Jahr: 2018

#60 SCHLOSSPARK

EDITORIAL: Frau Oetgen und Herr Jaß Wir sind stolz. Und etwas traurig! Denn wir erinnern uns an viele wunderbare Texte von Jördis Früchtenicht, Eva Przybyla und Björn Struß. Aber irgendwann ist so ein Studium eben zu Ende. Und die Zeitschrift der Straße ist ein Lernprojekt, da muss man seine Leute eben ziehen lassen. Also freuen wir uns sehr, dass sie nun Karriere machen und sich in der großen Konkurrenz um ein Volontariat beim Weser-Kurier beziehungsweise den Kieler Nachrichten durchgesetzt haben. Wir hätten sie auch eingestellt! Wir gewöhnen uns bereits an die Zeit danach: In diesem Heft sind sie nicht dabei, alle drei nicht. Dafür waren wir mit anderen hoffnungsvollen AutorInnen in Sebaldsbrück unterwegs, rund um den Schlosspark. Wir haben gleich zwei leer stehende Schulen besucht (Seite 24) und eine der ältesten Bewohnerinnen des Stadtteils: Die heute 93-jährige Frau Oetgen kam einst als junge Braut hierher, in eine Genossenschaftssiedlung (Seite 8). Wir waren in einer Villa für besondere Menschen (Seite 12), in einem Hundesalon (Seite 16) und bei Leuten, die Angst haben, dass bei ihnen eingebrochen …

SEELISCH ERSCHÜTTERT

#60 SCHLOSSPARK – Wie die Villa Wisch Menschen mit psychischen Erkrankungen Struktur, neue Chancen und viel Selbstbewusstsein gibt: ein Hausbesuch   „Natürlich“, sagt Stephan Jürgens, „kann man auch ohne ärztliches Attest in die Villa Wisch kommen.“ Das Anwesen liegt ein paar Meter hinter den anderen Hausfassaden in der Sebaldsbrücker Heerstraße, mit einem kleinen Garten und hohen Bäumen vor dem Haus und einer schweren hölzernen Eingangstür. Von außen deutet nur das Schild darauf hin, dass hier eine Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist. Jürgens ist ihr Leiter. „Es ist ein Begegnungsort“, sagt er. 60 bis 70 BesucherInnen kommen und gehen jeden Tag. Es gibt eine Küche, ein großes Esszimmer für alle, ein Café, in dem Zeitungen ausliegen oder Bilder ausgestellt werden, und ein Arbeitszimmer mit Computern. Im ersten Stock sind der Büroservice und eine Textilwerkstatt angesiedelt – hier arbeiten nicht nur die Festangestellten, sondern auch allerlei Injobber; auch im Garten gibt es verschiedene Arbeitsplätze zu vergeben, oder Hausmeistertätigkeiten. „Der Grundgedanke ist, dem Tag eine Struktur zu geben“, sagt Stephan Jürgens. Menschen, die dauerhaft psychisch erkrankt …

#59 LINDENHOF

EDITORIAL: Von Bärten und Büchern Nein, sagt die Studentin, in Walle sei sie noch nie gewesen. Dabei komme sie ja aus Bremen! Aber was ist dann erst mit Gröpelingen? Das ist ja noch viel weiter draußen, schon fast Bremen-Nord, und kurz vor diesem Bremerhaven. Für viele BremerInnen ist das eben immer noch sehr weit weg, in jeder Hinsicht. Und anderswo ist der Stadtteil noch als das bekannt, was man früher einen „sozialen Brennpunkt“ nannte. Weil das aber zu sehr nach Drogen und Gewalt klingt, heißt das heutzutage „Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Um jener Welt einmal näherzukommen, waren wir jetzt also in der Lindenhofstraße, da, von wo aus man früher zu „Use Akschen“ ging. Dort fanden wir eine innovative Bibliothek, die immer weniger mit Büchern zu tun hat und gerade darum so gut ist (Seite 8). Wir haben uns den Bart stutzen lassen, um bei der Gelegenheit mit den Menschen ins Gespräch zu kommen (Seite 20), und einen alten Stuhl in die Recycling-Börse gebracht, um die Wegwerfgesellschaft mal aus einer anderen Warte zu betrachten (Seite 12). …

IN DEN HÄNDEN DES APO

#59 LINDENHOF – Ein Besuch beim Frisör Abdullah Bozkir, der einst auf der Suche nach einem besseren Leben nach Gröpelingen kam   Ich spüre die Klinge an meinem Kehlkopf. Sie schabt Rasierschaum und Bartstoppeln von meiner Haut, wandert Strich für Strich den Hals entlang. Ich möchte etwas sagen. Traue mich aber nicht. Bloß keine falsche Bewegung riskieren. Mein Kopf liegt im Nacken. Statt in den Spiegel blicke ich an die Decke. Angestrengt bewegen sich meine Augen abwärts, um doch mein Spiegelbild zu sehen, um doch irgendwie die Arbeit an meiner Pulsader zu beaufsichtigen. Doch ohne Brille ist das zwecklos. „Keine Sorge, ich pass’ auf“, sagt der Mann, der die Klinge führt. Es gelingt ihm, mir einen Teil meiner Anspannung zu nehmen. Seine Handbewegungen sind schnell, sicher, routiniert. Unzählig viele Männer haben sich schon Apos Klinge anvertraut. Der 44-Jährige arbeitet seit 30 Jahren als Friseur, seinen Herrensalon „Apo’s Haircut“ an der Lindenhofstraße eröffnete er vor neun Jahren. Hier, zwischen Moschee und Gemüsehändler, treffen sich Männer jeden Alters. Von millimeterlanger Stoppeloptik bis hin zum voluminösen Vollbart ist …

#58 FEDELHÖREN

EDITORIAL: Zwei Teile, eine Straße Was die Weser für Bremen, ist der Rembertiring für den Fedelhören: Er teilt die unaufdringlich schöne Straße in zwei Hälften – wir haben sie beide besucht. In der südwestlichen geht es recht mondän zu, hier findet man einen Hotspot des Antiquitäten- und Kunsthandels. Unser Autor Björn Struß hat bei der Gelegenheit probiert, etwas Geld zu verdienen (Seite 8). „Klaviere Backhaus“ hatten wir einen letzten Besuch abgestattet, bevor das Traditionshaus nach fast vier Jahrzehnten dicht gemacht hat (Seite 14). Im nordöstlichen Teil des Fedelhören, wo es ruhiger zugeht, kommen auch Menschen mit ganz wenig Geld auf ihre Kosten: in der Teestube Hoppenbank (Seite 26). Wer will, kann sich aber auch mit Leib und Seele nach Italien entführen lassen (Seite 12). Und dann möchten wir noch kurz Werbung in eigener Sache machen: Seit vier Wochen läuft das Sommersemester der Uni der Straße. Das Schwerpunktthema ist dieses Mal Wasser, mit Vorträgen zu Trinkwasser und Küstenschutz sowie einer Exkursion zum Weserkraftwerk. Das gesamte Programm finden Sie im Netz unter http://uni-der-strasse.de/programm. Einige werden es bemerkt …

VIEL MEHR ALS NUR TEE

#58 FEDELHÖREN – In einer neuen Serie stellen wir Einrichtungen vor, die unser sozialer Stadtrundgang „Perspektivwechsel“ besucht. Heute: das Haus Fedelhören.   Unscheinbar wirkt der Eingang der Teestube, zwischen all den großen, stattlichen Häusern im Fedelhören, grau und niedrig. Es ist ein Ort, an dem eilige PassantInnen schnell vorbeihasten. Aber die gehören ja auch nicht zum typischen Klientel der Teestube. Gegründet wurde sie einst für ehemalige Strafgefangene – auch als tagesstrukturierende Maßnahme –, inzwischen kommen aber auch Hartz-IV-EmpfängerInnen und RentnerInnen, die wenig Geld haben. Sie kommen zum Essen, zum Reden, zum Schachspielen oder um die Lokalzeitung zu lesen. Seit einiger Zeit dürfen allerdings nur noch nachweislich bedürftige Personen hier essen: „Wir beschäftigen auch Ein-Euro-Jobber, und die dürfen nur für Bedürftige arbeiten“, sagt Hermann Smidt, der Leiter der Teestube. „Das hat auch was mit Wettbewerbsverzerrung zu tun, weil wir das Essen ja viel billiger herstellen können.“ Gleich nebenan ist „Das schwarze Schaf“, ein kleines Restaurant mit mediterraner Küche. „Das wir dem Konkurrenz machen, glaube ich aber nicht“, sagt Smidt, und lächelt. Ein Mittagessen in der Teestube …

#57 SCHWEIZER VIERTEL

EDITORIAL: BESSER ALS IHR RUF Was haben sich die Planer wohl dabei gedacht, als sie dem damaligen Neubauviertel im Bremer Osten so viele Schweizer Straßennamen verpassten? 25 sind es, wenn wir uns nicht verzählt haben. Aber warum nur? Die Gegend ist flach wie sonst auch in der Norddeutschen Tiefeebene, und statt des Rufs der Berge vernimmt man das Rauschen der Autobahn. Was den Wohlstand angeht, ist das Quartier auch eher eine Anti-Schweiz: Jeder vierte Einwohner bezieht Hartz IV, von den Kindern sogar jedes zweite. Das Schweizer Viertel galt lang als sozialer Brennpunkt, nicht umsonst hat es von der Stadt einen Quartiersmanager an die Seite gestellt bekommen. Seither sind nicht alle Probleme verschwunden, aber wir haben bei unseren Recherchen viele Menschen kennengelernt, die für ihr Viertel brennen und es voranbringen wollen. Die Lehrerinnen und Lehrer an der Albert-Einstein-Oberschule beispielsweise, die es schaffen, ihren Jugendlichen die Prinzipien der Demokratie zu vermitteln, obwohl manche kaum auf liniertem Papier schreiben können (Seite 20). Oder Christa Brämsmann, die in Tenever ein Mütterzentrum aufgebaut hat, das Frauen fördert und mittlerweile 75 …

SANDRA UND ANGELA

#57 SCHWEIZER VIERTEL – Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen und wurden Freundinnen. Derzeit verkaufen sie gemeinsam die Zeitschrift der Straße   Angela und Sandra sind auch heute zusammen auf dem Weg zum Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße. Ein guter Tag, die Sonne scheint, die Menschen sind gut drauf. Die beiden Freundinnen auch, sie lachen, als sie zur Tür hereinkommen. Von Montag bis Freitag, immer zwischen zehn und halb elf, kaufen Angela und Sandra ihre Zeitschriften. Sie begrüßen mich, holen mich ab. Sandra kauft morgens gerne sechs oder sieben Zeitschriften und nachmittags nochmal ein oder zwei. Angela ist mit ein oder zwei Zeitschriften unterwegs und kauft neue, sobald ihre verkauft sind. Zusammen geht’s nach draußen. Heute früh waren sie schon zwei Stunden unterwegs und haben verkauft. Angela und Sandra haben keinen festen Platz, sie bewegen sich gern und halten sich meist in der Nähe des Hauptbahnhofes auf, ab und zu geht es in die Innenstadt. Sie sind bei jedem Wetter draußen. An diesem kalten Februartag tragen sie je zwei Hosen und drei Pullover. Angela …

#56 GÜTERBAHNHOF

EDITORIAL: VON BAHNEN UND BURGEN Wenn Sie schon einmal mit dem Zug nach Bremen gefahren sind, sagen wir, aus Oldenburg, haben Sie sie bestimmt auch schon mal gesehen. Die Obdachlosen, die am alten Bahnsteig des Güterbahnhofs wohnen. Und sich gefragt, wer diese Menschen wohl sind und warum sie ausgerechnet hier wohnen. Wir haben sie besucht und ein paar von ihnen näher kennengelernt, vor allem Wolle, der Ihnen schon auf dem Titelbild begegnet ist. Alles Weitere lesen Sie dann ab Seite 8. Früher wäre einer wie Wolle noch nebenan im Papageienhaus untergekommen, aber das steht ja jetzt auch schon gut zwei Jahre leer – seit man, nicht zu Unrecht, von der zentralen Unterbringung von suchtkranken und wohnungslosen Menschen abgekommen ist. Was aus dem Haus jetzt wird? Rote und Grüne haben da verschiedene, widerstreitende Ideen (Seite 24). Eine von ihnen hat mit KünstlerInnen zu tun, naheliegenderweise, denn davon gibt es hier am Güterbahnhof ja eine ganze Menge. Meistens arbeiten sie hier im Verborgenen, in ihren Ateliers, aber ein paar von ihnen durften wir dort besuchen (Seite 14). …

WOLLE, BABY UND OPA

#56 GÜTERBAHNHOF: Wer das Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof besucht, trifft dort auf viele Geschichten. Nicht jeder hier nimmt Hilfe in Anspruch   Wenn „Baby“ vom Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof spricht, wird er sentimental. „Es ist eine Gemeinschaft“ sagt er. „Am Tag passt immer jemand auf deine Sachen auf.“ Und alle achten sie auf die Arzt- und Ämtertermine der anderen, sagt Baby. Er hat den seinen heute trotzdem verpasst. Stattdessen sitzt er jetzt, wie immer morgens um zehn, mit einem Kaffee bei den Streetworkern der Inneren Mission, vor dem Hauptbahnhof. Es ist beißend kalt. Baby, – mittlerweile Anfang 40 – kleckert wieder und wieder auf seine schwarze Hose, ärgert sich, um im nächsten Moment wieder neckisch zu grinsen. Und einen seiner Freunde aufzuziehen. Zwei Jahre lebte Baby am Güterbahnhof, zwei Mal fiel er ins Koma. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. Er braucht eine Hüft-Operation, doch wegen einer starken Entzündung im Körper wollen ihn die Ärzte nicht operieren. „Sie haben gesagt, er soll sich auskurieren und haben ihn einfach wieder auf Straße gesetzt“, erzählt der …