsregung, kein Jubeln, kein Aufschrei, gar nichts. Kommentarlos schaufelt die Spielerin die Zwei-Euro-Stücke in eine Art Eisbecher und bringt ihren Gewinn zu Sabine Winter. „Einmal eintauschen?“ Ein kurzes Nicken ersetzt die Antwort. Winter öffnet eine eiserne Klappe neben ihr, die Münzen verschwinden und verwandeln sich in Scheine. 180 Euro. „Bitteschön!“
Thomas Bulmahn über die Spirale der Spielsucht
„Geld, Gewinne – das ist wie eine gute Flasche Wein für einen Alkoholiker“, sagt Thomas Bulmahn. Auch Spieler hätten ein Suchtgedächtnis. Bulmahn ist trockener Spieler. Seit ihn eine Selbsthilfegruppe aus dem letzten Rückfall führte, beteiligt er sich an der Leitung ihrer Treffen, hilft anderen Süchtigen. Der 48-Jährige möchte seine Geschichte unter seinem richtigen Namen erzählen.
Eine Seltenheit, denn viele Süchtige haben große Angst, wiedererkannt zu werden. Auch Bulmahn belog seine Frau, als er vor acht Jahren seinen letzten Rückfall erlebte. „In der Spielhalle bin ich für mich allein und muss niemanden etwas erzählen“, sagt der Vater von drei Kindern. Abtauchen in eine andere Welt, für ein paar Stunden nicht an die vielen Probleme denken, das zog ihn wieder und wieder zu den Automaten. „Egal ob im Beruf oder in der Familie, überall werden Ansprüche an dich gestellt, es entsteht permanenter Leistungsdruck. Die Halle war für mich Erholung.“ Doch der Aufwand, das Spielen geheim zu halten, macht das Leben in der realen Welt noch anstrengender. So steigt der Druck, abgebaut durch die nächste Flucht in die Spielhalle. Ein Teufelskreis entsteht.
Die Suche nach Zugehörigkeit
Aufgewachsen ist Bulmahn in einer Pflegefamilie. „Es war eine gute Familie, aber ich habe mich nie ganz zugehörig gefühlt. Ich war spürbar anders als meine Pflegegeschwister“, erzählt er. So zieht es ihn schon mit 17 Jahren in die erste eigene Wohnung. „Es war ein Lebensstil, den ich mir als Azubi eigentlich gar nicht leisten konnte“, sagt er. Mit Gewinnen aus den Automaten habe er versucht, das auszugleichen. Eine fatale Idee. Vor dem absoluten Kollaps bewahren ihn seine Pflegeeltern. Sie zahlen zur Not die Miete, übernehmen die Verwaltung seiner Finanzen, zahlen Bulmahn ein Taschengeld. Die Schulden habe er mittlerweile zurückgezahlt, betont Bulmahn.
Über 20 Jahre spielt er, mal mehr, mal weniger. Vor acht Jahren zwingt ihn ein dramatischer Rückfall zum Handeln. „Es stand alles auf dem Spiel: Frau, Kinder, Haus, Job. Ich hatte eine Scheißangst, alles zu verlieren“, sagt Bulmahn. Zunächst geht er in eine Suchttherapie, dann in eine mehrwöchige psychosomatische Therapie. „Da wurde ein Riesenfass aufgemacht, das war traumatisch für mich“, erinnert er sich. Doch er nimmt eine Erkenntnis mit: „Es sind tiefer liegende Probleme, die ich mit dem Spielen kompensiere.“
Ein eigener Blick auf den Automaten und die Verlockung des Gewinns
Auch ich habe inzwischen Geld an Automaten verspielt. Acht Euro. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es sich anfühlt, 25.000 Euro Schulden zu haben. Wie es sich anfühlt, derartige Summen zu verspielen. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, zu gewinnen. Ich gehe an den zweiten Automaten. Zwei Euro sind innerhalb weniger Minuten verspielt. Ich werfe noch mal zwei Euro in den Automaten, und, was soll’s, noch einen weiteren Euro hinterher. Ich wähle ein Spiel mit einem Fischer. Egal, ob ägyptischer Gott Horus, eine Hexe aus dem Mittelalter, oder eben ein Fischer, das Prinzip ist immer das Gleiche: Triff möglichst viele gleiche Symbole und du gewinnst etwas. Je „besser“ das Symbol, desto höher der Gewinn. Mäßig unterhalten tippe ich immer wieder die Taste, verspiele in Zehn-Cent-Schritten mein Guthaben.
Der kleine Glücksmoment
Dann blinken mich drei goldene Symbole an. „Sonderspiel“ erscheint auf dem Bildschirm. Eine Melodie schallt mir entgegen. Was ist das? Jackpot? Impulsiv wippen Hände und Kopf im Takt der Musik. Tatsächlich, bei den Sonderspielen sind die Gewinnchancen viel besser. Nach den Extrarunden zeigt mein Zähler einen Gewinn von 2,90 Euro an – bei zehn Cent Einsatz pro Spiel. Wow! In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Hätte ich mit zwei Euro den Maximaleinsatz gewählt, stünden dort nun 58 Euro, der Gegenwert eines sehr guten Abends. Und da geht noch so viel mehr. Sogleich erhöhe ich den Einsatz auf 50 Cent. More risk, more fun!
Es ist dieser kleine Glücksmoment, der sich mit aller Macht in mein Bewusstsein gebohrt hat. All die Tristesse, die diese Automaten umgibt, diese Hürde, die einmal zwischen mir und den Spielotheken war, sie ist verschwunden. Wenige Tage später, in der Tequila-Bar, betrunken und allein, kann ich dieser Erinnerung widerstehen. Diese Teufelswerkzeuge, sie werden mich wohl in Zukunft noch öfter anzwinkern. Und wehe, wenn ich einmal wirklich gewinnen sollte.
Wir stellen uns ja sonst nicht so gerne in den Mittelpunkt, aber jetzt müssen wir es doch ganz schnell loswerden: Wir haben Geburtstag! Im Februar 2011 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift der Straße. In der Zwischenzeit wären wir gleich zweimal fast am Ende gewesen, sind nun mit sieben Jahren aber aus dem Gröbsten raus. Und so haben wir auch schon ein Geschenk bekommen: einen Preis, der uns ganz offiziell zu „Alltagshelden“ ernannte. Was es damit genau auf sich hat, lesen Sie ab Seite 28.
Nun wollen wir aber wieder über andere reden! Von den ChinesInnen etwa, die sich in Sichtweite der Pappelstraße treffen, in der Po Shin Tao Teh Association. Sie haben uns zum Essen eingeladen und in das Innere ihres Tempels vorgelassen, wovon wir ab Seite 24 berichten. Ebenfalls lieber fernab der Öffentlichkeit agieren die SpielerInnen, die in den diversen, hier beheimateten Spielotheken ihr Glück suchen. Bei der mühsamen Recherche gerieten wir am Ende auch selbst in Versuchung: Seite 8. Natürlich ist uns auch nicht entgangen, was sich alles in der Pappelstraße so stadtentwickelt. Von einem beispielhaften Projekt rund um den ehemaligen Atombunker erzählen wir ab Seite 20, während sich die – an unsere Wurzeln in der Kunsthochschule anknüpfende – Bildstrecke ab Seite 14 dem Thema aus anderer Warte nähert.
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Jan Zier, Philipp Jarke
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
08 Wehe, wenn ich wirklich mal gewinne! (online lesen)
Die Pappelstraße ist ein Hotspot des Glücksspiels. Ein Selbstversuch
12 Ein vorbildlicher Charakter
Ein Liebesbrief an die Pappelstraße
14 Zwischen innen und außen
Bildstrecke
20 Hohe Pläne
Wie in einem Hochbunkeraus der Nazizeit Wohnungen entstehen sollen
24 Fleischlos glücklich
Ein Besuch im Tempel einer in China verbotenen Religionsgemeinschaft
28 Kaum zu toppen
2017 war ein großartiges Jahr für die Zeitschrift der Straße
30 Sein Herz, kurz angebunden
Marco Lüder lebt auf der Straße und glaubt weiter an sich
Manchmal geben wir unser Heft aus der Hand – und dann passiert so was: Die Zeitschrift der Straße fährt mit der Straßenbahn durch die Stadt. Aus Huchting über die Neustadt rein ins Zentrum, von dort durch Schwachhausen in die Vahr, raus nach Tenever und von dort weiter bis zum Mahndorfer Bahnhof, wo Bremen schließlich wieder zu Ende ist. Die Idee dazu kommt von Benjamin Eichler, der sich schon länger für die Zeitschrift der Straße engagiert als die beiden Redaktionsleiter. Und weil der Immer-noch-Student vor allem ein Fotograf ist, hat diese – seine – Ausgabe auch viel mehr Fotos, als Sie das sonst von unserem Magazin gewohnt sind.
Dafür können Sie mit ihm zusammen in anderer Leute Betten gucken, gleich morgens um acht (Seite 8). Und warten! Nein, vielmehr: diesen ja eher ungeliebten Zustand erkunden und ein paar Menschen treffen, die an den Haltestellen der Linie 1 stehen, bis die Tram kommt (Seite 10). Die wenigsten von ihnen wollen in die Kirche, dabei bietet sich genau das eigentlich an: Entlang der Linie 1 gibt es sehr viele Häuser unterschiedlicher Götter und Religionen, die Benjamin Eichler besucht hat (Seite 14). Selbstverständlich hat er sich auch die eine und andere Nacht für das Projekt um die Ohren gehauen, mit der werktätigen Bevölkerung entlang der Linie 1 (Seite 22), aber auch in all den Kneipen da, zusammen mit seinen FreundInnen (Seite 26).
Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Philipp Jarke, Jan Zier und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
08 Zeit zum Aufstehen!
Vier BremerInnen zeigen uns ihre zerwühlten Betten
10 Sitting, waiting, wishing
Was tun die Menschen, wenn sie auf die Bahn warten?
14 Glaubensfragen
Die Linie 1 ist das Verkehrsmittel, das zur Erlösung führt
20 „Das unterscheidet sich ganz krass“.
Benjamin Eichler über Perfektionismus, Religion und andere Fragen des Journalismus
22 Nachtmenschen
Ein Besuch bei Menschen, die arbeiten, während andere schlafen
26 Kulturschock nach dem Regenbogen (online lesen)
Zu fünft durch die Kneipen entlang der Linie 1
30 Die Kälte lässt uns nicht kalt
Die Zeitschrift der Straße und die Innere Mission helfen Obdachlosen durch den Winter
Die Zeitschrift der Straße hat am 15. November in Berlin den Deutschen Bürgerpreis 2017 verliehen bekommen, die höchste Auszeichnung in Deutschland für ehrenamtlich engagierte Organisationen! Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gratulierten.
Hatten wir etwas Ähnliches nicht schon im Oktober gepostet? Nicht ganz, denn da hatten wir den Bremer Regionalwettbewerb gewonnen und uns damit für den Bundeswettbewerb qualifiziert. Dessen Jury hat uns nun nach ganz oben aufs Siegertreppchen geschickt und der Zeitschrift der Straße ein Preisgeld von 5000 Euro mit auf den Weg gegeben.
Rund 900 Gäste und Pressevertreter waren in den prachtvoll dekorierten und ausgeleuchteten Innenhof des ZDF- (nicht ZdS) Hauptstadtstudios gekommen, um der Preisverleihung beizuwohnen. Mitorganisatoren des Deutschen Bürgerpreises sind neben den Sparkassen auch der Deutsche Städtetag und engagierte Bundestagsabgeordnete. Unter den Gästen waren auch viele VertreterInnen der Zivilgesellschaft. Entsprechend vielfältig war das Publikum.
Der Innenhof des ZDF-Hauptstadtstudios
Der Bundespräsident mit Sister Mary Clarence, Erzäbtissin des House of Queer Sisters (Quelle: Projektbüro Deutscher Bürgerpreis )
Gruppenfoto, noch ohne Trophäe. Von links: Michael Vogel, Petra Kettler, Philipp Jarke (Quelle: Projektbüro Deutscher Bürgerpreis)
Unsere Bremer Delegation bestand aus Petra Kettler (Vertriebskoordinatorin), Philipp Jarke (Chefredakteur) und Michael Vogel (Initiator und Leiter). Zusammen mit den anderen Nominierten saßen wir direkt vor der Bühne und konnten das Geschehen aus nächster Nähe beobachten. Für jede nominierte Organisation wurde ein kurzer Einspieler gezeigt, der uns deutlich machte, wie sehr auch unsere Mitbewerber den Preis verdienten. Und nein, wir wussten nicht, wer am Ende das Rennen machen würde.
Groß war unsere Erleichterung und Freude, und hoch der Adrenalinspiegel, als wir als Gewinner auf die Bühne gebeten wurden. Die Präsidentin des Deutschen Städtetags, Eva Lohse, hielt die Laudatio, die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth fand wunderbare Worte für uns und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gehörte zu den ersten Gratulanten. Der Medienrummel ging bald in einen sehr schönen und entspannten „Feier-Abend“ über.
Frisch gekürte Gewinner (Quelle: Projektbüro Deutscher Bürgerpreis)
Von rechts: Petra Kettler, Philipp Jarke, Michael Vogel und ZDF-Moderator Mitri Sirin
Gespräch über die Zeitschrift der Straße vor 900 Gästen
Lobende Worte von ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth
Alle Nominierten des Deutschen Bürgerpreises 2017 mit dem Bundespräsidenten
#53 DOM: Früher war Horst Isola Landesvorsitzender der SPD, heute kämpft er für die Trennung von Staat und Kirche. Ein Gespräch über Lobbyismus, Auschwitz, die Sozialdemokratie und 20 Schläge
Haben Sie eine Mission, Herr Isola?
Mission wäre zu hoch gegriffen, aber ich habe politische Auffassungen und Grundsätze. Eine davon ist die Trennung von Kirche und Staat.
Geht es Ihnen nur ums Prinzip, oder was ist das Problem?
Religion ist Privatsache! Jede:r kann glauben, was er oder sie will. Das ist geschützt durch das Grundgesetz. Für mich ist es aber ein Prinzip der Demokratie, dass sich die Kirchen aus der Politik heraushalten. Wer sich auf ein nicht kontrollierbares höheres Wesen beruft, unterläuft die Demokratie. Was mich weiter stört, ist die Privilegierung der Kirchen mit Steuergeldern in Milliardenhöhe.
Was Sie also stört, ist die Bevorzugung der Kirche und nicht ihre Inhalte.
Ich bin Atheist. Was soll ich da zu den Inhalten der Kirche und deren Religion sagen, die gehen mich nichts an. Das Problem ist die fehlende Trennung zwischen Religion und Politik. Es gibt eine Reihe von Staaten, die den Laizismus verfassungsrechtlich festgeschrieben haben, etwa Frankreich. Nehmen wir das Thema Schule: mit Ausnahme von Bremen, Hamburg und Berlin ist in den Bundesländern der Religionsunterricht verpflichtend. Wer seine Kinder religiös erziehen will, kann das ja tun. Aber an öffentlichen Schulen hat Religion nichts zu suchen.
Aber kann man diesen Unterricht nicht so begreifen, dass man etwas über Religionen lernt?
Das ist auch unsere Forderung. Junge Menschen sollten wissen, was für Inhalte die Religionen haben, was sie tun und vor allem, was sie seit ihrem Bestehen angerichtet haben. Aber bitte keinen Verkündungsunterricht mit dem Ziel der Missionierung.
Aber in Deutschland hat man es doch geschafft, die politische Macht der Kirche zurückzudrängen.
Leider nicht. Trotz dramatisch rückläufiger Mitgliederzahlen ist der Einfluss der Kirchen in den letzten Jahren sogar gewachsen, sodass Kritiker:innen von einer Kirchenrepublik Deutschland sprechen. Warum? Die Kirchen tun so, als seien sie unverzichtbar im gesellschaftlichen und politischen Leben. Und sie haben überall ihre Lobbybüros, im Bund und in den Ländern, gefördert und unterstützt vom Staat und von fast allen Parteien.
Andere etwa nicht?
Natürlich machen auch die Gewerkschaften Interessenpolitik, aber sie sind keine Körperschaften des öffentlichen Rechts wie die Kirchen und erhalten auch keine finanziellen Zuwendungen in Milliardenhöhe vom Staat. Dagegen werden die Kirchen sogar beim Arbeitsrecht privilegiert: für ihre Mitarbeiter:innen gibt es beispielsweise kein Streikrecht und häufig nicht einmal Tarifverträge. Was ich noch viel schlimmer finde, ist das individuelle Arbeitsrecht. Die Kirchen dürfen ihre Mitarbeiter:innen diskriminieren, und das ist ihnen nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sogar noch erlaubt! Wenn etwa ein Arzt / eine Ärztin einer katholischen Klinik sich scheiden lässt und wieder heiratet, kann ihm / ihr gekündigt werden. Aber auch wenn er / sie eine homosexuelle Partnerschaft öffentlich macht oder sich positiv über Homosexualität, künstlicher Befruchtung oder Abtreibung äußert. Eine Diskriminierung, gebilligt und gewollt von unseren demokratischen Parteien!
Die vom Grundgesetz gedeckt ist.
Richtig, und die Rechtsprechung deckt diesen unglaublichen Zustand … Bis jetzt hat sich das Bundesverfassungsgericht immer auf die Seite der Kirchen geschlagen. Man muss sich das einmal vorstellen: da fliegen Reinigungskräfte bei kirchlichen Einrichtungen raus, wenn sie aus der Kirche austreten. Als ob es katholisches Operieren oder evangelisches Putzen gäbe! Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren bei einigen Gerichten ein Umdenken ab. In der Weimarer Verfassung steht, die Kirchen haben ein Selbstverwaltungsrecht. Die Kirchen sagen dagegen: Wir haben ein Selbstbestimmungsrecht und werden in dieser Auffassung vom Bundesverfassungsgericht unterstützt – gegen den Wortlaut des Grundgesetzes.
Was ist der Unterschied?
Nehmen wir den ADAC: Dieser Verein hat natürlich ein Selbstverwaltungsrecht, er kann also entscheiden, wie seine interne Verwaltungsabläufe zu regeln sind. Aber er hat kein Selbstbestimmungsrecht: Der ADAC kann also nicht sagen, dass für seine Mitglieder die Straßenverkehrsordnung nicht gilt. Für die Kirchen aber wurde das für alle anderen geltende Arbeitsrecht außer Kraft gesetzt. Das halten wir Laizisten für einen Skandal. Aber ich sehe gegenwärtig kaum eine Chance, das zu ändern.
„Ich kann nicht religiös sein, dagegen spricht mein gesunder Menschenverstand“, sagt Isola.
Was wird aus den kirchlichen Kindergärten in Bremen, wenn die Kirchen ihre Privilegien verlieren?
Dann müssen sie zu den gleichen Bedingungen arbeiten wie beispielsweise die Arbeiter:innenwohlfahrt.
Die gerade in Bremen besonders SPD-nah ist.
Es gibt ja auch noch die staatlichen Kindertagesstätten.
In letzter Zeit war die staatliche Kita-Organisation in Bremen eher überfordert.
Na ja, jammern nach mehr Geld tun die Kirchen auch. Ich sage ja nicht, dass die Kirchen völlig raus sollen aus dem Geschäft. Aber es ärgert mich, dass sie sich öffentlich hinstellen und sagen, wir tun nur Gutes, während der Sozialstaat zu mehr als 90 Prozent für die Unkosten aufkommt. Im übrigen sind Kindergärten ein schönes Missionierungsfeld für die Kirchen.
Die Bremer Verfassung ist bei der Trennung von Staat und Kirche ja sehr fortschrittlich. Woran scheitert es in der Praxis?
„Die Kirchen und Religionsgesellschaften sind vom Staate getrennt“, steht in Artikel 59 der Landesverfassung. Entgegen diesem eindeutigen Wortlaut haben wir in Bremen kurioserweise einen Kirchensenator.
Der gleichzeitig Bürgermeister ist.
Ja, das gibt es in keinem anderen Bundesland, nicht mal in Bayern. Wir haben doch auch keine:n Werdersenator:in.
Was liegt ihrer Partei, der seit 1945 regierenden SPD, an so viel Kirchennähe?
Die Bremer SPD ist in der Tat besonders kirchenfreundlich. Kirchenmitglieder sind Wähler:innen, ein großer Teil der SPD-Mitglieder ist in der Kirche aktiv. Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden, obwohl es den Absturz der SPD in der Wähler:innengunst auch nicht verhindert hat. Aber muss es sein, dass mittlerweile fünf Religionsvertreter:innen im Rundfunkrat sitzen? Immerhin hat neuerdings auch ein Vertreter des humanistischen Verbandes einen Sitz dort.
Der wiederum ist die einzig nennenswerte Lobby der Nicht-Gläubigen. Aber haben diese Menschen überhaupt ein gemeinsames Interesse?
Das Problem ist, dass Nichtkonfessionelle überwiegend desinteressiert sind, sich einzubringen und zu organisieren. Es gibt keine Bereitschaft, sich zu binden.
Woran liegt das?
Für die Bürger:innen ist die Frage von Politik und Kirche allenfalls sporadisch ein Thema. Andere Themen gehen vor: Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Bildung und so weiter.
Man hat das Gefühl, dass die Laizist:innen in der SPD nur geduldet sind, weil Sie eine prominente Figur in der Partei sind.
Nach dem Motto: Lass ihm doch die Spielwiese? Vielleicht. Leider begegnen wir in der Partei, vor allem im Landesvorstand, erheblichen Vorbehalten bis zur schroffen Ablehnung.
Ist die wachsende Religiosität nicht Folge einer Verzweiflung an der Komplexität der globalisierten Welt?
Das würde sie erklären. Aber damit wird es ja nicht richtiger. Die Stärke der Leute, die immer mehr darauf drängen, dass Religion in die Politik kommt , um damit von den eigentlichen Problemen und deren Ursachen abzulenken, ist gleichzeitig die Schwäche von Leuten, die für mehr Aufklärung stehen. Aufklärung ist ja heute schon fast ein Schimpfwort.
Die Menschen verbinden vielleicht damit nicht Werte wie Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit, die die Kirche für sich reklamiert.
Dieser Trick läuft seit 2000 Jahren. Ich finde es anmaßend zu behaupten, dass nicht-religiöse Menschen keine Empathie haben.
Die Kirchen würden das auch nicht bezweifeln.
Das mag in Ausnahmefällen so sein. In der Regel aber reklamieren die Kirchen für sich die Monopolstellung in Sachen Nächsten- und Friedensliebe. Die Realität sieht oftmals anders aus, wenn man beispielsweise die empörende Rolle der katholischen Kirche im früheren faschistischen Franco-Spanien oder – aktuell – in Kolumbien betrachtet, wo sich hohe Kirchenvertreter nicht genieren, öffentlich zum Mord an Liberalen und Linken aufzurufen.
Angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen: Erledigt sich der Einfluss der Kirche nicht auf die Dauer von allein?
Da können wir noch lange warten! Wir erleben gegenwärtig das Paradoxon, dass trotz dramatisch abnehmender Mitgliederzahlen die Religionsgemeinschaften noch mehr an politischen Einfluss gewinnen.
Wenn die Kirchen sich zurückzögen, wäre das Feld frei für Wirtschaftsverbände, zu denen die Kirchen ein Gegengewicht bilden. Wenn die Kirche keinen Lobbyismus mehr macht, haben andere noch mehr Raum, sich auszubreiten.
Das sehe ich nicht so. Es sind die Gewerkschaften, die ein politisches Gegengewicht zu den Wirtschaftsverbänden bilden und nicht die Kirchen.
Woher kommt Ihr laizistisches Engagement überhaupt?
Ich fand Religionsgeschichte schon immer spannend. Ich habe mich schon als Schüler viel mit der Bibel beschäftigt, vor allem mit dem Alten Testament. Ich war verblüfft, wie ein sogenanntes Heiliges Buch nur so von Geschichten über Mord und Totschlag wimmeln kann. In der vierten Klasse habe ich mal gesagt: Es gibt keinen lieben Gott. Dafür bekam ich 20 Schläge mit dem Lineal. Zu Hause sagte mein Vater dann: Das hast du richtig gemacht. Ich stamme aus einem katholischen Haushalt, aber meine Eltern waren schon aus der Kirche ausgetreten. 2010 habe ich dann den Gesprächskreis Laizist:innen in der SPD mitbegründet.
In einem Interview haben Sie mal gesagt: Wie kann man nach Auschwitz noch an einen gerechten und gütigen Gott glauben. Sind Sie deshalb Atheist?
Ich kann nicht religiös sein, dagegen spricht mein gesunder Menschenverstand. Kant hat gesagt „Sapere aude“ – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Diesen Wahlspruch der Aufklärung habe ich mir zeitlebens zur Lebensmaxime gemacht. Hinzu kommt, dass die Geschichte des Christentums eine einzige Kriminalgeschichte ist, in der die Religionen und deren Vertreter sich immer wieder als Brandstifter und Brandbeschleuniger betätigt haben. Und wenn ich an die tausendfachen Sexualverbrechen von Priestern in der jüngsten Zeit, begangen an Kindern, denke, das Sterben von Millionen von Kindern in Afrika und Asien, das Elend der Flüchtlinge, da frage ich mich, wie man da noch an einen allwissenden, allmächtigen und vor allem barmherzigen Gott glauben kann.
Horst Isola, 78, war in den siebziger Jahren Leiter einer Jugendstrafanstalt, später Senatsrat in Bremen und für die SPD von 1987 bis 2003 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. 1991/92 war er zudem Landesvorsitzender der Partei. Seit 2010 ist als Sprecher für die Gruppe der Laizist:innen in der SPD aktiv.